Open Your Eyes: Medienkulturen als Lebensfolien

Drei neue Bücher zum Medienwandel in zivisilierten Gesellschaften

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Schrift statt Sprache, Bild statt Wort und zuletzt mp3 anstelle der CD (die ihrerseits einst mit der Langspielplatte konkurrierte): Immer wieder polarisieren sich die Diskussionen um neue Medien und Technologien auf die beiden Positionen Euphoriker versus Apokalyptiker. Ob generell ein Medium das andere komplett verdrängt oder sich neue Möglichkeiten für unterschiedliche Medien ergeben, diskutieren drei aktuelle wissenschaftliche Publikationen.

Der wohl bekannteste Mahner ist der amerikanische Kultur- und Medienkritiker Neil Postman, der mit seinen Hauptwerken ("Das Verschwinden der Kindheit", "Wir amüsieren uns zu Tode", "Die zweite Aufklärung") in den 80er und 90er Jahren immer wieder für Gesprächsstoff zwischen Konferenz und Kaffeekränzchen sorgte. Pünktlich zum nachlassenden Interesse an Postmans Verdrängungsthesen hat sich der österreichische Kulturjournalist Ingomar Robier in seiner Dissertation "Die Wortkultur und ihre Widersacher" mit den Argumenten Postmans und dessen Wegbegleitern und Gegnern auseinander gesetzt. Akribisch arbeitet sich Robier durch die zentralen Thesen Postmans in deren chronologischer Abfolge: Verdrängung der Wortkultur durch elektronische Medientechnologien, Verschwinden der Kindheit durch Fernsehkonsum, Total-Entertainisierung der Gesellschaft, Bedrohung des demokratischen Gemeinwesens durch Medienmanipulationen. Dabei gelingt es Robier, sowohl en passant eine Einführung in das Postmansche Denken und vor allem dessen Paradoxien und Entwicklungen zu leisten, als auch die zumeist eher kulturpessimistischen Argumente als popularisierende Versionen bereits vorliegender Theorieansätze (z. B. McLuhan, Adorno/Horkheimer,Weizenbaum) bloßzustellen.

Diese detaillierten, grundlegenden Arbeiten Robiers münden allerdings des öfteren in Zitationslawinen, die die Rezeption des Textes unnötig erschweren und den Eindruck eines Dauerrechtfertigungszwangs des Autors erwecken. Ebenso verpasst Robier eine eigenständige Theorie-Entfaltung. So fordert der Österreicher beispielsweise nachvollziehbar ein flexibleres Kulturmodell gegenüber den eher statisch-konservativen Vorstellungen Postmans und nennt konstruktivistische und dekonstruktionistische Ideen als Ausweg. Doch die Anwendung geschieht nur oberflächlich. Just an dem spannendsten Punkt bricht Robier sein Vorhaben ab: wie können Überlegungen zur Medienkritik mit entdramatisierten Ansätzen verknüpft werden?

"Medienkulturen" neu aufgerollt

An dieser Stelle knüpft der Lüneburger Kulturwissenschaftler Werner Faulstich an und postuliert ein Umschalten in der wissenschaftlichen Diskussion von "Wie wertvoll ist XY?" auf "Welche Funktion hat XY?". In seinem neuesten Sammelband "Medienkulturen" zeigt Faulstich, mit welch einer Bandbreite von Themen er sich bereits seit zwanzig Jahren beschäftigt hat und damit einer der ersten Medienforscher in Deutschland war, der sich nicht vor einer ernsthaften Auseinandersetzung mit z. B. Pornographie, Rockmusik, Fernsehserien und Bestsellern scheute. Dieses Interesse versandet jedoch immer wieder in vorläufigen Aufrissen und Andeutungen. So spricht Faulstich etwa schon seit zehn Jahren von der Notwendigkeit einer Theorie der Stars, liefert aber in dem hier erstveröffentlichten Beitrag zu Stars wiederum nur einen Überblick und die Forderung eines expliziten, interdisziplinären Ansatzes. Faulstich - wie auch Robier - lehnt sich an eher funktionalistische Ideen wie N. Luhmanns Systemtheorie oder S. J. Schmidts empirische Literaturwissenschaft an, um die apokalyptische Seite der Kritik zu entkrampfen. Allerdings wird das Verwenden etwa Luhmanns darüber hinaus nicht schlüssig und auch nicht durchdeklinierend umgesetzt. Zudem widerspricht Faulstich seinem eigenen Postulat der Distanzierung als Erkenntnisstrategie, wenn er in "Die Kultur der Metropole: New York" von "Schlager[n] mit den sattsam bekannten verlogenen Texten und von größter musikalischer Anspruchslosigkeit" (S. 119) schreibt.

Ferner sind nur drei der fünfzehn Aufsätze zum ersten mal in Print erschienen, was dem Band den leichten Beigeschmack der Zweitverwertung gibt. Zumal der sehr allgemeine Titel "Medienkulturen" zwar in seinem Plural (mal abgesehen vom Mangel an Beobachtungen zur Netzkultur), aber an keiner Stelle im medienkulturtheoretisch definitorischen Sinn eingelöst wird. Ein Kleinod verbirgt sich allerdings unter vielem schon Gesagten denn doch: der Beitrag "Musik und Medium" gibt einen pointierten Überblick über Musikgeschichte als mediale Vermittlungsgeschichte und verbindet als einer der ganz wenigen bisherigen Versuche (neben etwa Helmut Rösing oder Rolf Großmann) Medien- mit Musikwissenschaft. Dass Faulstich allerdings in seiner hilfreichen Einteilung der Musikgeschichte neben Live-Musik, Aufführungsmusik und Konservenmusik für die derzeitige Phase ausgerechnet von "Steinbruchmusik" spricht, ersccheint etwas unglücklich. Fragmentarisierungs- und Selektionsprozesse werden von ihm erkannt, doch Aphex Twin, Napster oder flexekutive User wühlen wohl kaum in einem Geschütt herum. Wie wäre es stattdessen etwa mit Mosaik- oder Bricolagemusik?

"Visual Studies"

Den theoretischen Schritt weiter als Robier und Faulstich gehen die meisten Beiträge des von Tom Holert herausgegebenen Sammelbands "Imagineering", der sich an den jüngst wieder aufgeflammten Diskussionen um die Berichterstattung zum Bosnien- und Kosovokrieg aufbaut. Acht Aufsätze zu den Analysemöglichkeiten der massenmedialen Bildermengen und der Industrie der Sichtbarkeit werden jeweils im Anschluss noch einmal in Interviews ergänzt. Allen Versuchen gemein ist eine Etablierung der aus den Cultural Studies entwickelten Visual Studies. Diese sind mit Forschern wie W.J.T Mitchell oder J. Rajchman verbunden und in Deutschland noch kaum beachtet. In seiner Einführung verdeutlicht T. Holert die Politisierung des Visualisierten anhand der Foto-Bebilderung von Bill Clintons Indienbesuch.

Neben diesem konkreten Beispiel bleibt aber eine überaus abstrakte Ebene der Theoriebildung ein Manko des hübsch gestalteten Bands. Selbst im zweiten Beitrag (J. Rajchman), der eine Orientierung zu den für die Visual Studies fundamentalen Überlegungen Foucaults (Kunst des Sehens, Sichtbarkeit vs. Nicht-Sichtbarkeit) anbietet, fällt das Lesen teilweise ungemein schwer, zumal Rajchman dann auch noch Deleuze' Rezeption der Foucault-Texte präsentiert. Neben weiteren Beiträgen zu u. a. fotografischen Traumata im Krieg (M. Terkessidis) und Körperlichkeit und künstlerische Fotografie (I. Becker) liefert D. Diederichsen einen der interessantesten Texte: In seinen Ausführungen zur "Politik der Aufmerksamkeit" kommt zwar die Theoretisierung genau dieser (z. B. die immernoch aktuellen Diskussionen im Umfeld von G. Franck, M. Goldhaber - siehe z.B. TP-Special Aufmerksamkeit und Kolumne Michael Goldhaber ) zu kurz. Doch liefert Diederichsen eine überzeugende, aktualisierte Betrachtung der Unterscheidung Kunst/Nichtkunst, die in einer angenehm unaufdringlichen Legitimation der Gesellschaft- und Kunst-Kritik eben in Form der Kunst selbst mündet.

Der Eindruck, dass der gesamte Band "Imagineering" zu einer etwas erzwungen wirkenden Reorientierung der offensichtlich in der Krise befindlichen Kunstgeschichte und -theorie beitragen soll, lässt sich allerdings nicht abweisen.

Alle drei Bände fordern eine interdisziplinäre Medienkulturwissenschaft ein und sehen die Unterscheidung von Lebens- und Medienwirklichkeit endgültig als überholt an: Medien konstituieren Lebenswirklichkeit und sind somit Bestandteile dieser. Dabei sollte der überaus normative Eindruck der Manipulation der Mediennutzer in Richtung Funktionalität abgeschwächt werden. Wie diese aufgebaut werden, stellen die Publikationen ausgiebig und kritisch dar.

Ingomar Robier: Die Wortkultur und ihre Widersacher, Peter Lang, Frankfurt/M.2000, 200 S. brosch., 65,00 DM, ISBN 3-631-36391-5, www.peterlang.de Werner Faulstich: Medienkulturen, Wilhelm Fink, München 2000, 228 S. brosch., mit Abb. und Übers., 48,00 DM, ISBN 3-7705-3514-6, www.fink.de Tom Holert (Hg.): Imagineering. Visuelle Kultur und Politik der Sichtbarkeit, Oktagon, Köln 2000, 199 S. brosch., mit zahlr. Abb., 48,00 DM, ISBN 3-89611-094-2, www.buchhandlung-walther-koenig.de/verlag.htm