Oh Happy Day

Bild: F.R.

Besteht die 68-er Generation die Nagelprobe beim wirklich letzten Tabubruch?

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Wie kaum eine andere Generation in der jüngeren Menschheitsgeschichte haben es die 68er geschafft, Politik, Privates, Hobbies und alles was sonst noch zum richtigen Leben dazugehört, als durchgängigen "Summer of Love" zu inszenieren. Doch unerbittlich und humorlos meldet sich die biologische Realität.

Die Reihen der Frankfurter Schule zum Beispiel sind fast gänzlich gelichtet und mit den mittlerweile regelmäßigen Abschieden von all den gewohnten und als unsterblich empfundenen Mitmenschen, wie im Falle etwa Harry Rowohlt - Zitat: "Wenn man als junger Mensch so aussieht wie ein Hippie und sich einigermaßen selbst treu geblieben ist, sieht man als alter Sack aus wie ein Penner und nicht wie Joschka Fischer" - nehmen wir zur Kenntnis, dass demnächst nun auch die letzten echt-authentischen Galionsfiguren des großen Aufstands von uns gehen werden.

Längst haben sich die Nachrufspezialisten in den Redaktionsstuben grundlegende Bausteine zurechtgelegt: Ringo und Paul, Mick und Bob, Joschka und Otto, Gerd und Gerti oder wie sie halt nun mal heißen. Lediglich bei dem Double von Keith Richards zögern die Lebensleistungswürdiger noch; immerhin hat der, laut Bunte, "Freund des Teufels" kristalline Peru-Flakes mit der Urnenasche seines Vaters zu einem spirituellen Speedball vermischt.

Uns nachgeborenen Zaungästen stellt sich die eher triviale Frage, wie es die Rebellen und Träumer mit dem Tod, dem Sterben und allem, was sonst noch dazugehört halten werden. Lassen sie sich einfach brav zu Grabe tragen, weil sie es aus Feig- oder Faulheit versäumt haben, echte Event&Knalleffekte zu verordnen? Oder bringen sie doch den Mut zum großen Coup auf? Besitzen sie genügend Selbstironie und Humor, um den Abgang so lässig und selbstbestimmt anzugehen, wie sie das Leben gestalteten? Oder bleiben sie der gelebten Verachtung von Kirche, Staat und Spießerkonventionen treu? Oder sind sie ganz normale Weicheier?

"Sozialismus? Sozialfall, so sieht es aus, mein Herr"

Fragen und Gedanken dieser Art führten mich unter dieser surrealen und vom Fön umjubelte Oktobersonne in das so unscheinbare wie schummrige Schwabinger Trauer-Institut am Ende der Münchener Schellingstraße, das ich seit Dekaden stets ignoriert hatte. Es roch dort nach frischen Lilien, drei Sargmodelle lehnten an der Wand, auf dem schwarzen Schreibtisch standen blecherne Muster-Urnen, daneben Trauerbriefentwürfe, eine pechschwarz lackierte Pferdekutsche im Maßstab 1: 150 sowie ein noch unberührter Ordner zum Thema der digitalen Nachlasslogistik. Diverse Stiftung-Warentest-Urkunden hingen an der Wand und lobten die herausragenden Verdienste der Filiale auf dem Sektor der Humankörperentfernung.

Das nagelneue Schwarzweiß-Portrait von Markus Söder konnte das deprimierende Ambiente kaum verjagen, auch weil man den forschen Franken nicht zwingend mit dem Summer of Love in Verbindung bringt. Da ändert auch Dobrinths imaginiertes Manifest der konservativen Revolution nichts daran. .

"Sie wünschen?", fragte der verschwitzte und in etwa gleichaltrige Mann ins Nichts hinein und widmete sich wieder seinem Telefonat. Die Satzfetzen dokumentierten ein hohes Maß an routinierter Pietät: "Wissen Sie, der Tod kommt meistens völlig unpassend ... ich weiß, wovon ich rede ... aber bei uns liegen Sie zu 100 % richtig, beziehungsweise ihr Gatte." Danach ging es noch um jede Menge Beileid und ein All-Inklusive-Päkitsch, welches bis Mitte November 2018 gelte, womit der ehemalige Gatte wenigstens auf diesem Gebiet pekunäres Glück hatte.

Nun war ich endlich an der Reihe und sah in ein feistes Gesicht, in dem eine mühsam gedämpfte Vorfreude auf einen lukrativen Abschluss wohnte. Im geröteten Fleisch ruhten Augen, die mich an ein Paar Hirschlederknöpfe erinnerten. "Ich versuche mich kurz zu fassen", sagte ich. "Schauen Sie, ich vermute, dass Sie jetzt nach und nach immer mehr mit den 68ern zu tun haben, als quasi Ihre zentrale Klientel." Er kniff mittelklug seine Hirschaugen zu und ich fuhr fort. "Na ja, also die Leute mit Straßenkampf, Easy Rider, Kommune I, Stones, Teufel, Dutschke, Gammler, Haschrebellen, Schleyer&Stamm-heim, auch die frühen Grünen, Ströbele, die Ton- und Scherbenclaudy und so."

Nach jedem Wort quietschte sein Adamsapfel und er schaute mich an wie ein narkotisierter Tanzbär. Mit einem matten Pfeifen schob er seinen Stuhl sowie seine Begräbnismütze nach hinten. Dazu zuckte der Schnauzer. Dem folgte Schweigen. Ich holte erneut aus: " Also, ja, so der Jahrgang 40 plus. Da müssten doch allmählich die ersten an der Reihe sein. Und was mich ausschließlich dabei interessiert, ist die Frage, ob die ihr Begräbnis so feiern, wie die gelebt haben? Spielen da Rockbands? Wird getanzt? Gekifft? Bemalen Kinder da die Särge? Gibt's da witzige Grabsteinentwürfe? Hauen die noch einmal ordentlich auf die Pauke? Oder sogar ein letztes Love-In, Yoko und John, Amsterdam, Hilton, wenn Sie verstehen, was ich meine."

Leicht resigniert klappte er das Auftragsbuch zu, legte die spatenförmigen Hände aufeinander und holte jetzt tief Luft, so wie man es von dodekanischen Schwammtauchern kennt, falls man mal welche gesehen hat:

"Achtundsechziger? Hotschiming? Tscheguara! Mit 20 Jahren bist du leicht ein Atheist. Happening? Sie fragen mich nach Happening. Nix da mit Happening. Ohne Moos nix los. Happening, das kostet. Flower-Power? Plastikblumen verlangen die und Teelichter statt gescheiten Kerzen. Haha. Unter uns - die meisten haben doch kein Pulver am Ende. Internationale? Von wegen. Da betteln sie um ein Ave-Maria, vom US-Dingsda-Stick und am besten noch von der Stadt finanziert. Ganz klein, unsere Hascher, so klein, mit Leihzylinder. Sozialismus? Sozialfall, so sieht es aus, mein Herr. Grabstein? Da müssen die paar Kumpels ihre Hartz IV-Kröten zusammenlegen für ein Holzkreuz. Am liebsten würden die doch ihre Peace-Box eigenhändig zusammennageln. Oder sich am besten gleich selber entsorgen zum Öko-Granulat, so die Abteilung duale Mülltrennung, ja spinnst du! Mit 20 bist du leicht ein Atheist. Aber kaum wird es einmal Ernst im Leben dann schreien sie nach einem Aldipfaffen. Glauben Sie mir, ich kenne meine Pappenheimer."

Wenig später studierte ich in einer Bar, die vor dem Erbleichen des Inhabers "Last Supper" hieß, die Todesanzeigen in der Süddeutschen Zeitung und stieß auf Juwelen der bürgerlichen Trauerprosa: "38 Jahre erfolgreiche Tätigkeit verbanden Dr. Karl Meier mit unserem Unternehmen. Während dieser langen Zeit hat er sich in verantwortungsvollen Funktionen, insbesondere bei schwierigen verfahrenstechnischen Entwicklungen bleibende Verdienste erworben."

So also werden fleißige Menschen bei uns noch ein letztes Mal in oder eher auf den Arm genommen. Aber auch unsere Friedhöfe an sich tragen ja eher dazu bei, den Tod lieber für erste zu verdrängen oder gar konsequent aufzuschieben. Halb Schrebergarten, halb preußische Soldatenwüste tragen diese tristen Ruheparks dazu bei, sich mit besinnungsloser Idiotie dem Diesseits hinzugeben.

Und wer schon ein paar unserer typischen Bestattungs-Events erlebt hat, sehnt sich insgeheim danach, während eines Palermo-Urlaubs in einen Brückenpfeiler einbetoniert zu werden. Auch noch tragbar erscheint die Option, bei einem Grateful-Dead-Konzert - die noch Lebenden planen ja derzeit eine 2018/19- Welttournee - eine Überdosis dieser legendären acidhaltigen Erdbeerbowle zu erwischen und sich zu den Klängen von "Not fade away" in einen Regenbogen zu verwandeln - womit wir jetzt wieder beim Thema wären.

Hat diese Generation nicht unverschämt viel Glück gehabt? Zellulitefrei Hüften statt vernarbter Schützengräben, kirschleuchtende Rothschild-Weine statt Blutvergießen, Ekstasen und Elexiere statt Endlösung, Wellnessreisen ins mittige Ich statt Danteschem Höllengeschmore. Und in all die Süße des Daseins drängen sich noch jede Menge Botox&Anti-Aging-Gurus und Forever-Young-Chirurgen auf. Für einen typischen VIP-68er kommt als statistisch wahrscheinliche Todesart nur noch in Frage beim Golfen auf den Bahamas eine Kokosnuss auf den Kopf zu bekommen. Oder einen Golfball. Oder beides.

Die testamentarische Playlist, das Köchel-Verzeichnis der eigenen Biographie

Ich ließ mir also nochmals die Ausführungen des Trauerspezialisten durch den Kopf gehen. Offenbar waren seine bisherigen Kunden aus dem Bereich "links von der Mitte" nicht in der Lage oder nicht gewillt, seine unverschämten Rechnungen zu bezahlen. Das ist ja auch logisch, denn Menschen, die notorisch aufmuckten, sich dem Mainstream verweigerten und früher lieber streikten, statt Kapital akkumulierten, werden in Deutschland selten mit Ruhm, Erfolg und Reichtum überschüttet.

Und was bitte ist eine formidable Rebellenkarriere wert, wenn sie am Ende von einer kleinbürgerlichen Muffbestattung mit Glockengeläut und Vaterunser konterkariert wird? Wenn man ein Leben lang gegen Vatikan und andere Heuschreckenplagen gekämpft hat, wenn man Lüge und Heuchelei trotzte und den Eros der Utopien zelebrierte, dann muss doch der letzte Akt eines freien stolzen Lebens genau diesen Spirit demonstrieren. An genau diesem Tag muss es doch zugehen wie in Monterrey, Sex, Drugs, Rock'n Roll, brennende Gitarren und garniert mit einem funkeläugigen Wildwestprediger der Marke Dennis Hopper: Genossen, die Revolution geht weiter, Lotta continua, Hasta la Vitoria siempre, sprengt im Himmelreich die Ketten, es lebe der Tod!

Soviel ich im Leben mitbekommen habe, ist der typische 68er kategorisch gegen Gott, gegen den Adel, das Kapital, die CSU und die CIA. Er ist gegen den Staat, gegen jede Form der Diktatur, gegen die Riesterrente, Dieseldreck und gegen jedwede Vereinnahmung und Verwaltung. Viele 68-er sind auch gegen die Ehe - obwohl sie seit dem Abi mit Gabi verheiratet sind. Gut, das passt nicht zusammen, aber Widersprüche sind nun einmal der Motor jeder Dialektik.

Ganz in diesem Sinne überlässt man beispielsweise den Finalsound nicht den Trauermonopolisten. Früh schon sollte der Betroffene also eine testamentarische Playlist festlegen, eine Art Köchel-Verzeichnis der eigenen Biographie, die man am Tag seiner Bestattung den Liebsten serviert, auf dass die Erinnerung noch einmal aufleuchtet in all den zarten Facetten und dunklen Verirrungen und ein Meer der Tränen anschwellen lässt mit Rotbeet-Smoothie und Tofu-Wienerle mit Ingwerkren.

Der Indie-Rocker Stephan Malkmus meinte einmal: "Ich stelle mir vor, dass die Leute nach meinem Tod um ein Lagerfeuer sitzen, ein Bier trinken und denken: Ach, er war schon ein guter Junge. Er hätte wohl etwas netter sein können."

Spontan erstellte er am selben Abend seinen finalen Soundtrack: "Jesus was a Crossmaker von Judee Sill; Barstool Blues von Neil Young; Lowdown von Wire; Whistling Song von Meat Puppets; Vampire von Sebadoh; Mongoloid von Devo; Waterloo Sunset von den Kinks; Jesus is waiting von Al Green; What Love can do von Kingdome Come und Tale in a hard time von Fairport Convention." Das hat doch Stil und Hand und Fuß und gibt schon mal den Takt vor.

"Von den jetzt eintreffenden 68-ern erwarte ich, dass das Begräbnis endlich bunter, freier und witziger wird"

Am kommenden Tag schlenderte ich über den Alten Waldfriedhof im Münchener Westen mit seinen über 35.000 Ruheplätzen. Dort bewunderte ich die kleine muslimische Sektion, wo alles nach Mekka ausgerichtet ist, den Rasen der Namenlosen, das riesige Feld aus schmucklosen Rechtecken und lieblos präsentierten Texttafeln sowie die Betonkapellen der vermögenden Münchenclans mit der Fjuschn aus bemühter Bäuerlichkeit und missratenem Neoklassizismus.

Schließlich gelangte ich an die Grabstätte von Michael Ende - auch ein schöner Name in diesem Zusammenhang - und traf zufällig einen jungen Mann, der sich als Pressereferent für die Städtischen Friedhöfe erwies und mich im Verlauf unseres Fachgesprächs mit einem Bekenntnis überraschte:

"Ich würde mich wirklich freuen, wenn mehr Münchener die Freiheit wahrnehmen würden, sich endlich mal mit Stil und Phantasie zu verabschieden. Scheinbar weiß kaum eine sterbliche Seele, was da alles machbar ist hierzulande; ob Grabstein, Größe des Grabs, die Möglichkeiten der Feier und der Inszenierungen. Wir sind völlig unterfordert und die allermeisten unserer Angebote bleiben in der Schublade. Sicher, wir sind hier keine Event-Manager und können da auch nicht die Werbetrommel rühren, aber gerade von den jetzt eintreffenden Kandidaten, also den 68-ern, erwarte ich, dass es endlich bunter, freier und witziger wird."

In vager Kenntnis der deutschen Bestattungsgesetze mit ihren "Betreten Verboten"-Katalogen, den ermüdenden Paragraphen bezüglich Heckengrößen, Kreuzmaßvorschriften und detaillierten Steinmetzvorgaben vermutete ich, dass der juvenile High-End-Schwärmer zuviel an einer Jerry-Garcia-Morgenbowle genippt hatte. Weiß er nicht, dass echte Happenings hierzulande weder im Diesseits noch im Jenseits gerne gesehen sind? In Berlin wurde unlängst einem altlinken Kreuzberger Gastwirt trotz dessen testamentarischer Verfügung untersagt, einen kupferglänzenden Zapfhahn an seinen Grabstein zu montieren.

Der Zufall meiner Schritte führte mich zum Grab 17-W-88. Dort hat der Bildhauer Elkan vor ziemlich genau 100 Jahren ein imposantes Jugendstilensemble geschaffen. Das ist ein inzwischen leicht verwaschener heller Marmorblock, auf dem sich eine kleine goldene Erdkugel befindet nebst einem elegant posierenden Pegasus. Gemäß seiner Lebensparole "Glücklich, wer gesund und heiter über frische Gräber hopft!" hatte der Schwabinger Rebell und Vollzeitbohemian Frank Wedekind halb München zu seinem Begräbnis vorgeladen.

In aller Herrgottsfrüh des 12. März 1918 - kurz zuvor hatte Lenin mit Deutschland den Frieden von Brest-Litowsk geschlossen - fanden sich in der friedhofsnahen Bierschänke einige Kulturgrößen, auch aus Berlin und Wien ein, Brecht darunter und Teile der Manns. Überwiegen aber sollten jede Menge Halbstarke, Boxer, Trunkenbolde, Dirnen, Kellner und Zechpreller, die in der Aussegnungshalle bereits für Tumulte sorgten. Trauer, Tragik und Groteske verwandelten sich in Tränen und Gelächter und sanft eskalierender Wahnsinn legte sich über den Pulk.

Zwischen Händeln und Händel galoppierten Irre mit gestohlenen Kränzen und ausgerupften Blumen über die frischen Gräber hin zur offenen Grube. Dort beugte sich kurz vor Sargschließung Heinrich Lautensack, Saufkumpan und Mitglied der Elf Scharfrichter zu weit nach vorne und stürzte mit laufender Filmkamera auf den befreundeten Leichnam. Der Erstere brach sich beim Todeskuss zwei Wirbel und wurde wenig später in die Psychiatrie eingeliefert. "Die Erde", so notierte der verkaterte Erich Mühsam an Morgen danach in sein Notizbuch, "die über seine sterblichen Reste rollte, sie begrub zugleich meines eigenen Lebens musische Leichtigkeit."