"Papiertiger Russland" und "Doppelmoral gegenüber Washingtons Kriegsverbrechern"

Seite 2: Geteilte Empörung: "Kriegsverbrecher, die in Washington herum spazieren"

Die USA haben sich dem natürlich immer widersetzt. Das geht weit zurück in die Geschichte des Kalten Krieges bis zu den Initiativen des französischen Präsidenten Charles de Gaulle zur Schaffung eines unabhängigen Europas. Mit seinen Worten "vom Atlantik bis zum Ural" wollte er Russland in den Westen integrieren, was aus handelspolitischen und natürlich auch aus sicherheitspolitischen Gründen eine ganz naheliegende Lösung war.

Hätte es also Staatsmänner in Putins engem Kreis gegeben, hätten sie Macrons Initiativen aufgegriffen und ausprobiert, ob sie sich tatsächlich mit Europa integrieren und die Krise abwenden könnten. Stattdessen hat er sich für eine Politik entschieden, die aus russischer Sicht völliger Wahnsinn ist.

Abgesehen von der Kriminalität der Invasion hat er sich für eine Politik entschieden, die Europa noch enger an die Vereinigten Staaten bindet. Sie veranlasst sogar Schweden und Finnland, der Nato beizutreten – aus russischer Sicht das denkbar schlechteste Ergebnis, ganz abgesehen von der kriminellen Invasion und den schwerwiegenden Verlusten, die Russland dadurch erleidet.

Also: Kriminalität und Dummheit auf Seiten des Kremls, schwere Provokation auf Seiten der USA. Das ist der Hintergrund, der zu dieser Situation geführt hat.

Wir können uns entscheiden. Wollen wir diesem Schrecken ein Ende zu setzen? Oder wollen wir versuchen, ihn fortzusetzen?

Es gibt nur einen Weg, dem ein Ende zu setzen. Das ist die Diplomatie. Nun bedeutet Diplomatie per Definition, dass beide Seiten sie akzeptieren. Sie mögen das Aushandeln von Kompromissen nicht, aber sie akzeptieren es als die am wenigsten schlechte Option. Es würde Putin eine Art Ausweg bieten. Das ist die eine Möglichkeit.

Die andere ist, den Krieg in die Länge zu ziehen und dabei zuzusehen, wie alle leiden, viele Ukrainer sterben werden, wie Russland leiden wird, wie Millionen Menschen in Asien und Afrika verhungern werden, wie wir die Umwelt derart aufheizen, dass es keine Möglichkeit für eine lebenswerte menschliche Existenz mehr geben wird. Das sind die Optionen.

Die Vereinigten Staaten und der größte Teil Europas haben sich mit nahezu 100 prozentiger Zustimmung für die Option "keine Diplomatie" entschieden. Nach der Devise: Wir müssen weitermachen, um Russland zu schaden.

Sie können Kolumnen in der New York Times, der Londoner Financial Times und in ganz Europa lesen. Ein gängiger Refrain lautet: Wir müssen dafür sorgen, dass Russland leidet. Es spielt keine Rolle, was mit der Ukraine oder anderen Ländern geschieht. Natürlich geht man bei diesem Spiel davon aus, dass Putin, wenn er bis an die Grenze des Erträglichen gedrängt wird, ohne Ausweg, gezwungen ist, seine Niederlage einzugestehen, das akzeptiert und die Waffen, die er hat, nicht einsetzt, um die Ukraine zu verwüsten.

Es gibt eine Menge Dinge, die Russland nicht getan hat. Westliche Beobachter sind überrascht. Vor allem haben die Russen nicht die Nachschublinien aus Polen angegriffen, über die Waffen in die Ukraine geliefert werden. Das könnten sie sicherlich tun. Das würde sie sehr bald in eine direkte Konfrontation mit der Nato, also den USA, bringen. Jeder, der sich schon einmal mit Kriegsspielen beschäftigt hat, weiß, wohin das führen wird – die Eskalationsleiter geht schnell hinauf bis zum Atomkrieg.

Das sind also die Spiele, die wir mit dem Leben von Ukrainern, Asiaten und Afrikanern, der Zukunft der Zivilisation, spielen, um Russland zu schwächen, um sicherzustellen, dass das Land genug leidet. Wenn Sie dieses Spiel spielen wollen, seien Sie ehrlich. Es gibt keine moralische Grundlage dafür. Es ist in der Tat moralisch ein Irrsinn. Und die Leute, die sich auf ein hohes Ross setzen und behaupten, wir würden Prinzipien hochhalten, sind moralische Wirrköpfe, wenn man bedenkt, worum es geht.

In den Medien und in der politischen Klasse der Vereinigten Staaten und wahrscheinlich auch in Europa gibt es viel moralische Empörung über russische Barbarei, Kriegsverbrechen und Gräueltaten. Zweifelsohne gibt es diese Verbrechen, wie sie in jedem Krieg vorkommen. Finden Sie diese moralische Empörung nicht ein wenig selektiv?

Noam Chomsky: Die moralische Empörung ist durchaus angebracht. Es sollte moralische Empörung geben. Aber wenn man in den Globalen Süden geht, können sie nicht fassen, was sie da zu Sehen bekommen. Natürlich verurteilen sie den Krieg. Es ist ein beklagenswertes Verbrechen der Aggression. Dann schauen sie auf den Westen und sagen: Wovon redet ihr eigentlich? Das tut ihr uns doch die ganze Zeit an.

Es ist schon erstaunlich, wie unterschiedlich die Kommentare ausfallen. Lesen Sie die New York Times, ihren großen Denker, Thomas Friedman. Er hat vor ein paar Wochen eine Kolumne geschrieben, in der er verzweifelt die Hände über dem Kopf zusammenschlug. Er sagte: Was können wir tun? Wie können wir in einer Welt leben, die einen Kriegsverbrecher hat? So etwas haben wir seit Hitler nicht mehr erlebt. In Russland gibt es einen Kriegsverbrecher. Wir sind ratlos, was sollen wir tun? Wir haben uns nie vorstellen können, dass es irgendwo einen Kriegsverbrecher geben könnte.

Wenn Menschen im Globalen Süden das hören, wissen sie nicht, ob sie in Gelächter oder Spott ausbrechen sollen. Wir haben Kriegsverbrecher, die überall in Washington herum spazieren. Wir wissen, wie wir mit unseren Kriegsverbrechern umgehen müssen.

So geschehen erneut beim Jahrestag des Einmarsches in Afghanistan. Zur Erinnerung: Der Krieg war eine Invasion ohne irgendeine Provokation, die von der Weltöffentlichkeit entschieden abgelehnt wurde. Es wurde ein Interview mit dem Verantwortlichen der Invasion, George W. Bush, geführt, der dann in den Irak einmarschierte, ein großer Kriegsverbrecher.

Das Interview wurde in der Rubrik "Stilfragen" der Washington Post veröffentlicht. Man beschrieb dort, wie sie es nannten, den liebenswerten, albernen Großvater, der mit seinen Enkeln spielt, Witze macht und die Porträts zeigt, die er von berühmten Leuten gemalt hat, die er traf. Alles in einer schönen, freundliche Umgebung.

Wir wissen also, wie man mit Kriegsverbrechern umgeht. Thomas Friedman liegt falsch. Wir gehen sehr professionell und freundlich mit ihnen um.

Oder nehmen Sie den wahrscheinlich größten Kriegsverbrecher der Neuzeit, Henry Kissinger. Wir behandeln ihn nicht nur höflich, sondern mit großer Bewunderung. Das ist schließlich der Mann, der der Luftwaffe den Befehl gab, Kambodscha mit einem Bombenteppich in die Hölle zu schicken – "alles, was fliegt, auf alles, was sich bewegt", war seine Formulierung.

Ich kenne kein vergleichbares Beispiel in der archivierten Geschichte für einen Aufruf zum Massenvölkermord. Er löste sehr intensive Bombenangriffen auf Kambodscha aus. Wir wissen nicht viel darüber, weil wir unsere eigenen Verbrechen nicht untersuchen. Aber Taylor Owen und Ben Kiernan, seriöse Kambodscha-Historiker, haben die Angriffe beschrieben.

Und dann ist da noch unsere Rolle beim Sturz der Regierung von Salvador Allende in Chile und bei der Errichtung einer mörderischen Diktatur. Man könnte so weiter machen. Wir wissen also, wie wir mit unseren Kriegsverbrechern umgehen.

Dennoch kann sich Thomas Friedman nicht vorstellen, dass es so etwas wie die Ukraine jemals geben könnte. Es gab auch keinen Kommentar zu dem, was er schrieb, was bedeutet, dass es als ziemlich vernünftig angesehen wurde. Das Wort Selektivität kann man für solche Einseitigkeit kaum anwenden. Es ist mehr als erstaunlich. Ja, die moralische Empörung ist durchaus angebracht. Es ist gut, dass die Amerikaner endlich anfangen, sich über große Kriegsverbrechen zu empören – in diesem Fall allerdings, wenn sie von jemand anderem begangen werden.