Petitionen sind immer Katalysatoren für Themen

Open Petition- Logo. Bildf: T. Rieg

Ein Gespräch über die demokratische Rolle von "Sammelbittschriften" an die Politik mit Jörg Mitzlaff, Geschäftsführer der gemeinnützigen Plattform openPetition.de

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.
Seit bald zehn Jahren gibt es "openPetition.de". Wie kam es dazu, was war die Motivation, diese Welt mit einer Petitionsplattform besser zu machen?
Jörg Mitzlaff: Tatsächlich ist das Vorbild die e-Petition des Bundestags. Da gab es ein paar große Petitionen am Anfang, unter anderem eine Hebammen-Petition. Und meine Frau ist Hebamme. Der Prozess, wie diese Petition gesammelt wurde, hat mich stark frustriert. Das war nicht, was ich mir unter Internet-Beteiligung vorgestellt hatte.
Es ging um ein konkretes Anliegen, vermutlich die Versicherungspflicht für Hebammen?
Jörg Mitzlaff: Genau, es ging darum, dass die Haftpflichtsumme für freie Hebammen so hoch wurde, dass die einfach nicht mehr arbeiten konnten, sie hätten quasi nur noch für die Versicherungszahlungen gearbeitet. Das war also ein Klassiker: persönliche Betroffenheit. Sie bringt einen dazu aktiv zu werden. Und ich hatte zufällig auch gerade etwas freie Zeit, ein Sabbatical. Damals ging es viel um die Piratenpartei, um "Liquid Democracy" und ähnliches. Es gab eine gewisse Aufbruchstimmung, und da habe ich eine eigene Plattform gebaut, wie ich sie mir aus Nutzersicht wünsche.
Was sind die grundlegenden Unterschiede zum offiziellen Angebot der Bundestagsverwaltung?
Jörg Mitzlaff: Interessanterweise gibt es Aspekte, die sie inzwischen übernommen haben - allein das ist schon eine Wirkung, die ich gut finde. Das offizielle Angebot beim Bundestag ist nichtsdestotrotz zu wenig transparent, und langsam. Man weiß nie, wann die eigene Petition veröffentlicht wird oder warum das nicht geschieht, Die Unterschriftenhürden waren am Anfang sehr hoch, man musste sich erst umständlich registrieren. Man musste immer öffentlich unterschreiben, das ging nicht nach außen hin anonym. Das ist ja bei sensiblen Themen durchaus eine Abschreckung.
Jörg Mitzlaff
Da hat der Bundestag inzwischen nachgebessert. Ausreichend?
Jörg Mitzlaff: Der Petitionsausschuss (siehe aktuellen Jahresbericht) kann immer noch mit einfacher Mehrheit die Veröffentlichung einer Petition insgesamt ablehnen. Und da auch der Petitionsausschuss nach den Fraktionsstärken im Parlament besetzt wird, können allein die Abgeordneten des Regierungslagers alles ablehnen, was ihnen nicht genehm ist.
Private Plattformen sind dann eine Art Gegenöffentlichkeit, weil sie nicht vom Parlament kontrolliert werden?
Jörg Mitzlaff: Es gibt immer wieder den Fall, dass der Petitionsausschuss ein Anliegen nicht veröffentlichen will, aber wenn es dann auf privaten Plattformen großen Zuspruch findet, dann veröffentlichen sie es doch - allerdings erst, wenn schon darüber entschieden wurde. Es bleibt also die Frage, wie dringlich Petitionen behandelt werden sollten.
Wie ist aktuell das Verhältnis der Bundestagsverwaltung zu openPetition und anderen Anbietern?
Jörg Mitzlaff: Wir sind im ständigen Austausch. Wir reichen inzwischen auch die Petitionen ein, die bei uns eingehen, wenn das der Petent nicht selber macht, entweder in eigenem Namen oder mit Vollmacht. Dann sind wir quasi eine Zwischenstation und spielen die Reaktionen der Bundestagsverwaltung oder des Petitionsausschusses zurück an den Petenten und die Unterstützer.
Und da gehört openPetition aus Sicht der Politik nicht zu so etwas wie einer "Petitionsindustrie", um mal einen bösen Begriff weiterzuführen?
Jörg Mitzlaff: Als privater Plattform wird uns natürlich unterstellt, dass wir eigene Interessen verfolgen. Und tatsächlich sind ja nicht alle Plattformen gemeinnützig. openPetition ist aber eine gemeinnützige Gesellschaft, wir arbeiten nicht gewinnorientiert. Wir machen das wirklich, weil wir glauben, dass das ein Weg ist hin zu einer moderneren und besseren Demokratie. Es ist nur ein erster Schritt, aber irgendwo muss man anfangen. Von daher: Wir sind in ständigem Kontakt, auch mit den Petitionsausschüssen auf Landesebene, dazu haben wir unser Team erweitert.
Was sind da gerade die Themen?
Jörg Mitzlaff: Wir wollen den Einreichungsprozess erleichtern. Bisher geht noch alles per Brief, wir scannen dann Briefe ein und mailen sie an die Petenten weiter - das ist nicht mehr zeitgemäß. Muss die Vollmacht auf Papier vorliegen? Solche banalen Sachen müssen wir klären, damit die Petitionen auch die Entscheider erreichen. Es gibt Plattformen, die machen nur Kampagnen, viel Wind, aber am Ende erreicht das dann nicht die Politik, an die Petitionen adressiert sind.

Massenhafte Willensbekundungen der Bürger via Sammelpetition müssen in der Politik mehr Gehör finden

Sind Petitionen, für die Unterstützerunterschriften gesammelt werden, nicht einfach ein schlechter Ersatz für direkte Demokratie, die wir nicht haben?
Jörg Mitzlaff: Tatsächlich sind Sammelpetitionen auch ein neuer Weg, Initiativrecht der Bürger in die Parlamente zu bekommen. In den Bundesländern gibt es ja Volksinitiativen und Volksentscheide, aber das ist mit hohen Hürden und hohen Kosten verbunden. Da ist es einfacher, mit einer Online-Petition zu beginnen und zu schauen, ob das Thema die Leute interessiert. Oft ist eine Petition ein Weg überhaupt kennenzulernen, wie Politik funktioniert und in einen Dialog zu kommen. Manchmal braucht es keine große direkte Demokratie, wenn man vorher schon alles klären kann.
Petitionen sind doch Bittschriften, der einzelne Bürger wendet sich an die Herrschenden, wenn er mit einer Behördenentscheidung nicht einverstanden ist, sich ungerecht behandelt fühlt?
Jörg Mitzlaff: Im klassischen Sinne ist eine Petition genau das, und viele Petitionsausschüsse sehen das leider auch noch so. Sie erkennen nicht die Möglichkeiten, die die neuen Sammelpetitionen bringen. Das ist ja eine ganz neue Art der Beteiligung, nicht mehr einfach eine Beschwerde, Fürbitte oder Eingabe, wie es in der DDR hieß. Massenhafte Willensbekundungen der Bürger via Sammelpetition brauchen eine andere Gewichtung und müssen in der Politik mehr Gehör finden. Dafür haben wir ein Angebot gemacht mit unserem Petitionsrecht 4.0. Da gibt es auch Resonanz, so dass ich hoffe, wir kommen da weiter.
Was bringen Petitionen - außer, dass man schon mal gehört wurde? Wo hat der Bundestag gesagt: "Oh wir haben geirrt, Danke, liebe Bürger, für eure Hinweise"?
Jörg Mitzlaff: Wir sind ja nicht nur im Bundestag aktiv. Die meisten Erfolge gibt es auf kommunaler und regionaler Ebene. Und da gibt es bei uns auf der Plattform mindestens jeden zweiten Tag einen Erfolg, also dass ein Anliegen umgesetzt wurde. Den Anteil, den dabei die Online-Petition hat, kann man natürlich nicht genau beziffern. Aber Online-Petitionen spielen eine zunehmende Rolle. Für uns ist es auch ein Erfolg, wenn es einen Dialog gab, ein Anliegen wahrgenommen wurde.
Sind Petitionen nicht egoistische Anliegen? Ich will keine Parkgebühren bezahlen, also mache ich eine Petition. Oder ich unterstütze ein einzelnes Anliegen, ohne dass ich Ahnung habe, ob das so wirklich richtig ist. Der Erfolg einer Petition sagt ja nichts über ihre Berechtigung und Richtigkeit. Macht sie das als Korrektiv zu anderen demokratischen Verfahren nicht problematisch?
Jörg Mitzlaff: Wir machen keine Vorschriften, wie das Instrument der Petition zu nutzen ist. Einzelschicksale sind schon ein häufiges Thema. Aber eben auch politische Forderungen. Tatsachenbehauptungen in Petitionen müssen gut belegt sein, da sind wir sehr streng.
Gerade Sammelpetitionen sind Lobbyismus.
Jörg Mitzlaff: Auf jeden Fall, sie sind Bürgerlobbyismus. Das sagen wir auch so.

"Große Petitionen sind immer Katalysatoren für Themen"

Aber fehlt diesem Bürgerlobbyismus nicht der Dialog? Eine Petition hat ein konkretes Anliegen, möchte ein Gesetz oder eine bestimmte Entscheidung. Sie macht sich ja nicht auf den Weg zu suchen, was am besten sein könnte. Sie will mit einer Idee, einer Forderung, einem Protest durchkommen. Gerade wird wieder gegen das Silvesterfeuerwerk geschossen, auf openPetition mit 50.000 Unterschriften, auf Change.org mit über 100.000. Aber selbst wenn es Millionen Unterzeichner gäbe, bleibt die Forderung doch Egoismus: Ich brauche die Raketen nicht, ich erhebe mich über die ganzen Dumpfbacken, die da rumknallen, Dreck und Lärm machen, Geld verbrennen und Tiere verängstigen. Aber die Grundfrage wird nicht diskutiert. Die Menge der Unterstützer soll Begründung genug sein. Die Böllerwerfer kommen praktisch gar nicht zu Wort. Es gibt keinen demokratischen Aushandlungsprozess und vor allem keine Prüfung der Legitimität. Damit werden die Petitionsunterzeichner wahrgenommen, anders als die große Mehrheit, die eben nicht organisiert ist.
Jörg Mitzlaff: Große Petitionen sind immer Katalysatoren für Themen. Sie zeigen auf, wo ein Problem besteht und sorgen für eine öffentliche Debatte. Es ist also gar nicht entscheidend, ob es eine Gegenpetition gibt, sondern es entsteht ein öffentlicher Diskurs. Und wenn jetzt beim Böllerverbot nicht genügend aufschreien, dass sie das nicht wollen, dann ist vielleicht der Konsens in der Gesellschaft schon vorhanden.
Wenn es einen Konsens gäbe, würde ja keine Silvesterrakete mehr steigen.
Jörg Mitzlaff: Dass noch geböllert wird, kann viele Ursachen haben, weil man es schon immer gemacht hat - es muss ja nicht gut sein.
Das Böllerverbot also zur Bekehrung des Böllermanns? So wie die Rauchverbote und Warnungen den Raucher bekehren sollen, von oben verordnet? Das ist doch kein demokratischer Ansatz. Einfach eine Mehrheit zu organisieren, die einer Minderheit irgendetwas vorschreibt bleibt Willkür.
Jörg Mitzlaff: Ich bin ein liberaler Mensch, ich bin für so wenige Verbote wie möglich. Aber wer böllern will, der muss dafür auch eintreten, wenn darüber diskutiert wird.

"Petitionen können die Gesellschaft spalten"

Nein. Dann kann jederzeit eine kleine Gruppe alle zwingen, sich zu irgendetwas zu verhalten, zu äußern, aktiv zu werden - und wenn sie es nicht tun, wird über sie bestimmt. Es geht hier ja gerade nicht um unser beider Meinung, es geht nur um den demokratischen Prozess. 150.000 Unterschriften als Argument für eine Debatte: Natürlich. Aber wenn die mit demokratischer Vernunft geführt wird, ist schnell klar, dass Egoismus gerade nicht demokratisch ist. Eine Demokratie darf nur dann etwas verbieten, wenn es nicht anders geht, wenn ohne diese Vorschrift ein faires Zusammenleben nicht mehr möglich ist. Aber das ist ja beim Silvesterfeuerwerk wirklich albern. Das sind wenige Stunden im Jahr, die müssen die Gegner halt mal erdulden, die sich ja schon an 364 Tage im Jahr über ein Feuerwerksverbot freuen dürfen.
Jörg Mitzlaff: Das ist schon sehr philosophisch, aber warum nicht. Nur: Am Ende entscheidet immer noch ein gewähltes Parlament. Die Petition oder die Demonstration auf der Straße machen vielleicht das Agendasetting, aber die Entscheidung trifft das Parlament. Hier wird hoffentlich auf die Verhältnismäßigkeit in der Wahl der Mittel geachtet, hier entstehen die Kompromisse für das, "was möglich ist".
Am Ende setzt sich der oder das Stärkere durch, ohne Prüfung der demokratischen Qualität.
Jörg Mitzlaff: Petitionen können die Gesellschaft spalten, diese Gefahr sehe ich durchaus. Es kann zu Populismus führen: Wer am lautesten schreit, der gewinnt. Dieser Gefahr versuchen wir zu begegnen. Wir machen z.B. transparent, woher Unterstützer kommen, ob die alle aus einem E-Mail-Verteiler stammen oder ob es ein organisches Wachstum gibt. Wir wollen auch mehr Diskurs auf unserer Plattform.
Es wird nicht allzu oft vorkommen, dass ein Initiator seine Petition im Laufe der Debatte abbricht und sagt: "ihr habt mich überzeugt, meine Forderung war Quatsch".
Jörg Mitzlaff: Es ist schon möglich, den Inhalt einer Petition zu ändern, solange der Wesensgehalt erhalten bleibt. Man kann eine Forderung rausnehmen, die zu krass war, oder einen anderen Schwerpunkt setzen, da gibt es schon Deliberation während der Sammlungsphase.

"Es braucht in der Politik einen Kulturwandel"

openPetition tritt dafür ein, das Petitionswesen noch wirksamer zu machen?
Jörg Mitzlaff: Es geht ein Stück weit um einen Kulturwandel. Meiner Ansicht nach muss es zum Beispiel ein Recht auf Bürger-Anhörungen und auf begründete Antworten geben. Bisher gibt es nur ein Recht auf Befassung und einen Bescheid ohne Begründung.
Es bleibt aber der Bürger Bittsteller gegenüber der Macht. Man könnte es ja auch ganz anders sehen: Wenn Politiker nicht Herrscher, sondern Servicekräfte sind, Dienstleister. Dann bekäme die Petition eine ganz andere Rolle.
Jörg Mitzlaff: Man kann ja nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen. Es braucht in der Politik einen Kulturwandel. Dazu gehört, auf die Bürger zu hören, sich auch zwischen den Wahlen für sie zu interessieren, und nicht nur den eigenen Koalitionsvertrag stur abzuarbeiten. Wenn die Politik mal falsch abgebogen ist, können wir nicht bis zur nächsten Wahl warten oder bis sich eine Partei selbst zerlegt hat. Da passiert zwischendurch zu viel, da geht zu viel kaputt. Das muss optimiert werden.
Sind Sammelpetitionen inzwischen ein normales politisches Beteiligungsinstrument und so wirksam, wie das Engagement in einer Partei zum Beispiel?
Jörg Mitzlaff: Petitionen sind Teil des politischen Prozesses, das sehe ich ständig, und sonst würde ich openPetition auch nicht betreiben. Viele Gremien empfinden es auch als Anerkennung, wenn bei ihnen Petitionen eingereicht werden. Wenn es die freien, zivilgesellschaftlichen Plattformen für Petitionen nicht gäbe, würde das Instrument ja bis heute nur von einem winzigen Teil der Bevölkerung genutzt werden. Wir haben auch ein Instrument entwickelt, das Städte und Kreise auf ihrer eigenen Website einbinden können, um so den Bürgern eine Chance zur Beteiligung zu geben. Dafür ändern Kommen auch ihre Satzungen, und das ist ein Stück weit Kulturwandel.
Es gibt viele Themen, für die es in der Bevölkerung eine Mehrheit gibt und die trotzdem nicht in der Politik abgebildet sind.
Jörg Mitzlaff: Ein Klassiker sind die Hanf-Petitionen, die kommen ständig wieder. Die brauchen einfach Geduld. Es kann sich nicht von heute auf morgen etwas Grundlegendes ändern. Da müssen dicke Bretter gebohrt werden.
Es ist aber doch die Politik selbst, die diese dicken Bretter hinlegt.
Jörg Mitzlaff: Es ist auch erstmal gut, den Status quo zu schützen und nicht alles jederzeit über den Haufen zu werfen.
Deshalb ist es vielleicht keine philosophische Frage, sondern eine nach den Grundlagen, was die Politik überhaupt bestimmen darf. Im Grundgesetz steht die freie Entfaltung der Persönlichkeit, das entspricht der alten Behauptung in der französischen Revolution: frei und gleich an Rechten geboren seien die Menschen. "Die Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet: Die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat also nur die Grenzen, die den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuss ebendieser Rechte sichern." (Artikel 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789) Doch tatsächlich kann die Politik Freiheit beschränken, wie sie will. Demokratisch ist ein Cannabis-Verbot nie zu rechtfertigen. Die Politik ge- und verbietet, was ihr beliebt, sogar den professionellen Suizid hat sie unter Strafe gestellt, übrigens nicht nur gegen das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen, sondern auch gegen die klare Mehrheit in der Bevölkerung.
Jörg Mitzlaff: Inhaltlich will ich da gar nicht diskutieren. Es gibt ja auch andere Beispiele: Die Ehe für alle wurde plötzlich entschieden, weil die Politik den Kulturwandel in der Bevölkerung nachvollzogen hat.
Aber auch hier haben wir doch Willkür. Die Ehe für alle ist immer noch auf zwei Personen beschränkt. Warum darf ich nicht mehrere Menschen heiraten? Warum wurde nicht grundsätzlich das antiquierte Institut der Ehe infrage gestellt? Der Staat hätte ja auch sagen können, er hält sich da mal ganz fortschrittlich raus.
Jörg Mitzlaff: Politik geht halt in kleinen Schritten. Wir schleppen doch immer auch eine lange Tradition oder kulturelle Erfahrung mit. Das kann man nicht einfach wegwischen. Es ist manchmal auch gut, dass es dauert und nicht ständig Umwälzungen kommen.

"Man darf auch die Gesellschaft nicht überfordern"

Ist es nicht unerträglich, dass wir so vieles als schlecht und falsch erkannt haben, aber es nicht geändert wird, weil das System so extrem schwerfällig ist? Kein vernünftiger Mensch will tierquälerische Massentierhaltung, aber sie wächst und wächst. Nichtmal die betäubungslose Kastration von Schweinen gibt es bis heute, was wohl ein Inbegriff für das kranke System ist. Kükenschreddern finden alle furchtbar, aber es ist für das Tierschutzgesetz ein vernünftiger Grund, dass Hähne keine Eier legen können und als Söhne von Legehennen auch nicht schnell genug Schlachtgewicht ansetzen. Da helfen selbst keine Petitionen, weil der Egoismus der Agrarindustrie viel stärker ist.
Jörg Mitzlaff: Petitionen ändern nicht das System. Sie helfen gegen die gefühlte und die echte "Ohn-macht", dass die Bürger vier Jahre lang nichts zu sagen haben. Aber damit sind wir sicherlich noch nicht dort, wo wir hinwollen. Es gibt ja auch neue Beteiligungsverfahren, etwa die Bürgerräte per Los, die wesentlich radikaler sind als ein Initiativrecht.
Wie man es auch dreht und schönredete: Es geht um die Machtfrage. Selbst die lautstarken Förderer der Bürgerbeteiligung verhalten sich meist ganz devot gegenüber Berufspolitikern und versichern: "Natürlich bleibt das Primat bei der Politik" etc. - weil auch sie von Politikern abhängig sind. Ein groteskes Bild, über das sich hoffentlich mal spätere Generationen kaputtlachen werden.
Jörg Mitzlaff: Ich bin da nicht so pessimistisch. Das System hat sich doch über lange Zeit bewährt und ist immer weiterentwickelt worden. Es ist immer noch das beste Gesellschaftssystem ...
... weil keine anderen ausprobiert werden.
Jörg Mitzlaff: Alle anderen waren bisher schlechter. Man darf auch die Gesellschaft nicht überfordern. Mit- und Selbstbestimmung, Bürgergremien etc. brauchen auch eine Grundlage. Erstmal wollen die Menschen ihre Grundbedürfnisse erfüllt haben: Grundversorgung, Sicherheit, solche Dinge. Und dann braucht es auch noch eine breite Bildung für mehr Bürgerverantwortung. Das gab es so vor 200 Jahren alles nicht, da hätte direkte Demokratie vermutlich auch gar nichts gebracht und nur großes Chaos verursacht. Jedes demokratische Instrument braucht seine Zeit.
Aber die Macht wurde nie freiwillig abgegeben. Auch simple Formen der Bürgerbeteiligung kommen genau dann zum Einsatz, wenn die Politik ihre Herrschaft gefährdet sieht, bestes Beispiel: Stuttgart 21.
Jörg Mitzlaff: Je absurder ein System irgendwann wird, umso eher wird es sich selbst abschaffen. Und wie die nächste Form dann aussehen wird, da können wir uns als Zivilgesellschaft daran beteiligen.
Die Bürger wollen mehr Sachentscheidungen treffen und nicht mehr einer Partei die Generalvollmacht für alles erteilen, vom Fahrradweg bis zum Auslandseinsatz der Bundeswehr.
Jörg Mitzlaff: Die Zeit fordert definitiv mehr Teilhabe, und seit Stuttgart 21 dürfte auch jedem klar sein, dass es nicht mehr ohne Bürger geht. Die Menschen haben inzwischen Bildung und Erziehung zu selbstbewussten Wesen genossen. Sie haben auch die Kapazität, über Politik nachzudenken und sich einzumischen - das war nicht immer so. Parteien sind da nicht das beste Angebot, unter anderem weil die in sich nicht sehr demokratisch organisiert sind. Das Machtgefälle in Parteien ist zu groß. Deshalb gibt es großen Zulauf bei anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen, deren Arbeit wertgeschätzt wird. Auch unter den NGOs gibt es einen Wettbewerb, wie man es besser machen könnte.
Stuttgart21 ist aber auch ein Beispiel für Lobbyismus. Mal ungeachtet von unseren persönlichen Positionen: Es ist ja nicht ganz verwunderlich, dass die Politik klagt, sie bekäme kein Projekt voran, wenn immer alle, die irgendwie davon betroffen sind, so lautstark auf die Barrikaden gehen. Der Bahnhof in Stuttgart ist ja nicht nur eine Frage der Stuttgarter, sondern von allen, die die Bahn nutzen, die Güter auf der Schiene bewegen, die Steuern zahlen, die Zuglärm ausgesetzt sind, kurz: Es betrifft schlicht alle Menschen in Deutschland irgendwie. Aber wer kam beim Schlichtungsgespräch in Stuttgart zu Wort? 14 Lobbyisten und Politiker aus Stuttgart und Umgebung, wahnsinnig repräsentativ.
Jörg Mitzlaff: Das ist tatsächlich noch nicht restlos geklärt, wer die Grundgesamtheit ist, die man beteiligen muss. Nur Betroffene, gerade die Nicht-Betroffenen? Aber es gibt nicht nur Dagegen-Petitionen bei uns, es gibt auch viele die meinen, wie es besser geht.
Aber es haben die kleinen, konkreten Petitionen die größte Chance?
Jörg Mitzlaff: Die Petitionen für den Weltfrieden gibt es natürlich auch immer wieder, aber die verändern tatsächlich wenig. Das sind mehr Appelle an sich selbst und die Mitmenschen.
Den Weltfrieden zu fordern, ist ein legitimes Petitionsanliegen, oder? Der Petent muss ja nicht schon die Lösung parat haben, da dürfen sich dann schon mal die Politiker und Bürokraten bemühen.
Jörg Mitzlaff: Unsere Plattform funktioniert am besten fürs Agendasetting. Weltfrieden ist nicht wirklich neu.
Was ist denn wirklich neu?
Jörg Mitzlaff: Wir haben 5.000 Petitionen jedes Jahr. Bildungsthemen sind gerade groß, was ist Betreuung von Kindern wert, Straßenausbausatzung...
Ist aber doch auch nicht neu - es geht um Egoismus: Ich will nicht zahlen, andere sollen zahlen.
Jörg Mitzlaff: Ich habe selber eine Petition zum Lehrermangel an unserer Schule gestartet. Dabei hat sich herausgestellt, dass die Schulämter durch Zusammenlegungen gar nicht mehr wussten, was vor Ort los ist. Da hat eine solche Petition einen Anstoß für Veränderungen gegeben.
Es bleibt aber stets Zufall, wer an diesen Veränderungen beteiligt wird.
Jörg Mitzlaff: Wir haben einen Wehrbeauftragten, einen Datenschutzbeauftragten, aber es fehlt tatsächlich ein Demokratiebeauftragter, eine Institution, die mit eigenen Ressourcen diese Metaebene im Blick hat. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat witzigerweise Kriterien zur Demokratieförderung in anderen Ländern, aber für das eigene Land fehlt uns sowas.
Es gibt Projekte wie "Demokratie leben", die vor allem die Jugend ansprechen und vom Extremismus abhalten soll. Aber letztlich geht es darum, die Jugendlichen im System zu halten und sie kompatibel zu diesem System zu machen, nicht umgekehrt das System irgendwie passender zu gestalten.
Jörg Mitzlaff: Das stimmt. Viele Bildungsprogramme erklären den Status quo, fördern jedoch kaum das Nachdenken über Weiterentwicklungen. Aber dafür sind wir ja dann da.

"Petitionen sind Symptombekämpfung"

Als Agendasetting sind Sammelpetitionen sicherlich wunderbar. Die spannende Frage bleibt, wie es danach demokratisch weitergeht, nachdem das Thema gesetzt ist. Wenn sich die durchsetzen, die die beste Lobbyarbeit machen, ist das nicht demokratisch.
Jörg Mitzlaff: Die Alternative ist eben noch nicht da. Die "aleatorische Demokratie", die ich mit einem gewissen Interesse beobachte, muss erstmal an ihrem Namen arbeiten, denn den kann ja niemand aussprechen.
Wohingegen "parlamentarisch-repräsentative Demokratie" flutscht...
Jörg Mitzlaff: Fürs Marketing wäre ein gängiger Name sicherlich gut. Und viele der neuen Partizipationsideen sind noch nicht skalierbar. Planungszellen-Verfahren sind extrem teuer und nur für kleine Einsätze zu gebrauchen, das lässt sich nicht auf die Größe Deutschlands hochskalieren.
Der Bundestag kostet derzeit eine Milliarde Euro pro Jahr. Dafür kann man sehr viele Bürgerparlamente einberufen. Außerdem sagen doch inzwischen selbst große Wirtschaftsunternehmen, es sei viel günstiger, vor einem Projekt die Bürger zu beteiligen, als hinterher mit den Protesten und Fehlentwicklungen umgehen zu müssen.
Jörg Mitzlaff: Leider fällt es psychologisch schwerer, am Anfang freiwillig Geld auszugeben, anstatt hinterher notgedrungen zur Schadensbegrenzung.
Die Bürger können eben über Sachfragen nicht entscheiden, und schon gar nicht über Grundsatzfragen. Die Staatsausgaben sind in Deutschland von 732 Milliarden Euro im Jahr 1991 auf 1,438 Billionen Euro im Jahr 2017 gestiegen. Aber die Grundfrage, ob mal irgendwann Schluss ist mit dem Staatswachstum, mit dem Immer- mehr-Nehmen, Immer-mehr-Regeln, Immer-mehr-Bauen - die wird nicht gestellt, da war auch völlig egal, welche Parteien die Regierung gestellt haben. Denn jede Lobbygruppe - bis auf den Steuerzahlerbund vielleicht - will irgendwelche Staatsausgaben für sich haben. Jedes Wahlprogramm und viele Petitionen fordern hier noch mehr und da noch mehr und dort noch mehr.
Jörg Mitzlaff: Dass Verwaltungen effektiver werden sollen, ist doch auch ständig auf der Agenda. Es fehlt sicherlich noch, dass sie sich selbst auch stärker in Frage stellen, dass sie auch mal schrumpfen können. Da muss noch etwas Dreh zu mehr Serviceverständnis hin, Dienstleister des Volkes zu sein.
Kann uns da eine Petition weiterhelfen?
Jörg Mitzlaff: Petitionen sind Symptombekämpfung. Sie politisieren Menschen sehr niederschwellig. Das öffnet jetzt das Zeitfenster, weitergehende Modelle zu finden. Und da sind wirklich wir Bürger gefordert zu zeigen, dass eine andere Form der Mitbestimmung wirklich funktioniert, skalierbar funktioniert. Das wird nicht die Bundeszentrale für politische Bildung organisieren, da müssen schon die Bürger selbst aktiv werden. Dann wird das von ganz alleine überzeugen und bestehende Machtverhältnisse ablösen.
TP: Ganz friedlich und reibungslos...?
Jörg Mitzlaff: Natürlich. Einfach weil tatsächlich vieles heute sehr absurd ist. Viele politische Inszenierungen, der Fraktionszwang, der Personenkult - das ist doch für die meisten Bürger nur noch Theater. Und irgendwann ist das so absurd, dass alle nach etwas Neuem suchen. Das muss aber dann auch funktionieren.
Gibt es Petitionen zur Demokratiereform?
Jörg Mitzlaff: Das interessiert zu wenige Menschen. Der Leidensdruck ist insgesamt wohl noch nicht groß genug. Man kann auf Einzelprobleme hinweisen, etwa auf Behördenwillkür. Und da sind Petitionen ein gutes Instrument, um Menschen zu politisieren.
Es geht im Moment sogar recht gut voran. Vor fünf Jahren hat doch mit Zufallsdemokratie überhaupt niemand etwas anfangen können. Da sind wir heute schon wesentlich weiter, da wird ganz ernsthaft mit Bürgerräten gesprochen. Da ist aber noch viel zu entwickeln: Wahlen sind transparent, anonym, gerecht, das ist schon ein sehr hoher Wert. Sie sind einfach und dezentral zu handhaben, jeder Dorfverein kann eine Vorstandswahl organisieren. Soviel Vertrauen müssen sich neue Instrumente erstmal erarbeiten. Ich würde nicht irgendeiner Firma vertrauen, die unsere Stellvertreter irgendwie auswürfelt.
Es liegen so viele ungelöste Probleme an, dass wir die unmöglich alle durch die öffentliche Debatte schicken können. Und viele berechtigte Anliegen eignen sich nicht für Sammelpetitionen, die brauchen einen anderen Weg, um fürs Agendasetting überhaupt eine Rolle spielen zu können. Nur weil eine Petition keine Unterschriften bekommt, muss sie ja nicht unsinnig sein. Petitionsplattformen verzerren das, weil ständige Selbstselektion stattfindet. Und wir haben danach kaum Kontrollmöglichkeiten, was die Behörden aus den Bürgerprotesten machen.
Jörg Mitzlaff: Die meisten Menschen vertrauen den Experten, den Behörden. Beispiel Informationsfreiheitsgesetz. Jeder könnte jetzt alles herausfinden, wie Entscheidungen zustande gekommen sind - aber kaum einer nutzt das Instrument. Die meisten Menschen wollen es nicht wissen.
Sie wollen nicht ehrenamtlich Politiker sein oder ehrenamtlich Behörden kontrollieren. Deshalb kriegen wir so nicht die Zukunftsfragen geregelt.
Jörg Mitzlaff: Deshalb funktionieren Petitionen. Die Leute sollen sich als Teil der Gesellschaft sehen, wie im alten Athen immer in die Politik eingebunden sein, aktiv werden. Petitionen sind ein Schritt zur Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Petitionen brauchen mehr Wirksamkeit, und sie entfalten mehr Wirksamkeit, wenn mehr Menschen Petitionen starten.

Hinweis: Diese Interviewfassung basiert auf einem Gespräch für den Podcast "?Macht:Los!"

Weitere Gespräche zur Demokratieentwicklung:

Katharina Hübl und Lilo Cyrus: Politik und Bürger haben eine Kommunikationskrise

Jörg Sommer: Soll man Berufspolitiker durch zufällig ausgeloste Bürger ersetzen?

Simone Orgel und Dominik Schlett: Im Asylstreit müssen die Wähler entscheiden

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.