Pazifikismus

Thomas Vinterberg und Lars von Trier mögen es in „Dear Wendy“ lieber symbolisch als dogmatisch

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Als hilfreiche Ergänzung zur allgemeinen USA-Skepsis kommt nun Thomas Vinterbergs satirische Tragödie „Dear Wendy“ ins Kino. Zusammen mit Drehbuchautor Lars von Trier hat sich der ehemalige Dogma-Filmer mit Waffenwahnsinn und Staatsgewalt befasst, sowie mit Außenseitertum, Rassismus und dem Weg zur Hölle, der bekanntlich mit guten Absichten gepflastert ist.

Es fängt alles so versonnen und versponnen an. Blöde Klamotten, Gruppenrituale, ein bisschen Verstörung der Normalbürger. Junge Menschen phantasieren sich aus ihrem drögen Heimatort und verschaffen sich dadurch einen besseren Stand im Leben. Ihr Konzept ist eine etwas widersinnige Art von „Pazifikismus“, wie Huey es nennt, die aber derzeit weltweit von verschiedenen Regierungen markiert wird.

Auch Dick und Freddie haben es herausgefunden: Man fühlt sich einfach besser mit einer Waffe in der Tasche. Dabei sind die beiden keineswegs gewalttätig, sondern nur schüchternen Spacken. Anstatt, wie alle anderen, in der Mine ihres kleinen Heimatortes zu arbeiten, haben sie einen besser beleuchteten Ausweichjob im Dorfladen gefunden. Sie suchen sich ein paar „andere, die es nötig haben“: Den behinderten Huey und seinen Bruder, der immer verprügelt wird, weil er der Bruder von dem Behinderten ist. Und Susan, das einzige erreichbare Mädchen, das im Nebenladen auf Busenwuchs wartet. Diese fünf „Dandies“ hören längst vergessene Zombie-Platten, zelebrieren Waffenkulte und stellen Clubregeln auf, die die öffentliche Verwendung dieser Waffen verbieten. „Ein soziales Experiment“ nennen sie das Projekt, können dessen Nutzen vor der Außenwelt aber schwer glaubhaft machen. Sebastian zum Beispiel, der einzige Schwarze, dem die Ehre der Aufnahme zuteil wird, mag nicht in die angemessene Bewunderung verfallen: „Ihr seid alle total verrückt.“

Die Geschichte wird als Brief erzählt und ist vielleicht schon deswegen etwas papieren. Doch hat es ihr sicher gut getan, nicht von ihrem Autor Lars von Trier, sondern von dessen weniger Theorie-versessenen Landsmann Vinterberg verfilmt zu werden. Dieser hat erst mal alle Hauptfiguren deutlich verjüngt, was den Eindruck einer Versuchsanordnung zumindest eine Filmstunde lang verwischen kann. So funktioniert „Dear Wendy“ (übrigens alles andere als ein Dogma-Film) über weite Strecken als Kleinstadt-Märchen über Schwarmgeisterei, Grenzüberschreitung und Erwachsenwerden. Dick und seine Freunde sind mehr als von Triers Spielfiguren im Dienste der Weltenerklärung, sondern ausgesprochen lebendig, was auch an den famosen Schauspielern liegt. Umso heftiger fällt dann auch die Eskalation und somit die Umwandlung des Jugendfilms zur großen Symbolhuberei aus, wenn der niedliche Cliquen-Plan, einer alten Frau über die Straße zu helfen, vollends aus dem Ruder läuft. Dazu ertönt „Glory, glory Hallelujah!“

Allerlei Themenkomplexe werden da satirisch bis symbolisch angedeutet, angetippt oder ausgewalzt: Der selbstherrliche Pazifistenführer Dick; die panische Angst des jüdischen Händlers vor einem Überfall; der junge, härter gesottene Schwarze, der die Clique begrinst; der Joviales quatschende Provinzbulle; die schwarze Mama, die sich keineswegs so leicht über die Straße helfen lässt; und schließlich Marshall Walker, der als polternde Autorität behauptet, die Lage im Griff zu haben. Nach dem Film besteht die Möglichkeit, Fragen an sich selbst zu richten.

Die beiden federführenden Dänen dürften bei ihrer Arbeit allerdings auch an den Kopenhagener Hippie-Stadtteil Christiania gedacht haben. Dort wurde ebenfalls einst ein „soziales Experiment“ ausgerufen. Der „Freistaat Christiania“ wurde zur Parallelgesellschaft, sonnte sich mitunter in der eigenen Gutheit und bekam es doch mit gewalttätigen Auswüchsen, harter Drogenkriminalität und schließlich mit tumber Staatsgewalt zu tun. „Dear Wendy“ ließe noch viele solcher Assoziationen zu. Wegen seines Waffenthemas wird der Film aber lieber ausschließlich als Amerika-Parabel ausgerufen. Ist ja für uns Europäer ja auch bequemer.