Philosophen sollten mehr zweifeln

Seite 3: Altes Determinismusargument neu aufgewärmt

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Dabei war das Argument, unser Verhalten sei determiniert, ein alter Hut. Förmlich jede philosophische Schule von der antiken Stoa über die mittelalterlichen Religionsphilosophen bis zu Kant, Schopenhauer und in die heutige Zeit dürfte sich schon mit der Frage beschäftigt haben, wie wahlweise natürliche oder göttliche Determination mit menschlicher Freiheit in Einklang zu bringen ist. Dabei ist es noch nie zu einem Umsturz der rechtlich-moralischen Ordnung gekommen.

Dass man Menschen auch und gerade dann für ihr Verhalten verantwortlich machen kann, wenn sie durch ihr Gehirn determiniert sind, bestätigen neuerdings Anthropologen, die Neurologen und Psychiatern sowie deren Patienten in der klinischen Praxis untersuchen: Ganz im Einklang mit der neuen Gesundheitsreligion und dem Gedanken der Plastizität - der Formbarkeit von Körper und Gehirn - werden wir alle zu mehr Selbstdisziplin angehalten.

So stellte etwa Julie Netherland bei ihrer Forschung in einer neurowissenschaftlich geprägten Suchtklinik fest, dass die Patienten gerade aufgrund ihrer im Gehirn verankerten Erkrankung zu noch mehr Askese angetrieben wurden;8 und auch wenn biologische Forschung psychiatrische Patienten tendenziell von Schuldvorwürfen befreit, werden die Betroffenen nach heutigem Kenntnisstand darum nicht weniger sozial ausgegrenzt.9 Von Verantwortlichkeit für uns selbst befreit uns der biologische Determinismus allem Anschein nach jedenfalls nicht; dank Plastizitätsthese, die unter anderem durch die Epigenetik gestützt wird, ist das Gegenteil der Fall.

Wenn das Gehirn uns festlegt, was legt dann das Gehirn fest?

Selbst wenn (Gehirn-) Verschaltungen uns festlegen, wie der frühere Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung Wolf Singer es einmal auf den Punkt brachte, wirft das nur die neue Frage auf, was denn unser Gehirn festlegt. Von linearem Kausaldenken sollte man sich hier in jedem Fall verabschieden: Es ist eine bisher höchstens ansatzweise verstandene Interaktion aus (sozialer) Umwelt, biologischer Veranlagung, unseren Erfahrungen und den ablaufenden psychischen Prozessen mit vielen, nichtlinearen Rückkopplungsschleifen. Freiheit ist dann kein Alles oder Nichts, sondern ein Mehr oder Weniger. Die gerade auch empirisch viel wichtigere Frage ist die, unter welchen Umständen wir möglichst frei sind; es geht um die Freiheitsgrade und die notwendigen wie hinreichenden Bedingungen dafür.

Die Fruchtfliege, die von meinem Glas Rotwein - vergorenem Traubensaft - wie hypnotisiert angelockt wird, erkennt nicht ihre Lebensgefahr, auch wenn ich sie schon drei-, viermal beinahe erwischt habe. Beim fünften Mal schließlich habe ich sie. Ihr werden am Abend noch weitere folgen. Wir Menschen haben aber weit mehr Erkenntnis-, Reflexions- und Entscheidungsmöglichkeiten als die Fruchtfliege und in diesem Sinne auch viel mehr Freiheitsgrade.

Gehirnsicht lenkt von politischer Frage ab

Gesellschaftspolitisch wichtig ist die Frage danach, welche äußeren Zwänge unser Denken und Entscheiden einschränken, etwa geschürte Ängste, scheinbare Sachzwänge, provozierte Erschöpfung oder angebliche Alternativlosigkeit, und welche sie erweitern, etwa Zeit, Recherche oder kritische Prüfung. Diese gerade auch vom humanistischen Standpunkt aus wichtigen Fragen fallen freilich unter den Tisch, wenn man unsere Freiheit nur in Gehirnverschaltungen sucht.

Die selbstständige Denkfähigkeit, die für die Realisierung humanistischer Ideale so entscheidend ist, scheinen aber viele heutzutage zu verlieren, sobald das Schlagwort "Hirnforschung" fällt oder einem Begriff ein Neuro-Präfix vorangestellt wird. Forschungsergebnisse werden dann nicht mehr kritisch hinterfragt, sondern einfach hingenommen. So wurde auch den von Metzinger zitierten psychologischen Experimenten, die zeigen würden, dass der Glaube an Determinismus uns unmoralischer macht, bereits widersprochen: Beispielsweise sei in diesen Versuchen vielmehr ein Fatalismus- als ein Determinismusglaube induziert worden.10

Fatalismus kann ermüden, Determinismus aber motivieren

Dabei ist selbst oder gerade in einer deterministischen Welt moralisch-politisches Handeln sinnvoll: Schließlich können wir durch unser Denken, Sprechen und Handeln auch oder gerade dann auf das Denken, Sprechen und Handeln anderer einwirken, unsere Mitmenschen und Umwelt mitdeterminieren. Nur in einer fatalistischen Welt, in der sowieso alles schlechter wird, ganz gleich, was wir tun, ist moralisch-politisches Handeln sinnlos. Man sollte sich also davor hüten, den Glauben an unsere - wenn auch durch verschiedene Faktoren bedingte - Freiheit vorschnell aufzugeben.

Das beste Beispiel für weitreichende Missverständnisse ist hier die Rezeption des Libet-Experiments. Die Literatur zu den damals bahnbrechenden Versuchen Benjamin Libets, mithilfe der Elektroenzephalographie die Dynamik unseres Bewusstseins besser zu erforschen, dürfte inzwischen einige Regalmeter füllen.

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