Petitionen sind immer Katalysatoren für Themen

Seite 3: "Man darf auch die Gesellschaft nicht überfordern"

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Ist es nicht unerträglich, dass wir so vieles als schlecht und falsch erkannt haben, aber es nicht geändert wird, weil das System so extrem schwerfällig ist? Kein vernünftiger Mensch will tierquälerische Massentierhaltung, aber sie wächst und wächst. Nichtmal die betäubungslose Kastration von Schweinen gibt es bis heute, was wohl ein Inbegriff für das kranke System ist. Kükenschreddern finden alle furchtbar, aber es ist für das Tierschutzgesetz ein vernünftiger Grund, dass Hähne keine Eier legen können und als Söhne von Legehennen auch nicht schnell genug Schlachtgewicht ansetzen. Da helfen selbst keine Petitionen, weil der Egoismus der Agrarindustrie viel stärker ist.

Jörg Mitzlaff: Petitionen ändern nicht das System. Sie helfen gegen die gefühlte und die echte "Ohn-macht", dass die Bürger vier Jahre lang nichts zu sagen haben. Aber damit sind wir sicherlich noch nicht dort, wo wir hinwollen. Es gibt ja auch neue Beteiligungsverfahren, etwa die Bürgerräte per Los, die wesentlich radikaler sind als ein Initiativrecht.

Wie man es auch dreht und schönredete: Es geht um die Machtfrage. Selbst die lautstarken Förderer der Bürgerbeteiligung verhalten sich meist ganz devot gegenüber Berufspolitikern und versichern: "Natürlich bleibt das Primat bei der Politik" etc. - weil auch sie von Politikern abhängig sind. Ein groteskes Bild, über das sich hoffentlich mal spätere Generationen kaputtlachen werden.

Jörg Mitzlaff: Ich bin da nicht so pessimistisch. Das System hat sich doch über lange Zeit bewährt und ist immer weiterentwickelt worden. Es ist immer noch das beste Gesellschaftssystem ...

... weil keine anderen ausprobiert werden.

Jörg Mitzlaff: Alle anderen waren bisher schlechter. Man darf auch die Gesellschaft nicht überfordern. Mit- und Selbstbestimmung, Bürgergremien etc. brauchen auch eine Grundlage. Erstmal wollen die Menschen ihre Grundbedürfnisse erfüllt haben: Grundversorgung, Sicherheit, solche Dinge. Und dann braucht es auch noch eine breite Bildung für mehr Bürgerverantwortung. Das gab es so vor 200 Jahren alles nicht, da hätte direkte Demokratie vermutlich auch gar nichts gebracht und nur großes Chaos verursacht. Jedes demokratische Instrument braucht seine Zeit.

Aber die Macht wurde nie freiwillig abgegeben. Auch simple Formen der Bürgerbeteiligung kommen genau dann zum Einsatz, wenn die Politik ihre Herrschaft gefährdet sieht, bestes Beispiel: Stuttgart 21.

Jörg Mitzlaff: Je absurder ein System irgendwann wird, umso eher wird es sich selbst abschaffen. Und wie die nächste Form dann aussehen wird, da können wir uns als Zivilgesellschaft daran beteiligen.

Die Bürger wollen mehr Sachentscheidungen treffen und nicht mehr einer Partei die Generalvollmacht für alles erteilen, vom Fahrradweg bis zum Auslandseinsatz der Bundeswehr.

Jörg Mitzlaff: Die Zeit fordert definitiv mehr Teilhabe, und seit Stuttgart 21 dürfte auch jedem klar sein, dass es nicht mehr ohne Bürger geht. Die Menschen haben inzwischen Bildung und Erziehung zu selbstbewussten Wesen genossen. Sie haben auch die Kapazität, über Politik nachzudenken und sich einzumischen - das war nicht immer so. Parteien sind da nicht das beste Angebot, unter anderem weil die in sich nicht sehr demokratisch organisiert sind. Das Machtgefälle in Parteien ist zu groß. Deshalb gibt es großen Zulauf bei anderen zivilgesellschaftlichen Gruppen, deren Arbeit wertgeschätzt wird. Auch unter den NGOs gibt es einen Wettbewerb, wie man es besser machen könnte.

Stuttgart21 ist aber auch ein Beispiel für Lobbyismus. Mal ungeachtet von unseren persönlichen Positionen: Es ist ja nicht ganz verwunderlich, dass die Politik klagt, sie bekäme kein Projekt voran, wenn immer alle, die irgendwie davon betroffen sind, so lautstark auf die Barrikaden gehen. Der Bahnhof in Stuttgart ist ja nicht nur eine Frage der Stuttgarter, sondern von allen, die die Bahn nutzen, die Güter auf der Schiene bewegen, die Steuern zahlen, die Zuglärm ausgesetzt sind, kurz: Es betrifft schlicht alle Menschen in Deutschland irgendwie. Aber wer kam beim Schlichtungsgespräch in Stuttgart zu Wort? 14 Lobbyisten und Politiker aus Stuttgart und Umgebung, wahnsinnig repräsentativ.

Jörg Mitzlaff: Das ist tatsächlich noch nicht restlos geklärt, wer die Grundgesamtheit ist, die man beteiligen muss. Nur Betroffene, gerade die Nicht-Betroffenen? Aber es gibt nicht nur Dagegen-Petitionen bei uns, es gibt auch viele die meinen, wie es besser geht.

Aber es haben die kleinen, konkreten Petitionen die größte Chance?

Jörg Mitzlaff: Die Petitionen für den Weltfrieden gibt es natürlich auch immer wieder, aber die verändern tatsächlich wenig. Das sind mehr Appelle an sich selbst und die Mitmenschen.

Den Weltfrieden zu fordern, ist ein legitimes Petitionsanliegen, oder? Der Petent muss ja nicht schon die Lösung parat haben, da dürfen sich dann schon mal die Politiker und Bürokraten bemühen.

Jörg Mitzlaff: Unsere Plattform funktioniert am besten fürs Agendasetting. Weltfrieden ist nicht wirklich neu.

Was ist denn wirklich neu?

Jörg Mitzlaff: Wir haben 5.000 Petitionen jedes Jahr. Bildungsthemen sind gerade groß, was ist Betreuung von Kindern wert, Straßenausbausatzung...

Ist aber doch auch nicht neu - es geht um Egoismus: Ich will nicht zahlen, andere sollen zahlen.

Jörg Mitzlaff: Ich habe selber eine Petition zum Lehrermangel an unserer Schule gestartet. Dabei hat sich herausgestellt, dass die Schulämter durch Zusammenlegungen gar nicht mehr wussten, was vor Ort los ist. Da hat eine solche Petition einen Anstoß für Veränderungen gegeben.

Es bleibt aber stets Zufall, wer an diesen Veränderungen beteiligt wird.

Jörg Mitzlaff: Wir haben einen Wehrbeauftragten, einen Datenschutzbeauftragten, aber es fehlt tatsächlich ein Demokratiebeauftragter, eine Institution, die mit eigenen Ressourcen diese Metaebene im Blick hat. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat witzigerweise Kriterien zur Demokratieförderung in anderen Ländern, aber für das eigene Land fehlt uns sowas.

Es gibt Projekte wie "Demokratie leben", die vor allem die Jugend ansprechen und vom Extremismus abhalten soll. Aber letztlich geht es darum, die Jugendlichen im System zu halten und sie kompatibel zu diesem System zu machen, nicht umgekehrt das System irgendwie passender zu gestalten.

Jörg Mitzlaff: Das stimmt. Viele Bildungsprogramme erklären den Status quo, fördern jedoch kaum das Nachdenken über Weiterentwicklungen. Aber dafür sind wir ja dann da.

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