Österreichs Regionen wehren sich gegen Krankenkassenzerschlagung

Wiener Regierung kuscht vor EU-Kommission

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Anfang 2018 hat die EU-Kommission in ihrem Strategiepapier für den weiteren Sozialabbau in der EU, dem so genannten Länderbericht, auch Österreich Vorgaben für den Umbau des Sozialstaats in ein Geschäftsmodell gemacht. Vorauseilend und in diesem Falle auf Merkel-Linie hat die neue Wiener Kurz-Regierung noch 2017 eine einschneidende Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung angekündigt. Allerdings hatte der SPÖ-Sozialminister Alois Stöger der Vorregierung diese Untat schon fleißig vorbereitet (Österreich als sozialpolitischer Prügelknabe der Merkel-EU).

Bei dieser Reform sollen die beispielhaften 9 autonomen regionalen Gebietskrankenkassen in eine zentrale, staatsgelenkte "Österreichische Gesundheitskasse" umgewandelt werden. Nicht nur, dass diese Namensgebung an die 1992 maßgeblich vom damaligen deutschen Gesundheitsminister Seehofer und der deutschen Bundestags-Sozialdemokratie betriebene Zerschlagung Hunderter von autonomen regionalen Ortskrankenkassen in Deutschland erinnert: Die daraus entstandenen wenigen Kassenkonzerne arbeiten heute unter dem verlogenen Label "Gesundheitskasse AOK". Auch die für Österreich vorgesehene "Reform" soll ebenso wie diejenige in Deutschland dem Staat und der Wirtschaft wesentlich mehr Zugriff auf die Gesetzliche Krankenversicherung, einen Lohnfonds der Beschäftigten, ermöglichen, als dies zuvor möglich war.

Volksvermögen Krankenversicherung

Im Unterschied zu den deutschen Krankenversicherten, die in den entscheidenden 1980er Jahren gar nicht bemerkt hatten, dass die angestrebte Zentralisierung der Regionalkassen AOK, BKK und IKK eine Enteignung von Volksvermögen eingeleitet hatte, haben die österreichischen Krankenversicherten das sehr wohl auf dem Display: "Fusion = Enteignung" wurde laut Tageszeitung "Kurier" bei den Demonstrationen gegen die Regierungspläne plakatiert.

In Deutschland wäre es statt der System stabilisierenden Schaukämpfe der "Linken" gegen die "Rechte" dringend nötig, den Leuten klar zu machen, dass sie ganz alleine aus der Lohnquote den so genannten Sozialstaat bezahlen. Ihnen, und nicht der Politik, den Konzernen oder den Eliten, gehört dieser ganze Laden. Die sich gerne als "Weltmeister" missverstehenden Deutschen können hier von Österreich, und auch von der neuen Regierung in Italien und ihrer Sozialpolitik gegen Merkel und die EU ziemlich viel lernen.

Regionalfaktor Gebietskrankenkassen

Noch in anderer Hinsicht ist der Widerstand gegen die beabsichtigte Zerschlagung der Gebietskrankenkassen in Österreich für Deutschland beispielgebend. Die Selbstverwaltungen und Verwaltungen der österreichischen Gebietskrankenkassen haben schon wenige Monate nach Bekanntwerden der Zentralisierungspläne der Wiener Koalition den in Deutschland meist gar nicht erkannten raumwirtschaftlichen Nutzeffekt der Gebietskrankenkassen herausgestellt: Einheitliche autonome Gebietskrankenkassen sorgen dafür, dass die Beitragabschöpfungen aus dem Bruttolohnvolumen der abhängig Beschäftigten nicht wie bei den konkurrierenden staatsgelenkten Zentralkassen in Deutschland aus den Peripherien in die Metropolen abfließen. Gesamt- und raumwirtschaftlich tragen damit die Gebietskrankenkassen mit ihrem enormen Volumen zu einem Gleichgewicht zwischen den Wirtschaftsregionen Österreichs bei.

Die 9 Gebietskrankenkassen Österreichs. Quelle: SGKK. Grafik: TP

Sowohl die Oberösterreichische Gebietskrankenkasse (OÖGKK) wie auch die Salzburger Gebietskrankenkasse (SGKK) haben kurz nach Bekanntwerden der Wiener Regierungspläne erste Modellrechnungen dazu veröffentlicht, welche erheblichen Beträge durch eine Zentralisierung der Krankenversicherung aus beiden Bundesländern abfließen würden.

An dieser Stelle können die österreichischen Nachbarn dann von den schlechten Erfahrungen, die Deutschland mit der Kassenzentralisierung gemacht hat, lernen. Die vom damaligen Bundesgesundheitsminister Seehofer und der Sozialdemokratie im Bundestag durchgedrückte Ökonomisierung und Zentralisierung der autonomen und regionalen Krankenkassen hat reichlich ein Jahrzehnt später zur Etablierung eines so genannten zentralen "Gesundheitsfonds" geführt.

Schon vor der Kassenzentralisierung hatte es in Westdeutschland und später in Gesamtdeutschland ein unsolidarisches Neben- und Gegeneinander der privilegierten zentralen Angestellten-Krankenkassen und der unterprivilegierten regionalen Arbeiter-Krankenkassen gegeben. Durch die Kassenreform wurden auch die Arbeiter-Krankenkassen zentralisiert. Nun sollten Kassen-Konzerne auf beiden Seiten Konkurrenz gegeneinander und dabei Leistungsabbau gegen die Versicherten machen - Kommerzialisierung und Austerity schön geredet als "Wettbewerb".

Selbstverständlich wurden durch diese Pseudolösung die weiter bestehenden Probleme nicht beseitigt, sondern nur kompliziert. Die unterschiedliche Einkommens- und Gesundheitslage von Angestellten und von Arbeitern und die unterschiedliche Finanzlage der Angestellten-Kassen und der Arbeiter-Kassen konnten durch Wettbewerb eben nicht behoben werden. Auch ein so genannter "Risikostrukturausgleich" versagte. Es war dann der zentrale Gesundheitsfonds, mit dem dieses Durcheinander geglättet werden sollte. Tatsächlich hat dieser Gesundheitsfonds dann aber vor allem die Finanzkraftunterschiede zwischen den Regionen verschärft.1

Sollte die Wiener Regierung die Zentralisierung der Gebietskrankenkassen tatsächlich durchsetzen, muss Österreich ebenfalls damit rechnen, dass dieser Scheinreform weitere Scheinreformen folgen werden. Die österreichischen Zentralisierungsgegner sollten sich jedenfalls schon einmal vorsorglich bei den Kritikern des deutschen Gesundheitsfonds kundig machen, was hier auf sie zukommen könnte.2

Dass hier ein reales Risiko besteht, hat auch der Österreichische Rechnungshof in seiner ziemlich vernichtenden Kritik am Zentralisierungskonzept aus Wien deutlich gemacht: Das Konzept deute zwar an, dass regionale Besonderheiten bei der zukünftigen Verteilung der Krankenkasseneinnahmen berücksichtigt werden sollten. Allerdings scheine "die Mittelverwendung innerhalb der ÖGK nach regionalen Kriterien unklar". 3