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Paderborner "Hirten unter Hitler"

Die Paderborner Erzbischöfe Caspar Klein (1865-1941) und Lorenz Jaeger (1892-1975) – Foto-Collage: Bernd Schaller, Düsseldorf

Zur Neuedition eines folgenreichen Aufklärungsbuches von Wolfgang Stüken – Kirche & Weltkrieg, Teil 10

Der Paderborner Erzbischof Caspar Klein (1865-1941) schärfte den 1,5 Millionen Katholiken seines Bistums im Jahr 1934 ein, die Träger der Staatsgewalt seien "Stellvertreter und Bevollmächtigte Gottes". Als die in seinen Augen "gottgesetzten Autoritäten" von Nazideutschland das "katholische Polen" überfallen und bereits hunderte Priester ermordet hatten, predigte dieser durch und durch deutsche Kirchenführer seinen zur Wehrmacht einberufenen Klerikern:

"Wer in einem Kriege pflichtmäßig die Waffen trägt, ist eingefügt in die Pläne des allmächtigen, allweisen und allgütigen Völkerlenkers."

Teil 1: Als die Kirche staatsfern war [1]
Teil 2: Katholizismus und Erster Weltkrieg [2]
Teil 3: Protestantismus und Erster Weltkrieg [3]
Teil 4: Frieden im Niemandsland [4]
Teil 5: "Auf zu den Waffen! Gott will es!" [5]
Teil 6: "Gebete zur Beseitigung des Pestherdes" [6]
Teil 7: "Zertrümmerung des Bolschewismus und ein neues Europa" [7]
Teil 8: Franziskus Justus Rarkowski (1873-1950) [8]
Teil 9: "Hitler als christlicher Staatsmann" [9]

1941 starb Erzbischof Klein. Sein Nachfolger wurde der Wehrmachtsgeistliche Lorenz Jaeger. Mit Stolz verschickte man nach dessen Erwählung im Bistum Fotos, die den künftigen Kirchenführer in der Uniform der Hitlerarmee zeigten.

Vor dem westfälischen Oberpräsidenten und SA-Obergruppenführer Alfred Meyer versicherte Lorenz Jaeger, er habe den von ihm obligatorisch eingeforderten staatlichen Treu-Eid "aus ganzem Herzen und ohne Einschränkung" geschworen. Wie der von ihm verehrte Feldbischof Franz Justus Rarkowski [10] sah er eine innere Verwandtschaft von Priestertum und Soldatenberuf als gegeben. In beiden Männerbünden fühlte er sich zuhause.

Russland sei nicht auf Christus, sondern "auf Judas gebaut", proklamierte dann sein Fastenhirtenbrief 1942: "Ist jenes arme unglückliche Land nicht der Tummelplatz von Menschen, die durch ihre Gottfeindlichkeit und durch ihren Christushass fast zu Tieren entartet sind?" Nach "Stalingrad" beteiligte sich der Erzbischof am Helden- bzw. Totenkult des Regimes, um dann 1943 im Dom von Fulda vor allen Bischöfen und Tausenden Gläubigen zu predigen: "Deutschland muss leben, auch wenn wir sterben müssten!"

An der Ostfront eingesetzte Priester brachten 1944 sehr schlechte Nachrichten von den Schauplätzen des Massenmordens. Doch ihr vorgesetzter Bischof in Paderborn ließ sich von ihnen nicht belehren. Er rechnete als "erprobter Militärexperte" unverdrossen mit einem deutschen Endsieg. Es gäbe nämlich eine "Wunderwaffe", davon habe ihm ein Oberst der Wehrmacht erzählt. Eine Herde, die einen so nationalistisch und militaristisch verblendeten Hirten hatte, war zu bedauern.

Der menschengemachte Krieg als Gottes Verkündigungswerk?

Der NS-Staat und seine militärergebenen Assistenten auch in den Kirchen hatten das Verbrechen des Zweiten Weltkrieg zu verantworten. Doch nach der Niederwerfung des deutschen Faschismus wollte Erzbischof Lorenz Jaeger die 70 Millionen Toten einer höheren, nicht mehr zu überbietenden Instanz in die Schuhe schieben:

Wie einst dem Moses unter Blitz und Donner auf dem Berge Sinai das Gesetz Gottes gegeben wurde, so verkündete uns Gott im Krachen der Bomben und der Granaten, was sein heiliger Wille ist." Den Krieg betrachtete Lorenz Jaeger jetzt wörtlich als "unvergessliche Exerzitien [Besinnungszeiten], die unser Herr und Gott selbst uns hielt.

Erzbischof Lorenz Jaeger

Ab 1945 zeigte sich die erzbischöfliche Kirchenleitung in Paderborn jahrzehntelang immun gegenüber kritischen Forschungen. Man übte sich in Quellenzensur oder Stillschweigen und nahm ansonsten schon ein misslungenes Referat zu Originalzitaten zum Anlass, einen Kritiker als unseriös abzutun oder den hauseigenen Justiziar zu aktivieren. Nicht grundlegende Anfragen an das Verhalten der Kirchenleitung im Zeitraum 1933-1945, sondern vergleichsweise untergeordnete Nebenschauplätze sollten Gegenstand des öffentlichen Diskurses sein.

Die kirchenamtliche Strategie erwies sich als äußerst erfolgreich. 1992 war über den umstrittenen Kardinal Lorenz Jaeger im Westfälischen Volksblatt zu lesen: "Sein Name übt noch heute – nicht nur im Erzbistum Paderborn – eine merkwürdige, fast überirdische Faszination aus."

Zu solchen Überspanntheiten muss es zwangsläufig kommen, wenn in der religiösen Sozialisation die Glaubwürdigkeit der Botschaft des Jesus von Nazareth mit "Beweisen einer glorreichen Geschichte" des verfassten staatsnahen Kirchentums – nebst zugehörigem Personenkult – verwechselt wird.

Kritische Anfragen ab den 1980er Jahren erforderten jedoch kirchlicherseits irgendeine Antwort. Eine 1995 vorgelegte Studie des ehedem von Lorenz Jaeger zum Priester geweihten Heribert Gruß konnte keinerlei anti-nationalsozialistische Äußerungen im öffentlichen Raum oder gar "Widerstandsaktivitäten" des verehrten Vorbildes nachweisen, zeichnete sich bei der Behandlung von kompromittierenden Quellen durch abenteuerliche Interpretationskünste aus und überbrückte zahllose Verlegenheiten durch die weitschweifende Darbietung von Materialien und Vorgängen, die mit der Paderborner Bistumsspitze unmittelbar gar nichts zu tun haben.

Ein Journalist durchbricht den Panzer des klerikalen Männerbundes

Den harten Panzer des Schweige-, Vertuschungs- und Beschönigungskomplexes hat kein Kirchenhistoriker oder Vertreter der akademischen Geschichtswissenschaften aufgebrochen, sondern der katholische Journalist Wolfgang Stüken. Im Jubiläumsjahr 1999 der Kirche von Paderborn ("1200 Jahre Bistum") legte er sein folgenschweres Buch "Hirten unter Hitler" über die Rolle der beiden Paderborner Erzbischöfe in der NS-Zeit vor.

Dieses Werk, das den Boden für eine kritische Sichtweise grundgelegt hat, verleugnet in stilistischer Hinsicht keineswegs die journalistische Schreibwerkstatt. Gleichzeitig enthält die Darstellung jedoch auf Schritt und Tritt gründliche Quellennachweise: Belege aus einer langwierigen und umfangreichen Forschungsrecherche.

In den international verbreiteten "Holocaust and Genocide Studies" des United States Holocaust Memorial Museums (Washington DC, USA) erschien 2001 eine mehrseitige Besprechung. Die Zeitschrift Publik-Forum attestierte der "akribischen Studie", sie dokumentiere "auch die blamablen Bemühungen von Amtsbrüdern und kirchennahen Historikern, die traurige Realität zu verdrängen und zu vertuschen".

Erst nach zwei Jahrzehnten lässt sich heute die Wirkungsgeschichte dieser Arbeit überblicken. 2015 beantragte die "Demokratische Initiative Paderborn" (DIP) im Kommunalparlament, öffentliche Rühmungen Jaegers durch "Ehrenbürgerschaft", Straßennamen usw. zu beenden. Meine Stellungnahme für diese linke Ratsfraktion fußte weitgehend auf den Erkenntnissen von Wolfgang Stüken, die das kirchliche Schriftgut damals noch stillschweigend überging. Mit den Stimmen von CDU, FDP (!) und der "Freien Bürger Initiative" wurde der Antrag nach einer leidenschaftlichen öffentlichen Debatte abgebügelt.

Das Erzbistum beauftragte jetzt aber selbst Forschungen [11] über Lorenz Jaeger. In einem 2020 veröffentlichten Buch der kircheneigenen Fakultät [12] attackierte ein Historiker, der wie einstmals der Kardinal den "Rittern vom heiligen Grab" angehörte, noch einmal mit großer Schärfe Stükens wegweisende Veröffentlichung. In ihr walte eine "Hühnerhofmethode" und die Kritik grenze an "Geschichtsfälschung". Der Erzbischof habe 1941-1945 "seine Sache gut gemacht"!

In diesem Jahr ist nun aber ein ebenfalls in kirchlichem Auftrag erarbeiteter Tagungsband "Lorenz Jaeger als Kirchenpolitiker" erschienen, der als eindrucksvolle Bestätigung für den kritischen Ansatz des Paderborner Journalisten gelesen werden kann.

Im Rahmen des Projekts "Kirche & Weltkrieg" [13] haben wir jetzt zur Weihnachtszeit eine Neuedition des schon lange vergriffenen Buches "Hirten unter Hitler" vorgelegt – zum wohlfeilen Preis, denn der Autor Wolfgang Stüken verzichtet zugunsten des friedensbewegten Geschichtsprojekts auf seine Tantiemen.

Ausblick: Die "Aufarbeitung steht am Anfang"

Wenn demnächst die Ergebnisse einer historischen Studie über "Sexualisierte Gewalt im Erzbistum Paderborn" [14] vorliegen, werden öffentliche Rühmungen von Kardinal L. Jaeger durch Namensgebungen usw. vermutlich bald erledigt sein. Es stellt sich jedoch die Frage, warum die bürgerliche Welt nicht schon die geistliche Kriegsbeihilfe des Predigers für den zu Völkermordzwecken [15] unternommenen Vernichtungsfeldzug gen Osten als kompromittierend bewertet hat.

Wolfgang Stükens jetzt wieder greifbares Buch ist durchaus nicht auf die "Personalie Lorenz Jaeger" fixiert. Mit welcher Berechtigung sollten etwa die überaus traurige Gestalt des Bischofs Caspar Klein (1865-1941) und der aus dem Bistum kommende – in ihm geprägte – Kölner Kardinal Karl Joseph Schulte (1871-1941) übergangen werden? Gab es den durch Stüken aufgezeigten Dissens zwischen einer konfliktscheuen – vom Staat besoldeten – Bistumsleitung und einer unangepassten, allerdings nicht repräsentativen "Kirche von unten"? Gab es Dissens speziell auch in der Frage der kirchlichen Kriegsassistenz?

Wo verlangten die Paderborner Bischöfe von den Gläubigen ein "mutiges Bekennen"; wo verlangten sie von ihren "Untergebenen" Stillschweigen und Staatsgehorsam? Stellten sich die Bischöfe an der Pader – für alle erkennbar – im Zuge des sogenannten "Klostersturms" hinter die Ordensleute? Wie gestalteten sich aufseiten des Spitzenpersonals öffentliche Solidarisierung und seelsorgliche Begleitung im Fall der existenzbedrohenden, blutigen oder gar tödlichen Verfolgung von Mitgliedern der Kirche?

Welche Initiativen der innerkirchlichen Aufklärung, des gemeinschaftlichen Betens und des öffentlichen Protestes angesichts der "Euthanasie"-Morde in allernächster Nähe gab es aufseiten der Paderborner Kirchenleitung – im Vergleich u.a. zu Münster (Bischof von Galen) und auch zu "Laienaktivitäten" im eigenen Bistum? Welche Formen der Seelsorge zur Begleitung der verachteten, zur Ermordung freigegebenen "Geisteskranken" oder "Behinderten" und der Angehörigenpastoral wurden von der Bistumsspitze initiiert? Wie verhielt sich die Kirchenleitung, wenn Menschen, die nicht zum eigenen Kirchenkollektiv gehörten, verschleppt, gefoltert oder ermordet wurden?

Wie verhielt sich die Leitung der Diözese ab 1945 zur – kircheneigenen oder staatlichen – "Entnazifizierung" des kirchlichen Personals? Wer profitierte von der geschichtspolitischen Linie des Erzbistums Paderborn nach Kriegsende – und wer erlitt durch diese möglicherweise weitere Wunden? An der Wende zum Jahr 2022 gilt somit noch immer, dass die sogenannte "Aufarbeitung der NS-Zeit" am Paderborner Bistumsstuhl erst am Anfang steht.

Wolfgang Stüken: Hirten unter Hitler. Die Rolle der Paderborner Erzbischöfe Caspar Klein und Lorenz Jaeger in der NS-Zeit (Kirche & Weltkrieg, Band 12). Norderstedt: BoD 2021. ISBN: 978-3-7557-6020-7 (Seitenzahl 424; Paperback; Preis 13,90)

Leseprobe mit Inhaltsverzeichnis hier auf der Verlagsseite [16].

Internetseite mit Gesamtübersicht zum Editionsprojekt [17].


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6312422

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Als-die-Kirche-staatsfern-war-5073770.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Katholizismus-und-Erster-Weltkrieg-5987404.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Protestantismus-und-Erster-Weltkrieg-6018652.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Frieden-im-Niemandsland-6027386.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/Auf-zu-den-Waffen-Gott-will-es-6041926.html
[6] https://www.heise.de/tp/features/Gebete-zur-Beseitigung-des-Pestherdes-6062968.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Zertruemmerung-des-Bolschewismus-und-ein-neues-Europa-6072573.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Franziskus-Justus-Rarkowski-1873-1950-6152210.html
[9] https://www.heise.de/tp/features/Hitler-als-christlicher-Staatsmann-6179801.html
[10] https://www.heise.de/tp/features/Franziskus-Justus-Rarkowski-1873-1950-6152210.html
[11] https://upgr.bv-opfer-ns-militaerjustiz.de/uploads/Dateien/Links/pb-zu-jaegerstudie20200908.pdf
[12] https://www.lebenshaus-alb.de/magazin/013381.html
[13] https://kircheundweltkrieg.wordpress.com/
[14] https://www1.wdr.de/nachrichten/westfalen-lippe/zwischenbilanz-studie-missbrauchsfaelle-erzbistum-paderborn-100.html
[15] https://www.heise.de/tp/features/Germanen-versus-Slawen-6113363.html
[16] https://www.bod.de/buchshop/hirten-unter-hitler-wolfgang-stueken-9783755760207
[17] https://kircheundweltkrieg.wordpress.com/buchreihe/