Pakistan: Trübe Aussichten im Land der Reinen

Lastwagen in Lahore, der zweitgrößten Stadt Pakistans. Bild: Heinrich Böll Stiftung / CC-BY-SA-2.0

In keinem Land Asiens mit globaler Bedeutung sind die Zukunftsperspektiven so problematisch wie in Pakistan

Es gibt einige Sorgenkinder in Asien. Was aus Jemen und Afghanistan wird, den einzigen Asiaten in der untersten Gruppe des HDI, hat so tragisch ihr Schicksal für sie selbst ist, kaum globale Bedeutung. Mehr schon, wie sich Syrien und seine Nachbarn entwickeln. Die Frage, wie Saudi Arabien und Iran ihren Konflikt austragen (und ihre jeweiligen massiven inneren Probleme beilegen), ist dagegen weit über die Region hinaus von Belang.

Schwer einzuschätzen ist Nordkorea. Global entscheidend wird die Entwicklung in Südasien. Indien unter Narendra Modi entwickelt sich in vielerlei Hinsicht nicht so, wie es vor zehn Jahren erhofft und vorausgesagt wurde. Am Schwierigsten gestalten sich die Zukunftsaussichten für Pakistan, das weder mit sich selbst zurecht kommt noch mit seinen Nachbarn.

Kontinuierliche Instabilität

Pakistan, dem "Land der Reinen" (von Urdu: Pak = rein, gemeint als Land der reinen Religion, Islam) ist in seiner ganzen Historie kaum politische Stabilität vergönnt gewesen. Anstatt sich um die dringenden Probleme der Menschen zu kümmern, waren alle Regimes, ob zivil oder militärisch, die meiste Zeit damit beschäftigt, ihr politisches Überleben zu sichern. Über Jahrzehnte, praktisch ununterbrochen seit 1947, wurden so wichtige Entscheidungen verschoben und der Berg ungelöster Probleme kontinuierlich größer.

Pakistan (10 Bilder)

Weizendrescher. Bild: Naveed Yousaf / CC-BY-SA-4.0

Mittlerweile hat er eine Dimension, die selbst fähigste Politiker und Staatsadministratoren einschüchtert. Es ist dringlicher denn je: Wie wird Pakistan diese Probleme lösen? Wie kann das Land dabei eventuell unterstützt werden? Lösungen müss(t)en gefunden werden, denn wie sich Pakistan entwickelt, hat wirklich globale Bedeutung.

Bevölkerung

Am Beispiel Bevölkerungspolitik (oder ihrer Abwesenheit) lässt sich das Dilemma, in dem jede Regierung steckt, anschaulich erklären. Die Beziehung zwischen der gesellschaftlich-politischen Elite und staatlichen Organen auf der einen Seite und den Bürgern, vereint in Stämmen, Volksgruppen und Verwandtschaftsnetzwerken auf der anderen, war nie eine "glückliche".

Gegenseitiges Misstrauen ist eine der unumstößlich erscheinenden Konstanten Pakistans. An der ausnahmslosen und grundsätzlichen Ablehnung staatlicher Einmischung in die Privatsphäre und ganz besonders in Fragen der Geschlechterpolitik und Familienplanung hat sich bis heute nichts geändert.

Das Gegenteil ist sogar der Fall, was angesichts des stetig zunehmenden Einflusses konservativer bis radikaler Interpretationen des Islam seit Ende der siebziger Jahre nicht verwundert. Resultat: Familienplanung und Bevölkerungspolitik sind tabu und werden öffentlich nicht erörtert, obwohl die Reduktion des galoppierenden Wachstums die größte Herausforderung von allen ist. Das Land wird nicht von einer Welle überrollt, stattdessen hecheln der Staat und seine Organe einer Entwicklung hinterher, die sie nicht einholen und bändigen können.

Kaum positiver sieht es bei der Geschlechterfrage aus. Die Lage der Frauen verbessert sich, aber die Entwicklung ist regional und schichtspezifisch zu uneben und allgemein viel zu langsam. Am extremen Purdah ändert sich so gut wie nichts. Wieder zeigt sich der Einfluss der über Jahrzehnte propagierten und gepredigten konservativen Werte - in Pakistan wird sogar das Gesetz ausgehebelt, dass zunehmender Wohlstand weniger Nachwuchs bedeutet. Auch die Frauen der Mittel- und Oberschicht haben weiterhin überdurchschnittlich viele Kinder.

Spaltung

Gesellschaftliche Spaltung und ungleiche Verteilung von Gütern und Ressourcen nehmen zu anstatt ab. Von Regierungsseite gibt es praktisch nichts, was als Sozialpolitik bezeichnet werden kann. Vernünftige Bildung, Kranken- und Altersvorsorge und andere wichtige Leistungen sind privatisiert, daher kostenpflichtig und so jenseits der Möglichkeiten vieler Menschen. Es gibt einige religiöse und private NGOs, die vorbildliche Arbeit leisten, doch auf das ganze Land gesehen ist dies deutlich zu wenig.

Arbeitsmigration in den Persischen Golf und Überweisungen der Gastarbeiter nehmen einigen Druck aus dem Kessel, doch die Perspektiven für die meisten Angehörigen der Unterschicht sind zu gering. Wer arm ist, wird es sein ganzes Leben bleiben. Wirklich jeder Trend in Pakistan verstärkt diese Entwicklung.

Am größten ist das Versäumnis aller Regierungen auf dem Gebiet der Bildung, dem einzigen möglichen Weg aus der Armut. Bildung war, ist und bleibt ein Privileg. Knapp die Hälfte aller Frauen über 10 Jahre kann nicht lesen und schreiben und fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung.

So wird sich keine Gesellschaft entwickeln. Das Potential des Großteils der Bevölkerung bleibt ausgeschöpft, eine verhängnisvolle und unentschuldbare Vergeudung.

Natürliche Ressourcen

Zum fragwürdigen Umgang mit den menschlichen Ressourcen kommt jener mit den natürlichen. Pakistan wird in naher Zukunft eine dauerhafte und tiefgreifende Wasserkrise erleiden. Und das obwohl Wasser im Prinzip ausreichend vorhanden ist, aber leider auf vielfache Weise verschwendet wird.

Unerlässlich ist Wasser für die Landwirtschaft, die nach wie vor das Rückgrat von Wirtschaft und Gesellschaft bildet. Das Land besitzt mit die besten Böden der Erde, doch müssen diese bewässert werden. Nicht umsonst bildete sich auf dem heutigen Staatsgebiet Pakistans mit Moenjodaro um ein Bewässerungssystem eine der frühesten Zivilisationen der Menschheit.

Die Versorgung mit Wasser stößt demnächst an Grenzen, nicht die mit Boden. Wenn zumindest die Grundversorgung der Bevölkerung in Zukunft gewährleistet bleiben soll, muss sich auf diesem Gebiet Entscheidendes ändern.

Es gibt viel zu tun …

Die Herausforderungen an die nächsten zwei Generationen, an Regierung und Bevölkerung sind gigantisch. Es gibt kein anderes Land in Asien, das gleichzeitig einen solchen Berg an Problemen abtragen muss und zumindest momentan so wenig dazu in der Lage scheint. Eben weil sich Regierung und Bevölkerung permanent gegenseitig im Weg stehen und sich blockieren, kam es überhaupt zu diesem Engpass.

Die Gesellschaft müsste sich dringend modernisieren, aber sie verkapselt sich zunehmend in einer Version von Islam, der weder ihrer Geschichte entspricht oder zukunftsfähig ist. Um überhaupt noch einen Einfluss auf die Menschen zu haben, muss die Regierung ihre Legitimation - ihren islamischen Ruf - immer wieder neu bestätigen und bestärkt damit noch den Trend zur Verkapselung.

Der Wandel, der so dringend nötig wäre, ist nirgends in Sicht. Die aufgeklärte Mittelklasse, normalerweise der Bannerträger des Fortschritts, ist auf dem Rückzug. Wer heutzutage für moderne Ideen und Politik das Wort erhebt, spielt mit seinem Leben. In den letzten Jahren wurden Hunderte Journalisten, soziale Aktivisten und Reformer, Künstler und Aufklärer umgebracht.

Staatsversagen

Auch in Pakistan ist man bisher nicht weiter, als Sündenböcke zu suchen. Die USA und Indien führen die Liste an, aber auch "der" Westen, Hindus, Christen, Israel und gelegentlich Russland, Iran und die Shia werden beschuldigt. Wer auf eigene Fehler heutzutage nur hinweist, lebt gefährlich.

Wenn man jedoch betrachtet, was andere Länder Asiens im selben Zeitraum und oft unter weniger günstigen Umständen geschafft haben, dann kann den Mächtigen im "Land der Reinen" nur Staatsversagen bescheinigt werden. Und sowenig sich in der Bevölkerung positive Tendenzen zur Modernisierung zeigen, sowenig findet man diese im aktuellen politischen Personal.

Wenn Staatsgründer Jinnah etwas entgangen ist, dann die kurze Personaldecke seiner Muslim League. Die Partei, die Pakistan erkämpfte, war ein Einmannunternehmen. Nach Jinnah, der nur ein Jahr nach der Gründung verstarb, kam nicht mehr viel.

Doch "Was wäre wenn...?" Theorien ergeben keinen Sinn, das Land ist eine Tatsache seit 74 Jahren und für die Zukunft spielt es keine Rolle, auf welchen Ideen es basiert oder nicht. Es bleibt jedoch die große Frage, woher die politische Führung kommen soll, die es überhaupt einmal im Ernst versucht, die mannigfaltigen Probleme zu lösen.

Die Verantwortung der Armee

In dieser Litanei muss eine Institution hervorgehoben werden: Die Armee. Sie sieht sich als Garant der Staatsexistenz überhaupt, nicht nur als Landesverteidigung. Sie hat äußere und seit 2001 zunehmend innere Feinde im Visier.

Außer ein paar radikalen Randgruppen vertritt nur noch sie die Jinnah-Ideologie, die zur Dauerkonfrontation mit Indien führt (zur Verteidigung Jinnahs muss erwähnt werden, dass er sein Land nicht im natürlichen Gegensatz zu Indien sah). Hauptsächlich wegen ihr kann Pakistan kein "normales", ideologiefreies Land werden, das mit seinen Nachbarn Kompromisse aushandelt.

Die Feindschaft zu Indien und Afghanistan rechtfertigt ihren Zugriff auf einen völlig überzogenen Anteil an den Ressourcen des Landes. Seit Staatsgründung ist sie mitverantwortlich für die viel zu langsame Entwicklung zur modernen Gesellschaft und den stockenden, nach wie vor in den Kinderschuhen steckenden politischen Prozess.

Der Al-Zarrar-Panzer, das Rückgrat der pakistanischen Armee. Bild: Raza0007 / CC-BY-SA-3.0

Sie trägt die Hauptschuld für die Abspaltung Bangladeschs 1971. Und trägt die größte Schuld an den bürgerkriegsähnlichen Zustände von 2006 bis 2016. Dieser Konflikt, der noch nicht beendet ist, findet zumeist in der von Paschtunen bewohnten Provinz Khyber-Pakhtunkhwa und in Balochistan statt.

Bisher forderte er über 60.000 Todesopfer und verursachte über sechs Millionen Inlandsflüchtlinge. Es ist ein Meisterstück der Propaganda und ein krasses Indiz der Hilflosigkeit der Bevölkerung, dass es tatsächlich gelingt, die Schuld an diesen Verbrechen auf diffuse äußere Feinde abzuwälzen.

Gleichzeitig werden unter ihrer Federführung Medien und andere kritische Stimmen im Inneren zum Schweigen gebracht, auf subtile oder brutale Art. Und trotzdem: Obwohl die Armee eines der Haupthindernisse auf dem Weg zur Modernisierung von Staat und Gesellschaft ist, wird sie für Jahrzehnte nicht wegzudenken sein. Niemand mag sich ausmalen was geschähe, wenn die Armee plötzlich fehlen würde. Mit dieser Furcht wird bewusst gearbeitet.

Eine bedenkliche Gemengelage

Pakistan hat Erfahrung im Umgang mit Krisen, im Prinzip schleppt sich das Land seit es besteht von einer zur nächsten. Sein Nieder- und Untergang ist oft prophezeit worden, doch bis jetzt gelang es ihm jedes Mal, sich am eigenen Schopf aus dem zumeist selber verursachten Schlamassel zu ziehen.

Die Menschen der unteren 80 Prozent sind zäh und ihre sozialen Strukturen - die Stämme, Netzwerke und ethnischen Gruppen - so belastbar wie wenig andere irgendwo sonst. Das ist vermutlich einer der Hauptgründe, warum so wenige Bürger erkennen können und wollen, auf was für ein Szenario man zusteuert. Zusätzlich sind auf den ersten Blick die gegenwärtigen Verhältnisse so gut wie lange nicht.

Imran Khan. Bild: U.S. federal government

Der blutige Bürgerkrieg ist bis auf wenige Ausnahmen in den abgelegenen Regionen von KPK und Balochistan beendet, in den Großstädten gibt es keine großen Anschläge. Durch die Corona-Krise kommt das Land aus bis jetzt nicht erforschten Gründen so gut wie wenige andere Nationen, und das obwohl die Regierung im Prinzip wie immer eigentlich nichts tut. Mit Imran Khan ist ein neues Gesicht an den Hebeln der Macht, das sich bis jetzt zumindest was Korruption angeht, wohltuend von seinen Vorgängern unterscheidet.

Die nächste Krise baut sich unspektakulär auf. Wassermangel wirkt subtiler als die Durchtalibanisierung der Gesellschaft. Die Lebensbedingungen in den Städten fordern mehr Opfer als bewaffnete Extremisten. Problematisch ist nun das, was die ganze Bevölkerung immer getan hat.

Von außen ist ein Eingreifen kaum mehr möglich. Die USA sind diskreditiert und wohl finanziell zu erschöpft, um sich noch einmal im großen Stil zu engagieren. China versucht mit großen Summen den Betrieb aufrecht zu halten und handelt wie immer unauffällig hinter den Kulissen. Jedoch auch nur mit begrenzten Erfolg, vom Allheilmittel CPEC wird nicht mehr viel erwartet.

Anderer Einfluss ist kontraproduktiv, vor allem der Saudi Arabiens. Es kämpft ebenfalls mit Bevölkerungszuwachs, Tribalismus und Extremismus, hat dazu aber viel mehr Mittel zu Verfügung. Andererseits propagiert es noch immer seine regressive Version von Islam in der muslimischen Welt und verschafft sich mit seinen Ölmilliarden besonders in den armen Ländern wie Pakistan Gehör.

Wiederum arbeiten Millionen Pakistani in Saudi Arabien und den VAE und bringen nach Jahren der Beeinflussung die dortigen Werte mit nach Hause. Lange wird die Beziehung nicht mehr gut gehen, weil Saudi Arabien das Geld fehlen wird, um seinen treuesten Vasallen mitzuziehen.

Die nächsten zwanzig, dreißig Jahre werden spannend in Pakistan. Der interne Konkurrenzkampf, der jetzt schon mit allen Mitteln geführt wird, wird sich nochmal verschärfen. Die Netzwerke können das aushalten, diesen Zustand sind sie gewöhnt. Nur stößt eben das Land und seine Gesellschaft an Grenzen, die nicht mehr zu überwinden sind.

Zum ersten Mal in einem dreiviertel Jahrhundert wird sich manches grundlegend ändern müssen. Fraglich ist, ob die Elite und Armee dazu bereit sind. Bei der vorhandenen Gewaltbereitschaft auf allen Seiten und dem Ausmaß der Konflikte um elementarste Bedürfnisse kann man sich eine friedliche Lösung nur schwerlich vorstellen. Und die Probleme mit Indien und Afghanistan sind hier noch nicht einmal mit einberechnet.