Pluriversum oder: Die Natur mit eigenen Verfassungsrechten

Seite 3: Wer vertritt die Natur?

Wenn ich eine Anwältin beauftrage, mich vor Gericht zu vertreten, dann kann ich mit ihr besprechen, wie sie vorgehen soll. Die Natur kann das nicht. Wie kann sichergestellt werden, dass die Vertreter:innen der Natur deren Interessen bestmöglich vertreten, und nicht vielleicht eigene Interessen, die denen der Natur widersprechen, mit hineinspielen?

Alberto Acosta: In der Verfassung ist in Artikel 71 eindeutig festgelegt, dass jede Person oder Gemeinschaft die Rechte der Natur vertreten kann. Dies ist nichts Neues im einem Rechtssystem. Wenn es um die Rechte eines neugeborenen Kindes oder einer Person in der Endphase ihres Lebens geht, vertreten Angehörige oder gegebenenfalls der Staat deren Rechte.

In solchen Fällen und in denen, die mit der Natur zu tun haben, besteht immer die Gefahr des Missbrauchs, aber das ist eine Frage, die vor Gericht geklärt wird.

Rechte haben ist das eine, sie auch durchsetzen zu können, das andere. Bei konkurrierenden Interessen zwischen Menschen und Natur müssen Gerichte abwägen. Sie sagen zwar, dass in Ecuador jede(r) die Rechte der Natur einklagen kann. Aber können sich das auch alle finanziell leisten? Haben nicht naturzerstörende Unternehmen bessere Chancen, sich durchzusetzen, weil sie stärker und finanzkräftiger sind und sich bessere Anwält:innen leisten können?

Alberto Acosta: Das Recht ist immer ein umstrittenes Feld, sei es bei der Verabschiedung von Gesetzen oder bei deren Anwendung. Natürlich gehen in diesem Feld politische Macht und wirtschaftliche Macht, die oft im Bündnis agieren, von privilegierten Positionen aus. Das Gesetz ist von Klassenverhältnissen gerahmt, mit allem, was zum Beispiel die Ausbeutung der Arbeit angeht oder das Privateigentum sichert.

Und das Recht spiegelt auch die traditionellen Herrschaftsverhältnisse über die Natur wider, die als aneignungsfähiges, privatisierbares und letztlich sogar vernichtbares Objekt verstanden wird.

In diesem ungleichen Kampf gibt es Gruppen von Anwälten/innen, die mit den Gemeinden zusammenarbeiten. Es gibt auch Universitäten und zivilgesellschaftliche Organisationen, die zur Verteidigung der Menschenrechte und zunehmend auch der Rechte der Natur freiwillig beitragen.

Aber was am interessantesten ist, ist zu sehen, wie viele politische Gruppen und soziale Bewegungen in verschiedenen Teilen des Planeten beginnen, diese komplexen Pfade des Rechts zu beschreiten, ohne die anderen vielfältigen Möglichkeiten des Widerstands und des transformativen Kampfes an den Rand zu drängen.

Reiche und Mächtige häufen immer mehr Macht an. Die Rechtsprechung schafft im Kapitalismus oft nicht Gerechtigkeit, sondern handelt als Klassenjustiz. Wir Menschen sind als Teil der Natur aufgrund von deren Zerstörung vom Aussterben bedroht. Welchen Beitrag kann angesichts der real existierenden Machtverhältnisse die Anerkennung und Durchsetzung von Rechten der Natur zur Rettung der Menschheit leisten?

Alberto Acosta: Erst im Laufe der Zeit und durch den Druck von Tatsachen, die noch hartnäckiger sind als das Gesetz, wird die Natur zuerst in der politischen Diskussion, später in der Rechtsprechung und schließlich in der Gesetzgebung die ihr entsprechende Rechtsstellung erlangen.

Daraus folgt die nächste Phase, nämlich der Streit um die Einhaltung der Gesetze. Wir müssen das Rechtsgebiet als Streitraum betrachten, um nicht in ein auswegloses Labyrinth zu geraten, wenn wir die Macht des Kapitals erkennen: die Kontrolle über die Justiz.

Es ist daher dringend erforderlich, dass die Ziele jeder Gesellschaft den Gesetzen der natürlichen Systeme untergeordnet werden, ohne jemals die Achtung vor der Würde des menschlichen Lebens zu vergessen. Eine neue Wirtschaft muss akzeptieren, dass die Natur die Grenzen und den Umfang der Nachhaltigkeit und Erneuerungsfähigkeit der Systeme festlegt.

Aus der Politik eröffnen sich neue Perspektiven für das, was wir unter kollektiver und ökologischer Staatsbürgerschaft verstehen könnten, um die Gültigkeit der Erddemokratie zu verwirklichen.

Deren Kernpunkte sagen uns, dass individuelle und kollektive Menschenrechte im Einklang mit den Rechten anderer natürlicher Gemeinschaften auf der Erde stehen müssen; Ökosysteme haben das Recht zu existieren und ihren eigenen lebenswichtigen Prozessen zu folgen; die Vielfalt des Lebens, die in der Natur zum Ausdruck kommt, ist ein Wert an sich; Ökosysteme haben ihre eigenen Werte, die unabhängig von ihrem Nutzen für den Menschen sind.

Aus dem Vorhergehenden leiten wir tiefgreifende Schlussfolgerungen für die menschlichen Kulturen ab, in denen eine radikale Transformation erforderlich ist: Der Mensch ist nicht die Krone irgendeiner Schöpfung, wir sind zur Krone der Zerstörung geworden. Die Menschheitsgeschichte hat das, was im Leben real ist, degradiert, insbesondere durch die Zivilisation des Kapitals.

Die neue "kopernikanische Wende": Zum Pluriversum

Was schlagen Sie also vor, Herr Acosta ?

Alberto Acosta: Streng genommen erfordert die wirksame Umsetzung der Rechte der Natur eine "kopernikanische Wende". Die harmonische und ausgewogene Wiedervereinigung mit der Natur ist unsere große Aufgabe. Bereits Immanuel Kant hat diesen Begriff in der Philosophie verwendet.

Die bisherige Philosophie ging davon aus, dass das erkennende Subjekt in der Erfahrung des Wissens passiv ist, dass das beobachtete Objekt das Subjekt beeinflusst und in ihm eine zuverlässige Repräsentation der Realität bewirkt.

Kant schlug vor, die Beziehung umzukehren und zu akzeptieren, dass in der kognitiven Erfahrung das erkennende Subjekt aktiv ist, dass das erkennende Subjekt im Akt des Erkennens die beobachtete Realität modifiziert.

Diese Anerkennung veränderte die Philosophie und die Welt selbst radikal. Kant definierte dies als "kopernikanische Wende" von ähnlicher Bedeutung, wie zu akzeptieren, dass die Erde nicht das Zentrum des Universums ist, was Nikolaus Kopernikus demonstriert hatte.

Mit den Rechten der Natur stehen wir vor einer ähnlichen Situation, sogar von viel größerer Bedeutung, da wir akzeptieren müssen, dass Menschen Natur sind und dass es in der Natur keine überlegene Spezies gibt. Der Mensch ist Natur, wir stehen nicht außerhalb von ihr. Und sie, die Natur, ist es, die uns das Recht auf unsere Existenz gibt.

Es ist an der Zeit, uns von den gedanklichen Fesseln des Fortschritts und der sogenannten Entwicklung zu befreien, die zu einem globalen sozioökologischen Debakel mit unvorhersehbaren Folgen führen.

Wir müssen uns auf das plurale Universum, das Pluriversum, zubewegen, unter dem wir eine Welt verstehen, in der es Platz für viele Welten gibt, in der aber alle – Menschen und nichtmenschliche Wesen – in Würde zusammenleben, ohne Elend und Ausbeutung, die heute noch das Dolce Vita einiger Weniger sichern.

Mehr denn je brauchen wir Postwachstumsgesellschaften und Gesellschaften des "Buen Vivir", des Guten Lebens für alle.

Das u.a. von Alberto Acosta herausgegebene Buch "Pluriversum" erscheint im Herbst 2023 im AG SPAK Verlag

Siehe dazu auch den Telepolis-Artikel von Elisabeth Voß: "Hat die Menschheit noch eine Chance?"