Parlamente als Abnickvereine

Seite 2: Abgeordnete haben keine Ahnung, stimmen aber treudoof ab

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Befragt, wie hoch der deutsche Anteil an den Kreditbürgschaften wohl sein könnte, konnten zahlreiche Abgeordnete nicht einmal den genauen Betrag beziffern (211 Milliarden Euro). An welche Länder schon zuvor Kredite ausgezahlt worden waren (Irland und Portugal), wussten manche auch nicht und nannten stattdessen Griechenland. Und vollends ins Schwimmen gerieten die Parlamentarier bei der Frage, ob mit dem Rettungsschirm auch Banken gerettet werden können. So verhält sich tumbes Stimmvieh.

Abgefragt wurden, dem Anschein nach, einfachste Informationen, deren Antworten jedermann schon kennt, der nur ab und an die "Bild"-Zeitung liest. Doch die ach so arbeitsamen, fleißigen Bundestagsabgeordneten wursteln dermaßen schlampig vor sich hin, dass sie nicht einmal primitivste Wissensfragen beantworten konnten. Sie hatten nämlich keine Ahnung.

Aber eins wussten sie ganz genau: Wie sie abzustimmen hatten. Offensichtlich reicht es den meisten völlig hin, wenn sie die Entscheidungen ihrer Fraktionsvorsitzenden abnicken dürfen, ohne auch nur zu wissen, was sie da überhaupt abnicken. Und auf verschrobene Weise haben sie ja auch irgendwie Recht: Was sollen sie sich mit dem Zeug auch noch weiter beschäftigen, wenn sie sowieso nur zum Abnicken da sind?

Heribert Prantl schrieb damals über den "demokratischen Pöbel Bundestag"3:

"Der Bundestag schluckt - und stimmt zu bei allem, was ihm von der Bundesregierung vorgesetzt wird, so es ihm überhaupt vorgesetzt wird. … So war und ist es bei allen EU-Gesetzen und Verträgen. So war und ist es bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr; hier mussten Parlamentarier gar ihre Zustimmungsrechte erst einmal im Wege der Organklage beim Bundesverfassungsgericht erstreiten.

Zu konstatieren ist also ein merkwürdiger, demokratiewidriger Striptease der Legislative, der jetzt, in der Finanz- und Wirtschaftskrise, seinen Höhepunkt findet: Der Kaiser der Demokratie, der Bundestag, ist nackt. Er sagt nichts, er will nichts sagen, er hat nichts zu sagen. Das Parlament … hakt die Multi-Milliarden-Aktionen der Kanzlerin, des Finanz- und des Wirtschaftsministers ab, als handele es sich um die 23. Durchführungsverordnung zum Einkommensteuergesetz. … Die wichtigsten Wirtschaftsgesetze werden, im Auftrag der Regierung, von internationalen Anwaltskanzleien vorgefertigt. Es wird 'durchregiert‘."

Der Verzicht auf eigene Verantwortung selbst in Schicksalsfragen der Nation ist längst so weit gediehen, dass sie sich als gehorsames Stimmviech verhalten, ohne nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, was sie anrichten. Und das wirft ein bedrückendes Bild auf die Volksvertreter: Sie sind vorwiegend damit beschäftigt, sich im täglichen Politbetrieb durchzuschlagen und ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Alles andere interessiert sie nicht mehr.

Der Gedanke, dass sie eine Verantwortung für das deutsche Volk tragen (sollten), ist ihnen zutiefst fremd. Und dass sie sich dafür ordentlich vorbereiten, in eine Thematik einarbeiten und dann sachverständig urteilen können müssten, kommt ihnen nicht einmal in den Sinn. Schließlich haben sie ja ihre Einpeitscher, die ihnen rechtzeitig mitteilen, wie sie abstimmen müssen. Wozu braucht man da Sachverstand?

Soll keiner behaupten, dies sei eine rhetorische Überspitzung. Genau so haben die Abgeordneten sich verhalten, als sie einst der Ablösung der Deutschen Mark durch den Euro zustimmten, ohne nur einen Gedanken darauf zu verschwenden, welche Folgen es hat, wenn die Gemeinschaftswährung nicht auch auf der Basis einer gemeinsamen europäischen Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik ruht.

Abgeordnete, die brav das Pfötchen heben

Die Abgeordneten haben sich schon damals einen feuchten Kehricht darum gekümmert, was da beschlossen wird und welche Folgen das haben kann. Mit dumpfem Fraktionsgehorsam haben sie sich der verordneten Euro-Begeisterung angeschlossen und die Völker Europas in die dramatischste und gefährlichste Krise der Nachkriegszeit katapultiert.

Diese Existenzkrise, bei der es den Völkern Europas buchstäblich und auch ihren einzelnen Mitgliedern höchst individuell an den Kragen geht, ist einzig und allein das Werk verantwortungsloser Politik. Ohne die Gedanken- und Verantwortungslosigkeit demokratischer Politiker wäre es niemals zu dieser Krise gekommen. Sie verhalten sich wie dressierte Hunde, denen man nur zurufen muss "heb’s Pfötchen" und schon heben sie gehorsam ihre Pfoten.

Die Entscheidungsinkompetenz von Parlamenten ist allen Beobachtern schon seit einigen Jahrzehnten bekannt. So schrieb der Berliner Politikwissenschaftler Johannes Agnoli bereits 19674:

"Fraglos ist das Parlament als ‚Legislative‘ und als Körperschaft, in der Volksinteressen gesetzgeberisch Ausdruck finden sollten, gegenüber der ‚Exekutive‘ bis zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Es ist nicht mehr in der Lage, selbständig Entscheidungen zu treffen, da es als Ganzes nicht mehr an den konkreten Vorbereitungen der Gesetze und an der Aufarbeitung des Materials beteiligt wird.

Auch im Parlament bilden sich oligarchische Zentren, die den größten Teil der Abgeordneten aus dem engeren Informationskreis ausschließen und so den Eintritt in den eigentlichen Entscheidungsmechanismus verwehren. ...

Überall in der westlichen Welt kann - hinter der Fassade verfassungsmäßig ausgewogener Gewalten- und Kompetenztrennungen - eine weitgehende Symbiose der Parlamentsführung mit den Spitzen des Exekutivapparates beobachtet werden… Der ‚harte Kern‘ des Parlaments wird jedoch nicht entmachtet. Nicht alle Entscheidungen werden ‚anderswo‘ getroffen, da ein Teil der entscheidenden Gruppen wenn nicht als Parlament, so doch im Parlament wirkt. ...

Und genau das ist für eine erfolgreiche Herrschaftsmethode unerlässlich: dass ein Teil der politischen und gesellschaftlichen Oligarchien sichtbar im Parlament tätig (also dem Schein nach öffentlich kontrollierbar), sichtbar vom Volke gewählt (damit zum Herrschaftsakt demokratisch legitimiert) und sichtbar Träger von Macht (und in der Lage, moralisch verpflichtende Wählerwünsche durchzusetzen) ist.

Wäre dem anders, würde die Bevölkerung sich gar nicht auf das parlamentarische Spiel einlassen, und sie würde die Wahlen nicht mehr als den wesentlichen Ausdruck ihrer politischen Freiheit betrachten. Mit einem Wort: erst die Präsenz der Macht im Parlament (und nicht etwa: die Macht des Parlaments) ermöglicht die Erfüllung der Aufgaben, die ihm als Organ (als Ganzem) zukommen."

Allerdings ist die Untergrabung der Haushaltshoheit und die generelle Selbstentmannung des Bundestags unter dem Einfluss der Euro- und Finanzkrise noch ein paar Schritte weiter fortgeschritten: Der ursprüngliche Entwurf des Gesetzes zum "europäischen Stabilisierungsmechanismus" von 2010 ermächtigte das Bundesfinanzministerium, für Notkredite Gewährleistungen von bis zu 123 Milliarden Euro zu übernehmen. Der Haushaltausschuss des Bundestages sei davon lediglich zu unterrichten.

Nach Protesten aus dem Parlament verfiel man auf den Zusatz, vor der Übernahme solcher Gewährleistungen "bemühe" sich die Bundesregierung, "Einvernehmen" mit dem Haushaltsausschuss herzustellen: Die Hunderte von Milliarden zur Stabilisierung des Euro sollen nicht ohne maßgebliche Beteiligung des Gesetzgebers beschlossen werden können. Eigentlich völlig egal; denn im Haushaltsausschuss haben natürlich die Regierungsvertreter die Mehrheit.

Inzwischen hat die europäische Politik im Zuge der Euro-Staatsschuldenkrise die nationalen Parlamente ins Abseits gedrückt. Das wäre schon an sich eine einzige Katastrophe. Doch damit nicht genug. Die nationalen Parlamente wehren sich nicht, sie lassen das mit sich geschehen und wirken noch aktiv an der eigenen Entmachtung mit.

Wenn die Parlamente oder gar die Völker - angeblich ja die Souveräne der Politik - nicht "richtig" abstimmen, dann lässt die europäische Politik eben so lange wählen, bis das Richtige dabei herauskommt. So geschah es 2007 beim Lissabon-Vertrag, als die Iren zweimal abstimmen mussten und das französische Parlament dem eigenen Volk die Abstimmung verweigerte.

Immerhin hatten Franzosen und Niederländer 2005 die EU-Verfassung - den praktisch identischen Vorläufer des Lissabon-Vertrags - mit Mehrheit abgelehnt. Also wurde beim Lissabon-Vertrag so getrickst, dass eine Zustimmung der Bevölkerungen nicht mehr notwendig war. Die nationalen Parlamente ließen das ohne ein Wort des Protests mit sich machen.

In Deutschland reagierten die meisten Abgeordneten erst, als das Bundesverfassungsgericht sie darauf hinwies, dass die Beteiligungsrechte des Bundestags durch das deutsche Begleitgesetz zum Lissabon-Vertrag nicht ausreichend gewahrt wurden.

Man könnte das auch so formulieren: Der Bundestag und seine wackeren Abgeordneten wollten ihre Rechte gar nicht wahrnehmen. Sie hatten sich in vielen Jahrzehnten des Abnickens schon so erfolgreich selbst entmannt, dass sie nun nicht einmal mehr merkten, was ihnen fehlte…

2011 bei den Abstimmungen zum Euro-Rettungsschirm wurde das noch deutlicher. Obwohl den Abgeordneten bis zuletzt entscheidende Informationen vorenthalten wurden und die wenigsten überblickten, was sie binnen Stunden entscheiden sollten, beugten sie sich dem Druck der Finanzbranche, des Internationalen Währungsfonds (IWF), der EU-Gremien und der Bundesregierung.

Abermals musste das Bundesverfassungsgericht den Parlamentariern ihre Rechte und Pflichten erklären.

Doch während die Parlamente in Deutschland und Frankreich nur ausgetrickst werden und sich willig austricksen lassen, bestimmen in anderen EU-Ländern IWF und EU direkt, was die Parlamente zu tun und zu unterlassen haben. Ob Griechenland die Mehrwertsteuer erhöhen muss, ob Italien das Renteneintrittsalter senken oder Portugal die Staatsunternehmen privatisieren muss - das entscheiden nicht die gewählten Volksvertreter, sondern die Finanzexperten und Protektoratsverwalter der EU.

Auf das angeblich vornehmste Privileg des Parlaments, die Budgethoheit, verzichten sie ohne ein Wort der Klage. Ja, die nationalen Parlamente scheinen heute sogar Spaß daran zu finden, sich selbst zu entmannen.

Die "Schuldenbremse", die überall in die nationalen Verfassungen eingebaut werden soll, bedeutet ja nichts anderes als die Preisgabe der parlamentarischen Budgethoheit. In Zukunft wird über die Höhe der nationalen Haushalte nicht mehr im Parlament, sondern vor Gericht oder in EU-Gremien entschieden.

Die Parlamente geben mit ihrer Selbstentmachtung zu verstehen, dass sie noch nicht einmal erkannt haben, welche Verantwortung mit ihrer Tätigkeit verbunden wäre, wenn sie denn bereit wären, sie zu tragen. Sie sind völlig damit zufrieden, wenn sie so weiter wursteln können wie bisher.

Ein bisschen weniger Verantwortung ist gar nicht mal so schlecht. Das entlastet ja auch. Hauptsache die Versorgung bleibt gleich oder wird vielleicht sogar ein bisschen angehoben.

Die Strukturen haben sich von Legislaturperiode zu Legislaturperiode verfestigt und verhärtet. Die Oligarchen petrifizieren ihre Macht. Ein deutliches Zeichen, dass eine Besserung der Verhältnisse nicht kommen wird und alles nur noch schlimmer kommt.

Im August 2011 formulierte der Journalist Hans-Ulrich Jörges, selbst das "landläufige Bild von der Herrschaft einer abgelösten Politiker- und Parteienkaste über das Volk" stimme nicht mehr5:

Der Verfall der Demokratie, die schleichende Aushöhlung der Verfassung durch eine deprimierende Praxis, ist längst zur Herrschaft auch über die Parteien und, ungleich verheerender, über das Parlament geworden.

Und er schreibt weiter:

Verfassungs- und demokratiewidriges Regieren zieht sich als kennzeichnendes Element durch den politischen Alltag… An Parlament und Partei vorbei wurden schließlich die diversen Euro-Rettungsaktionen inszeniert. Und als Kritik aufkam am Panzerexport nach Saudi-Arabien, verkündete Fraktionschef Volker Kauder, in Treue zur Kanzlerin, die Selbstentmachtung: Das Parlament, der demokratische Souverän, habe keine Mitsprache.…

Nur noch sechs Prozent aller Deutschen und eine erschütternde Restgröße von einem Prozent (!) der Ostdeutschen glauben, dass sie die Politik durch Wahlen in starkem Maße mitbestimmen können. Das ist der Offenbarungseid der repräsentativen Demokratie - und ein Epochenbruch der Politik in Deutschland.