Petitionen sind immer Katalysatoren für Themen

Seite 2: "Petitionen können die Gesellschaft spalten"

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Nein. Dann kann jederzeit eine kleine Gruppe alle zwingen, sich zu irgendetwas zu verhalten, zu äußern, aktiv zu werden - und wenn sie es nicht tun, wird über sie bestimmt. Es geht hier ja gerade nicht um unser beider Meinung, es geht nur um den demokratischen Prozess. 150.000 Unterschriften als Argument für eine Debatte: Natürlich. Aber wenn die mit demokratischer Vernunft geführt wird, ist schnell klar, dass Egoismus gerade nicht demokratisch ist. Eine Demokratie darf nur dann etwas verbieten, wenn es nicht anders geht, wenn ohne diese Vorschrift ein faires Zusammenleben nicht mehr möglich ist. Aber das ist ja beim Silvesterfeuerwerk wirklich albern. Das sind wenige Stunden im Jahr, die müssen die Gegner halt mal erdulden, die sich ja schon an 364 Tage im Jahr über ein Feuerwerksverbot freuen dürfen.

Jörg Mitzlaff: Das ist schon sehr philosophisch, aber warum nicht. Nur: Am Ende entscheidet immer noch ein gewähltes Parlament. Die Petition oder die Demonstration auf der Straße machen vielleicht das Agendasetting, aber die Entscheidung trifft das Parlament. Hier wird hoffentlich auf die Verhältnismäßigkeit in der Wahl der Mittel geachtet, hier entstehen die Kompromisse für das, "was möglich ist".

Am Ende setzt sich der oder das Stärkere durch, ohne Prüfung der demokratischen Qualität.

Jörg Mitzlaff: Petitionen können die Gesellschaft spalten, diese Gefahr sehe ich durchaus. Es kann zu Populismus führen: Wer am lautesten schreit, der gewinnt. Dieser Gefahr versuchen wir zu begegnen. Wir machen z.B. transparent, woher Unterstützer kommen, ob die alle aus einem E-Mail-Verteiler stammen oder ob es ein organisches Wachstum gibt. Wir wollen auch mehr Diskurs auf unserer Plattform.

Es wird nicht allzu oft vorkommen, dass ein Initiator seine Petition im Laufe der Debatte abbricht und sagt: "ihr habt mich überzeugt, meine Forderung war Quatsch".

Jörg Mitzlaff: Es ist schon möglich, den Inhalt einer Petition zu ändern, solange der Wesensgehalt erhalten bleibt. Man kann eine Forderung rausnehmen, die zu krass war, oder einen anderen Schwerpunkt setzen, da gibt es schon Deliberation während der Sammlungsphase.

"Es braucht in der Politik einen Kulturwandel"

openPetition tritt dafür ein, das Petitionswesen noch wirksamer zu machen?

Jörg Mitzlaff: Es geht ein Stück weit um einen Kulturwandel. Meiner Ansicht nach muss es zum Beispiel ein Recht auf Bürger-Anhörungen und auf begründete Antworten geben. Bisher gibt es nur ein Recht auf Befassung und einen Bescheid ohne Begründung.

Es bleibt aber der Bürger Bittsteller gegenüber der Macht. Man könnte es ja auch ganz anders sehen: Wenn Politiker nicht Herrscher, sondern Servicekräfte sind, Dienstleister. Dann bekäme die Petition eine ganz andere Rolle.

Jörg Mitzlaff: Man kann ja nicht den zweiten Schritt vor dem ersten machen. Es braucht in der Politik einen Kulturwandel. Dazu gehört, auf die Bürger zu hören, sich auch zwischen den Wahlen für sie zu interessieren, und nicht nur den eigenen Koalitionsvertrag stur abzuarbeiten. Wenn die Politik mal falsch abgebogen ist, können wir nicht bis zur nächsten Wahl warten oder bis sich eine Partei selbst zerlegt hat. Da passiert zwischendurch zu viel, da geht zu viel kaputt. Das muss optimiert werden.

Sind Sammelpetitionen inzwischen ein normales politisches Beteiligungsinstrument und so wirksam, wie das Engagement in einer Partei zum Beispiel?

Jörg Mitzlaff: Petitionen sind Teil des politischen Prozesses, das sehe ich ständig, und sonst würde ich openPetition auch nicht betreiben. Viele Gremien empfinden es auch als Anerkennung, wenn bei ihnen Petitionen eingereicht werden. Wenn es die freien, zivilgesellschaftlichen Plattformen für Petitionen nicht gäbe, würde das Instrument ja bis heute nur von einem winzigen Teil der Bevölkerung genutzt werden. Wir haben auch ein Instrument entwickelt, das Städte und Kreise auf ihrer eigenen Website einbinden können, um so den Bürgern eine Chance zur Beteiligung zu geben. Dafür ändern Kommen auch ihre Satzungen, und das ist ein Stück weit Kulturwandel.

Es gibt viele Themen, für die es in der Bevölkerung eine Mehrheit gibt und die trotzdem nicht in der Politik abgebildet sind.

Jörg Mitzlaff: Ein Klassiker sind die Hanf-Petitionen, die kommen ständig wieder. Die brauchen einfach Geduld. Es kann sich nicht von heute auf morgen etwas Grundlegendes ändern. Da müssen dicke Bretter gebohrt werden.

Es ist aber doch die Politik selbst, die diese dicken Bretter hinlegt.

Jörg Mitzlaff: Es ist auch erstmal gut, den Status quo zu schützen und nicht alles jederzeit über den Haufen zu werfen.

Deshalb ist es vielleicht keine philosophische Frage, sondern eine nach den Grundlagen, was die Politik überhaupt bestimmen darf. Im Grundgesetz steht die freie Entfaltung der Persönlichkeit, das entspricht der alten Behauptung in der französischen Revolution: frei und gleich an Rechten geboren seien die Menschen. "Die Freiheit besteht darin, alles tun zu dürfen, was einem anderen nicht schadet: Die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen hat also nur die Grenzen, die den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuss ebendieser Rechte sichern." (Artikel 4 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789) Doch tatsächlich kann die Politik Freiheit beschränken, wie sie will. Demokratisch ist ein Cannabis-Verbot nie zu rechtfertigen. Die Politik ge- und verbietet, was ihr beliebt, sogar den professionellen Suizid hat sie unter Strafe gestellt, übrigens nicht nur gegen das Selbstbestimmungsrecht des einzelnen, sondern auch gegen die klare Mehrheit in der Bevölkerung.

Jörg Mitzlaff: Inhaltlich will ich da gar nicht diskutieren. Es gibt ja auch andere Beispiele: Die Ehe für alle wurde plötzlich entschieden, weil die Politik den Kulturwandel in der Bevölkerung nachvollzogen hat.

Aber auch hier haben wir doch Willkür. Die Ehe für alle ist immer noch auf zwei Personen beschränkt. Warum darf ich nicht mehrere Menschen heiraten? Warum wurde nicht grundsätzlich das antiquierte Institut der Ehe infrage gestellt? Der Staat hätte ja auch sagen können, er hält sich da mal ganz fortschrittlich raus.

Jörg Mitzlaff: Politik geht halt in kleinen Schritten. Wir schleppen doch immer auch eine lange Tradition oder kulturelle Erfahrung mit. Das kann man nicht einfach wegwischen. Es ist manchmal auch gut, dass es dauert und nicht ständig Umwälzungen kommen.

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