"Ohne diese Rivalitäten gäbe es keine Taliban"

Seite 2: "Die Taliban haben schon oft Garantien gegeben"

Auch in Moskau gab es Anfang Juli Verhandlungen mit den Taliban. Es wurden Garantien eingeholt, dass die Taliban nicht die Grenzen der zentralasiatischen Staaten überschreiten und gegen den IS und den Drogenhandel kämpfen. Das russische Außenministerium wertet diese Vereinbarung in offiziellen Stellungnahmen als Erfolg. Kann man solchen Garantien trauen?

Andrej Kasanzew: Russland hatte nach Verhandlungen der Taliban mit anderen Staaten wie den USA und China gar keine andere Wahl, als auch mit den Taliban zu reden. Die erhaltenen Garantien sind an sich gut. Eine andere Sache ist leider, dass die Taliban schon viele Male Garantien gegeben und sie kaum befolgt haben. Insbesondere haben sie immer erklärt, andere Staaten Zentralasiens nicht anzugreifen. Aber es gab von den Taliban zur Zeit ihrer Regierung bis 2001 solche Angriffe trotz damaliger ähnlicher Garantien.

Die Taliban waren schon damals eine Koalition verschiedener Kräfte. Dazu gehörten damals internationale Terroristen, mit Al Kaida verbundene ebenso wie autonome. Zu diesen gehören viele Emigranten aus Zentralasien, dem russischen Nordkaukasus, dem muslimischen Teil Chinas wie den Uiguren. Das Verhalten solcher Einheiten ist unvorhersehbar.

Selbst wenn sie zu den Taliban gehören, folgen sie nicht unbedingt deren vorgegebener Linie. Nichts hindert Einheiten, die jetzt zu den Taliban gehören, plötzlich zu sagen, dass sie keine Taliban mehr sind, um dann ein Land Zentralasiens anzugreifen. Einige standen schon unter den Bannern der Islamistischen Bewegung Usbekistans - bei den Batken-Zusammenstößen in Kirgisistan, an denen sich auch Russland 1999 beteiligte.

In einem Gespräch zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem tadschikischen Amtskollegen Rachmon hat Russland kürzlich seine Bereitschaft zur Hilfe für Tadschikistan zum Ausdruck gebracht, falls seine Grenze verletzt wird. Gegen wen wird dann geholfen? - Haben wir richtig verstanden, dass das Einheiten sein können, die eben noch zur Taliban gehörten, aber jetzt unter einer anderen Flagge kämpfen?

Andrej Kasanzew: Genau. Tatsache ist, dass es diese Erklärung Putins nicht gebraucht hätte, aufgrund des Vertrags über die kollektive Sicherheit. Formell ist die dadurch bestehende Organisation auch in Weißrussland und Armenien präsent, aber ihr eigentliches Ziel war immer Zentralasien. Es wurden Manöver durchgeführt, spezielle Anti-Drogen-Übungen und solche für den Kampf gegen internationale Terroristen.

Es wurde ein Verfahren für die Beteiligung russischer Truppen sowie anderer Vertragsstaaten im Falle eines Grenzdurchbruchs ausgearbeitet. Eine für Europäer verständliche Parallele ist die der französischen Truppen, vor allem der Fremdenlegion in Nordafrika. Sie werden oft als Stabilisator zur Hilfe gebeten, gegen den IS oder Al Kaida vor Ort. Das ist ungefähr die Funktion der Organisation des Vertrags über die kollektive Sicherheit in Zentralasien.

"Für ernsthafte Missionen schlecht geeignet"

Auch die Schanghai-Organisation, in der China und Russland Mitglieder sind, haben seit 2005 vor Ort eine Kontaktgruppe mit Afghanistan. Sie war inaktiv, soll jetzt aber wegen des Abzugs der Nato reaktiviert werden. Kann man über dieses Format einen konstruktiven Dialog, einen Friedensprozess beginnen?

Andrej Kasanzew: Schwierig ist, das die Schanghaj-Organisation nicht einfach strukturiert ist. Ihr gehören auch Indien und Pakistan an, die zu Afghanistan komplett entgegengesetzte Positionen haben. Man nimmt im Rahmen dieser Organisation immer nur China wahr, das wirklich sehr aktiv in Sachen Afghanistan ist. Weil China im Rahmen des Seidenstraßenprojekts dort große Investitionen in die Infrastruktur getätigt hat.

Gibt es eine Alternative zu einem Dialog in Zentralasien, inklusive Russland und Afghanistan?

Andrej Kasanzew: China hat zusätzlich zur Schanghai-Organisation ein eigenes Format für militärische Beratungen geschaffen: China-Pakistan-Afghanistan-Tadschikistan. Dieses Format kann China nutzen. Die Schanghai-Organisation ist für ernsthafte Missionen, die über diplomatische Erklärungen hinausgehen, schlecht geeignet - wegen der strategischen Rivalitäten.

Ohne diese Rivalitäten gäbe es gar keine Taliban. Die Taliban wurden von Anfang an vom pakistanischen Geheimdienst geschaffen, unter anderem zur Bekämpfung des indischen Einflusses und zur Lösung strategischer Probleme, um sich in Zentralasien den Rücken freizuhalten und dort Zugänge zu haben. Indien wiederum hat in Afghanistan jede Regierung unterstützt, die sich gegen Pakistan stellte. Sogar die prosowjetische Regierung Najibullah wurde von Indien unterstützt - noch nach dem Zusammenbruch der UdSSR.

"Die Rivalität zwischen den USA und China wird vieles blockieren"

Auch die USA haben früher versucht, sich an die Schanghai-Organisation anzuschließen. Es ist ihnen nicht gelungen - aber haben sie nicht diese Organisation als Möglichkeit zur Lösung in Afghanistan gesehen?

Andrej Kasanzew: Die Schanghai-Organisation, der Vertrag über kollektive Sicherheit - das sind alles sehr offene Formate, teils mit Kooperationsprojekten mit der Nato. Die USA haben keine grundsätzlichen Einwände gegen die Tätigkeit der Schanghai-Organisation, aber die Rivalität zwischen den USA und China, die momentan akut ist, wird vieles blockieren.

Ist Russland bereit, in Zukunft eine aktivere Rolle bei der Lösung des Afghanistan-Konflikts zu übernehmen? Kann es - auch vor dem Hintergrund des Rückzugs der USA aus der Region - politische Punkte sammeln?

Andrej Kasanzew: Für Russland geht es hier um eine existenzielle Frage. Tatsache ist, dass der Konflikt in Afghanistan nicht wie der in Syrien geografisch weit genug von Russland entfernt ist. Afghanistan grenzt direkt an Länder, die den Löwenanteil der Arbeitsmigranten nach Russland stellen. Eine Destabilisierung bedeutet von dort Migrationswellen von Afghanen, Tadschiken, Kirgisen und so weiter nach Russland.

Außerdem betrachtete Russland die Taliban noch vor ihrem Sturz als feindliche Macht. In Afghanistan wurden Tschetschenische Sprengmeister ausgebildet, die in Russland Terroranschläge verübten. In Russland, im Nordkaukasus, gab es viele Anschläge mit Bomben, die aufgrund dieser Ausbildung in Al Kaida-Lagern gebaut wurden. So kann jede Instabilität in Afghanistan zu schweren Problemen in Russland selbst führen.

Andrej Kasanzew ist Professor an der Higher School of Economics in Moskau und arbeitet an der Moskauer Elite-Universität MGIMO als Direktor des Zentrums für Studien über Zentralasien und Afghanistan. Er ist Autor zahlreicher Fachpublikationen über die Region.

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