Panzer aus Deutschland vor Kursk: Wie verändert sich die Debatte?
Eingeschränkte Ukraine-Hilfe und Haushaltsdisziplin: Die Aufregung ist groß. Die empörten Reaktionen übersehen Wichtiges. Kommentar.
In diesen Tagen wird die Phrasendreschmaschine wieder angeworfen. Die Unterstützung für die Ukraine sei in Gefahr, schimpfen Politiker von Union, FDP, Grünen und SPD, und fast alle Medien machen mit. In der taz. So fragt Dominic Johnson:
Saniert Deutschland seine Staatsfinanzen auf Kosten der Ukraine? Berichte, nach denen die Bundesregierung im Rahmen ihres jüngsten Haushaltsbeschlusses alle neuen Hilfszusagen an Kyjiw stoppt, mögen übertrieben sein. Aber dass die deutsche Militärhilfe für die Ukraine in einem Atemzug mit dem Stopfen von Haushaltslöchern genannt wird, ist absurd.
Dominic Johnson, taz
Aberwitzig ist eher die Frage, warum die Aufregung so groß ist, nur weil Bundesfinanzminister Lindner auch in Fragen der Gelder an die aktuelle ukrainische Regierung auf die Schuldenbremse und Haushaltsdisziplin verweist.
Kürzungen an allen möglichen sozialen Baustellen
Mit dieser Begründung werden Kürzungen an allen möglichen sozialen Baustellen angekündigt, die Kindergrundsicherung auf die lange Bank geschoben und die Empörung von Politik und Medien bleibt bisher aus.
Wenn nun aber die sogenannte Ukraine-Hilfe unter Haushaltsvorbehalt gestellt wird, gibt es diese Aufregung, die zudem völlig überflüssig ist.
Schließlich hat der Sprecher der Bundesregierung, Wolfgang Büchner, bereits erklärt, dass die Hilfe für die Ukraine so lange wie nötig fortgesetzt werde, allerdings mit den eingefrorenen russischen Geldern.
Die Phrase von der Hilfe für die Ukraine
Nun sollte man zunächst einmal die Phrase von der Hilfe für die Ukraine hinterfragen, die überall verwendet wird. Schließlich ist der Begriff Hilfe positiv besetzt und so werden die Menschen, deren Sozialleistungen gekürzt oder nicht erhöht werden, damit getröstet, dass man einem überfallenen Land helfe.
Tatsächlich aber bringt diese "Hilfe" nur noch mehr Tod und Zerstörung in die Ukraine, während deutsche Rüstungskonzerne wie Rheinmetall profitieren, deren Aktienkurse seit Monaten im Höhenflug sind.
Der Historiker Ewgenij Kasakow schreibt in einem Text sehr prägnant über die Aufgaben der kriegskritischen Linken in allen Ländern:
Im Krieg werden wir von den Medien und den Kriegsparteien mit Falschmeldungen, unbewiesenen Behauptungen und umgekehrt mit Zweifeln an eindeutig Bewiesenem überschüttet. Wer bei der Mobilisierung nicht mitmacht, wird früher (in den kriegführenden Ländern Russland und Ukraine) oder später (in den westlichen Unterstützerstaaten wie Deutschland) als "Helfer des Feindes" abgestempelt.
Ewgenij Kasakow
Die Reaktionen fast aller Medien und vieler Politiker in Deutschland auf den Lindner-Brief sind ein guter Beleg für Kasakows These.
Die Phrase von der Hilfe für die Ukraine gehört auch zu den Mitteln, die Bevölkerung im Interesse der Rüstungskonzerne und des deutschen Imperialismus kriegsbereit zu machen.
Der deutsche Imperialismus und die Ukraine
Dann müsste man auch darüber reden, wie 2014 bei den Maidan-Unruhen deutsche Politiker den Flügel des ukrainischen Nationalismus unterstützten, mit dem man schon vor 1945 gut zusammengearbeitet hatte.
Deshalb haben diese deutschfreundlichen ukrainischen Nationalisten nach ihrer Machtübernahme auch den zeitweiligen NS-Verbündeten und Antisemiten Stephan Bandera in Straßennamen und Denkmälern wieder hochleben lassen.
Dieser Flügel des ukrainischen Nationalismus wird mit der Phrase von der Hilfe für die Ukraine unterstützt. Dass die Deutschnationalen aller Parteien darüber nicht reden, ist verständlich. Schließlich geht es darum, die Mehrheit der Bevölkerung für deutsch-imperialistische Interessen opfern zu lassen.
Dass aber auch viele der wenigen Kriegskritiker nicht über die Interessen des deutschen Imperialismus in der Ukraine reden wollen, ist schon erstaunlich. Sie stellen Deutschland lieber als Opfer US-amerikanischer Interessen dar.
Auch eine solche Position hat Ewgenij Kasakow treffend kritisiert:
Viele Menschen in Deutschland nehmen die ukrainische Politik nur durch das Prisma der Interessen der Großmächte wahr, d.h. die verschiedenen politischen Kräfte werden nur noch auf die Merkmale "prowestlich" oder "prorussisch" reduziert, die politischen Handlungen des Staatspersonals werden nur noch als "blinde Befehlsempfänger der Strippenzieher in Moskau und Washington" interpretiert.
Ewgenij Kasakow
Keine Diskussion über Pipeline-Sprengung
Dieser ideologische Krieg, der von allen Seiten geführt wird, sorgt auch dafür, dass naheliegende Fragen gar nicht erst gestellt werden. Dazu gehört, dass kaum jemand fordert, wirklich alle Hilfen an die derzeitigen Machthaber in der Ukraine einzustellen, solange nicht geklärt ist, ob die Sprengung der Nordstream-Pipeline zumindest mit Unterstützung der Ukraine erfolgt ist.
Hier wird aber immer so getan, als ob die Sprengung gegen deutsche Interessen verstoßen hätte. Dabei wird vergessen, dass es auch in den herrschenden Kreisen in Deutschland eine prorussische Fraktion gab, die massiv an Einfluss zugunsten der proukrainischen Fraktion verloren hat. Diese hatte nun gegen die Sprengung der Pipeline ebenso wenig einzuwenden wie gegen den ukrainischen Einmarsch in Russland.
Wieder deutsche Panzer in Russland
Dass die auch von kriegskritischen Kreisen übersehene deutsch-ukrainische Kooperation durchaus real ist, zeigt sich in diesen Wochen, seit die ukrainische Armee Teile Russlands erobert hat. Die linksliberale taz titelte bereits "Wende im Ukraine-Krieg" mit dem bezeichnenden Untertitel:
Mit dem Angriff auf Kursk hat die ukrainische Armee den Krieg auf russisches Territorium verlagert. Wird das die Debatte in Deutschland verändern?
Diese Sätze haben mehr Realitätsgehalt als mancher denkt. Dazu muss man die Debatte Anfang der 1990er-Jahre rekonstruieren. Damals waren Teile der SPD, viele Grüne, vor allem aber die deutschlandkritischen Teile der außerparlamentarischen Linken davon überzeugt, dass deutsche Truppen nie wieder in Ländern auftauchen sollten, aus denen sie von den Gegnern der Wehrmacht mühsam und unter vielen Opfern vertrieben werden mussten.
Damals gab es noch eine Opposition, die wusste, dass es kein Zufall war, dass der deutsche Imperialismus gleich zu Beginn der 1990er-Jahre eine führende Rolle bei der Zerschlagung des multinationalen Jugoslawien spielte. Der Staat Jugoslawien war im Widerstand der Völker des Balkans gegen die deutsche Wehrmacht entstanden.
Die Zerschlagung dieses Staates war ein besonderes Anliegen des deutschen Imperialismus, der daraufhin erneut Belgrad bombardieren ließ. Der starke Widerstand dagegen zeigte, dass es damals in Deutschland noch eine Opposition gegen den deutschen Imperialismus gab.
Selbst die Pessimisten haben sich nicht vorstellen können, dass es keine 30 Jahre dauert und deutsche Panzer wieder auf russischem Territorium stehen und man wieder die Erben der alten deutsch-ukrainischen Achse als Verbündete hat.
Die Debatte wird sich ändern
Mit dem Angriff der ukrainischen Armee wird sich die Debatte in Deutschland ändern, allein schon deshalb, weil es im Zweiten Weltkrieg eine wichtige Schlacht um Kursk gab. Die meisten, die damals dabei waren, leben nicht mehr.
Aber ihre heutigen Nachkommen sehen die Chance, den Zweiten Weltkrieg doch noch zu gewinnen und damit dem Großvater oder Urgroßvater aus der Wehrmacht doch noch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Wenn Kommentatoren wie Kriegsreporter der Wochenschau klingen
So weckt auch der Einmarsch der Ukraine in russisches Territorium die alten und neuen Krieger, die einen Sieg über Russland wieder für möglich halten. Der Deutschlandfunk-Kommentator Florian Kellermann klingt dann wie ein Wiedergänger der Kriegsreporter der deutschen Wochenschau:
Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg stehen fremde Soldaten auf russischem Boden. Gemessen an der Größe Russlands ist es nur ein winziges Stück Land, das die ukrainische Armee im Gebiet Kursk erobert hat.
Doch die symbolische Wirkung ist um ein Vielfaches größer. Die ukrainische Armee nimmt russische Soldaten gefangen – auf russischem Territorium. Sie versorgt russische Bürger mit Lebensmitteln. Sie entfernt die russische Flagge von öffentlichen Gebäuden. Das ist mehr als eine Niederlage für Putin, das ist eine Demütigung.
Florian Kellermann, Deutschlandfunk
Vor 30 Jahren waren es kriegskritische Stimmen, die daran erinnerten, dass zum ersten Mal nach 1945 wieder deutsches Militär in Jugoslawien bombardierte. Heute sehen Kommentatoren, die dem deutschen Imperialismus verbunden sind, darin ein hoffnungsvolles Zeichen, dass Deutschland und seine Verbündeten den Krieg, den sie 1945 verloren haben, doch noch gewinnen können.
Atombomben: Putin bricht Versprechen?
Wie größenwahnsinnig diese alten neuen deutschen Militaristen schon wieder geworden sind, zeigt auch der Kommentator Florian Kellermann, wenn er Putin höhnisch vorwirft:
"Der Zar ist nackt" – das sehen auch Beobachter im Ausland so. Jahrelang haben Putin und seine Lautsprecher mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht, sollte dieser Krieg für Russland zu bedrohlich werden. Demonstrativ wurden Atomübungen angeordnet und medial inszeniert. Davon ist jetzt nichts mehr zu hören.
Florian Kellermann, Deutschlandfunk
Hier spottet ein Deutschlandfunk-Reporter tatsächlich, dass die Ukraine nun auch russisches Territorium erobert habe und Putin keine Atombomben auf Kiew oder Berlin werfe. Auch andere eingebettete Politiker, Analysten und Journalisten sehen darin ein Argument, jetzt noch mehr Waffen in die Ukraine zu pumpen und auch die Angriffe auf Russland zu unterstützen, denn es passiert ja nichts.
Erinnert das nicht an die Siegesmeldungen der deutschen Wochenschauen in den ersten Monaten nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion, bis sie vor Moskau zum Stehen kam und in Stalingrad vernichtet wurde?
Gedenken an Stalingrad 1943
Es ist noch gar nicht so lange her, da trugen deutschlandkritische Menschen T-Shirts mit der Aufschrift Stalingrad, nur um daran zu erinnern, wo der deutsche Imperialismus und seine Helfershelfer ihre größte Niederlage erlitten. Heute, so scheint es, sind sie schon wieder dabei, es erneut zu versuchen.
Wie gut die Propaganda heute wieder funktioniert, zeigt die Tatsache, dass es in Deutschland kaum noch Menschen gibt, die den Impuls verspüren, den siegestrunkenen Enkeln von heute mit einem Stalingrad-T-Shirt entgegentreten zu wollen.
Richtig bleibt dagegen das Postulat, das Ewgenij Kasakow an den Schluss seiner Überlegungen zu den Aufgaben einer kriegskritischen Linken aller Länder stellt:
Die Vernetzung jener Linken, die den Ukraine-Krieg weiterhin als Interessenskonflikt kapitalistischer Staaten betrachten und keine der Regierungen unterstützen wollen, ist eine praktische Notwendigkeit.
Ewgenij Kasakow