Petitionen sind immer Katalysatoren für Themen

Seite 4: "Petitionen sind Symptombekämpfung"

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Als Agendasetting sind Sammelpetitionen sicherlich wunderbar. Die spannende Frage bleibt, wie es danach demokratisch weitergeht, nachdem das Thema gesetzt ist. Wenn sich die durchsetzen, die die beste Lobbyarbeit machen, ist das nicht demokratisch.

Jörg Mitzlaff: Die Alternative ist eben noch nicht da. Die "aleatorische Demokratie", die ich mit einem gewissen Interesse beobachte, muss erstmal an ihrem Namen arbeiten, denn den kann ja niemand aussprechen.

Wohingegen "parlamentarisch-repräsentative Demokratie" flutscht...

Jörg Mitzlaff: Fürs Marketing wäre ein gängiger Name sicherlich gut. Und viele der neuen Partizipationsideen sind noch nicht skalierbar. Planungszellen-Verfahren sind extrem teuer und nur für kleine Einsätze zu gebrauchen, das lässt sich nicht auf die Größe Deutschlands hochskalieren.

Der Bundestag kostet derzeit eine Milliarde Euro pro Jahr. Dafür kann man sehr viele Bürgerparlamente einberufen. Außerdem sagen doch inzwischen selbst große Wirtschaftsunternehmen, es sei viel günstiger, vor einem Projekt die Bürger zu beteiligen, als hinterher mit den Protesten und Fehlentwicklungen umgehen zu müssen.

Jörg Mitzlaff: Leider fällt es psychologisch schwerer, am Anfang freiwillig Geld auszugeben, anstatt hinterher notgedrungen zur Schadensbegrenzung.

Die Bürger können eben über Sachfragen nicht entscheiden, und schon gar nicht über Grundsatzfragen. Die Staatsausgaben sind in Deutschland von 732 Milliarden Euro im Jahr 1991 auf 1,438 Billionen Euro im Jahr 2017 gestiegen. Aber die Grundfrage, ob mal irgendwann Schluss ist mit dem Staatswachstum, mit dem Immer- mehr-Nehmen, Immer-mehr-Regeln, Immer-mehr-Bauen - die wird nicht gestellt, da war auch völlig egal, welche Parteien die Regierung gestellt haben. Denn jede Lobbygruppe - bis auf den Steuerzahlerbund vielleicht - will irgendwelche Staatsausgaben für sich haben. Jedes Wahlprogramm und viele Petitionen fordern hier noch mehr und da noch mehr und dort noch mehr.

Jörg Mitzlaff: Dass Verwaltungen effektiver werden sollen, ist doch auch ständig auf der Agenda. Es fehlt sicherlich noch, dass sie sich selbst auch stärker in Frage stellen, dass sie auch mal schrumpfen können. Da muss noch etwas Dreh zu mehr Serviceverständnis hin, Dienstleister des Volkes zu sein.

Kann uns da eine Petition weiterhelfen?

Jörg Mitzlaff: Petitionen sind Symptombekämpfung. Sie politisieren Menschen sehr niederschwellig. Das öffnet jetzt das Zeitfenster, weitergehende Modelle zu finden. Und da sind wirklich wir Bürger gefordert zu zeigen, dass eine andere Form der Mitbestimmung wirklich funktioniert, skalierbar funktioniert. Das wird nicht die Bundeszentrale für politische Bildung organisieren, da müssen schon die Bürger selbst aktiv werden. Dann wird das von ganz alleine überzeugen und bestehende Machtverhältnisse ablösen.

TP: Ganz friedlich und reibungslos...?

Jörg Mitzlaff: Natürlich. Einfach weil tatsächlich vieles heute sehr absurd ist. Viele politische Inszenierungen, der Fraktionszwang, der Personenkult - das ist doch für die meisten Bürger nur noch Theater. Und irgendwann ist das so absurd, dass alle nach etwas Neuem suchen. Das muss aber dann auch funktionieren.

Gibt es Petitionen zur Demokratiereform?

Jörg Mitzlaff: Das interessiert zu wenige Menschen. Der Leidensdruck ist insgesamt wohl noch nicht groß genug. Man kann auf Einzelprobleme hinweisen, etwa auf Behördenwillkür. Und da sind Petitionen ein gutes Instrument, um Menschen zu politisieren.

Es geht im Moment sogar recht gut voran. Vor fünf Jahren hat doch mit Zufallsdemokratie überhaupt niemand etwas anfangen können. Da sind wir heute schon wesentlich weiter, da wird ganz ernsthaft mit Bürgerräten gesprochen. Da ist aber noch viel zu entwickeln: Wahlen sind transparent, anonym, gerecht, das ist schon ein sehr hoher Wert. Sie sind einfach und dezentral zu handhaben, jeder Dorfverein kann eine Vorstandswahl organisieren. Soviel Vertrauen müssen sich neue Instrumente erstmal erarbeiten. Ich würde nicht irgendeiner Firma vertrauen, die unsere Stellvertreter irgendwie auswürfelt.

Es liegen so viele ungelöste Probleme an, dass wir die unmöglich alle durch die öffentliche Debatte schicken können. Und viele berechtigte Anliegen eignen sich nicht für Sammelpetitionen, die brauchen einen anderen Weg, um fürs Agendasetting überhaupt eine Rolle spielen zu können. Nur weil eine Petition keine Unterschriften bekommt, muss sie ja nicht unsinnig sein. Petitionsplattformen verzerren das, weil ständige Selbstselektion stattfindet. Und wir haben danach kaum Kontrollmöglichkeiten, was die Behörden aus den Bürgerprotesten machen.

Jörg Mitzlaff: Die meisten Menschen vertrauen den Experten, den Behörden. Beispiel Informationsfreiheitsgesetz. Jeder könnte jetzt alles herausfinden, wie Entscheidungen zustande gekommen sind - aber kaum einer nutzt das Instrument. Die meisten Menschen wollen es nicht wissen.

Sie wollen nicht ehrenamtlich Politiker sein oder ehrenamtlich Behörden kontrollieren. Deshalb kriegen wir so nicht die Zukunftsfragen geregelt.

Jörg Mitzlaff: Deshalb funktionieren Petitionen. Die Leute sollen sich als Teil der Gesellschaft sehen, wie im alten Athen immer in die Politik eingebunden sein, aktiv werden. Petitionen sind ein Schritt zur Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Petitionen brauchen mehr Wirksamkeit, und sie entfalten mehr Wirksamkeit, wenn mehr Menschen Petitionen starten.

Hinweis: Diese Interviewfassung basiert auf einem Gespräch für den Podcast "?Macht:Los!"

Weitere Gespräche zur Demokratieentwicklung:

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