Ost oder West?
Seite 2: "Great Game" im postsowjetischen Raum
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Diese europäischen Interventionsbemühungen in der Ukraine finden im Rahmen einer europäischen Expansionsstrategie statt, die unter dem Titel "Östliche Partnerschaft" im Dezember 2008 vom Europäischen Rat beschlossen wurde. Hierbei sollen die genannten postsowjetischen Staaten aus dem russischen Machtbereich herausgelöst und sukzessive in die Einflusssphäre der Europäischen Union herangeführt werden.
Dieses geopolitisch-wirtschaftliche Ziel soll in bewährter Tradition vermittels bilateraler Assoziierungsabkommen realisiert werden, mit denen vor allem die wirtschaftliche Kooperation - etwa durch den Abbau von Zöllen und sonstigen Handelsbeschränkungen – gestärkt würde. Die Ukraine spielt aufgrund ihres wirtschaftlichen und strategischen Gewichts bei diesem geopolitischen Machtspiel der EU natürlich die zentrale Rolle. Die Weigerung Kiews, das Assoziierungsabkommen zu unterschreiben, käme einer Niederlage der gesamten geopolitischen Strategie der "Östlichen Partnerschaft" gleich.
Ungefähr zur gleichen Zeit, als Berlin und Brüssel die "Östliche Partnerschaft" aus der Taufe hoben, forcierte der Kreml seine Bemühungen um die Formung einer eurasischen Zoll- und Handelsunion, die einen umfassenden wirtschaftlichen Integrationsprozess im postsowjetischen Raum initiieren soll. Bis 2015 möchte der Kreml hieraus eine "Eurasische Union" formen, die ähnlich der Europäischen Union strukturiert sein soll. Unter anderem ist der Aufbau einer "Eurasischen Kommission" (nach dem Modell der Europäischen Kommission) als einem zentralen Exekutivorgan geplant.
Bislang sind der russischen Zoll- und Handelsunion nur Kasachstan und Belarus beigetreten, während Armenien, Kirgisien und Tadschikistan einen Kandidatenstatus innehaben. Erst die Einbindung der Ukraine mit ihren 46 Millionen Einwohnern würde diesem russischen Projekt die notwendige kritische Masse verleihen, um diese "östliche EU" auch zu einer realen geopolitischen Alternative in der Region zu formen. Für beide Seiten - für die EU wie für Russland - stellt die Einbindung der Ukraine ein grundlegendes und unverzichtbares Element ihrer Expansionsstrategien dar. Deswegen wird der Kampf um Kiew mit solcher Verbissenheit geführt.
Russland hat dabei nach anfänglichen Lockangeboten - in Form günstiger Kredite und verbilligter Erdgaslieferungen - vor allem auf knallharten ökonomischen Druck gesetzt, um die Führung in Kiew an die engen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen beiden Ländern zu erinnern Die ukrainischen Exporte nach Russland wurden plötzlich durch pedantische russische Grenzkontrollen behindert, während die Verhandlungen um russische Erdgaslieferungen für die Ukraine aufgrund einer harten Haltung des russischen Staatsmonopolisten Gazprom kaum zum Abschluss kommen konnten. Der Kreml machte der ukrainischen Führung somit die hohen Kosten einer Westintegration deutlich.
Die ukrainische Führung um Präsident Janukowitsch - die ihre Machtbasis innerhalb der ostukrainischen Oligarchie hat – kann aber nicht einfach als eine prorussische Marionette Moskaus bezeichnet werden. Janukowitsch bemüht sich verzweifelt, angesichts zunehmender Krisentendenzen die Unabhängigkeit der Ukraine möglichst lange aufrechtzuerhalten. Eine Einbindung der Ukraine in die EU oder eine "Eurasische Union" würde langfristig die Machtbasis der ostukrainischen Oligarchie gefährden, die die Schwerindustrie der Ukraine kontrolliert. Hierbei betreibt Janukowitsch einen Balanceakt, bei dem er Brüssel gegen Moskau auszuspielen versucht, um so von beiden Seiten möglichst vorteilhafte Konditionen im Austausch für möglichst unverbindliche Integrationsversprechen zu erhalten.
Ein Paradebeispiel für diesen geopolitischen Spagat Kiews stellt das "unmoralische Angebot" dar, dass der ukrainische Ministerpräsident Mykola Asarow der EU unterbreitete: Für die Kleinigkeit von 20 Milliarden Euro wäre Kiew demnach bereit, seine Haltung bezüglich des europäischen Assoziierungsabkommens zu überdenken und dieses doch noch zu unterschreiben. Dabei kann Kiew letztendlich diesen Balanceakt nicht ad infinitum fortführen, ohne tatsächlich substanzielle Finanzhilfen auch zu erhalten, da die Ukraine am Rande des wirtschaftlichen Abgrunds steht: Das Land ist hoch verschuldet, die Währung befindet sich in einem Abwärtsstrudel, die marode Industrie versinkt in Stagnation. Ohne Finanzspritzen von der einen oder anderen Seite werde die ukrainische Führung "nicht in der Lage sein, die wirtschaftliche Stabilität aufrechtzuerhalten", zitierte die NYT einen Wirtschaftsberater Putins.
Die krisenbedingte Erosion nationaler Souveränität
Die ukrainische Führung ist somit im Endeffekt nur darum bestrebt, den Preis für ihre Integration in eines der konkurrierenden supranationalen Bündnis- und Wirtschaftssysteme in die Höhe zu treiben. Denn letztendlich hat sich die Ukraine, wie die meisten postsowjetischen oder postsozialistischen Staaten ohne große Rohstoffvorkommen, als ökonomisch nicht überlebensfähig erwiesen. Das industrielle Zentrum im Osten des Landes ist von einer kaum konkurrenzfähigen, maroden und veralteten Schwerindustrie geprägt, die bei einer Öffnung der Märkte gegenüber der EU sehr schnell zerschlagen und aufgekauft würde. Der Westen des Landes bildet hingegen eine ökonomische Zusammenbruchsregion, in der ohnehin kaum noch Industrie zu finden ist.
Ein ähnliches Schicksal wie die Ukraine hat im Übrigen vor wenigen Jahren das autoritär regierte Belarus erfahren, das aufgrund eskalierender wirtschaftlicher Krisentendenzen sich auf eine stärkere Integration mit Russland einlassen musste. Für die postsowjetischen Staaten endet somit aufgrund ihrer kaum vorhandenen ökonomischen Basis die kurze Ära der vollen nationalen Souveränität, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion einsetzte. Der unabhängige Nationalstaat wird somit – und dies ist ja keine genuin osteuropäische Tendenz – zu einem historischen Auslaufmodell, das in regionalen Wirtschaftsbündnissen aufgeht. Einzig postsowjetische Länder mit großen Rohstoffvorkommen, wie etwa Turkmenistan, können sich ihre nationale Souveränität mittels massiver Rohstoffexporte noch erkaufen.
Es ist somit gerade die strukturell bedingte ökonomische Schwäche – und die damit einhergehende politische Instabilität – der Ukraine, die das Land zu einem "Übernahmekandidaten" für Brüssel wie Moskau macht. Deshalb kreisten etwa die jüngsten Gespräche zwischen Janukowitsch und Putin am vergangenen Dienstag vor allem um die russischen Hilfskredite in Höhe von 15 Milliarden US-Dollar und um Preisnachlässe für russisches Erdgas, die im Gegenzug für eine Ostintegration der Ukraine in Aussicht gestellt wurden. Die Anlehnung Kiews an Moskau dürfte letztendlich auch von der deutschen Krisenpolitik in der Eurozone befördert worden sein. Nachdem die ukrainische Führung sehen konnte, welche wirtschaftlich desaströse Sonderbehandlung Berlin den europäischen Krisenstaaten angedeihen lässt, dürfte eine etwaige europäische Integration für das krisengeschüttelte Land weniger attraktiv erscheinen.
Doch was treibt sowohl die EU wie auch Russland dazu, die Konkurrenz um Einfluss im postsowjetischen Raum derart zu intensivieren? Beide Expansionsstrategien – die russische Zollunion wie die europäische Östliche Partnerschaft – wurden im Gefolge der 2008 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise forciert. Sie bilden einen gefährlichen und nur zu üblichen Reflex, mit dem kapitalistische Staaten auf eine tiefe Krise der kapitalistischen Produktionsweise reagieren: Es ist der Versuch, vermittels der Expansion, der wilden "Flucht nach vorn", die Krise zu überwinden.
Die Zunahme nationaler Spannungen - von der Eurokrise, über das hier geschilderte Great Game im postsowjetischen Raum bis zu den Auseinandersetzungen zwischen China und Japan im chinesischen Meer – werden gerade durch diese krisenbedingt zunehmenden Expansionsbestrebungen getragen, die im beginnenden 21. Jahrhundert nur noch durch Großmächte oder Bündnissysteme von kontinentalen Dimensionen realisiert werden können. Dies ist aber auch der einzige gewichte Unterschied zu der Zunahme nationaler Spannungen, die im Gefolge der letzten schweren Weltwirtschaftskrise in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts einsetzte.
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