Polen: Der rechte Monolith bröckelt

Seite 2: Polnische Ordnung – rechte Gerechtigkeit?

Kommentatoren wie Łukasz Rojgosz von der Gazeta Wyborcza vergleichen die PiS mit der Titanic, die sich nach dem Zusammenstoß mit dem Eisberg langsam mit Wasser füllt. Die verzweifelte Suche nach einzelnen Stimmen im Sejm erinnert ihn an das letzte Spiel des Schiffsorchesters. Für jedes neue Projekt der Regierung müssen nunmehr stets aufs Neue Koalitionen und Mehrheiten im Parlament gebildet werden.

Mit dem Blick auf die nächsten Wahlen und quasi als Einleitung der Postpandemie-Phase wurde im Mai 2021 mit großem Pomp ein neues Programm der Regierung präsentiert. "Polski Ład" ("Polnische Ordnung") ist ein wohlfahrtsstaatliches Maßnahmenpaket zum Umbau von Staat und Wirtschaft.

Dank Steuerentlastung für Millionen Haushalte mittels Erhöhung der Steuerfreibeträge und Berechnungsgrenzen sollen Polinnen und Polen spürbar mehr Geld zur Verfügung bekommen. Steuererleichterungen für Betriebe und das Schließen von Steuerschlupflöchern, wie etwa eine Steuer auf Großunternehmen, die in den staatlichen Gesundheitsfonds fließen soll, gehören mit zum Paket.

Von Unternehmern, über junge Menschen bis hin zu Rentnern richtet sich das Programm quasi an alle Gesellschaftsschichten, wobei Besserverdiener deutlich stärker belastet und Rentner und Geringverdiener entlastet werden sollen. Gleichzeitig sollen Ausgaben für das Gesundheitssystem von 5,2 auf 7 Prozent des BIP angehoben, junge Familien mit weiteren 500 Złoty monatlich gefördert, kinderreiche Familien gänzlich von Steuern befreit, Baugenehmigungen für Kleinhäuser abgeschafft und staatliche Kreditgarantien für Immobilienkredite eingeführt werden.

Kritiker bemängeln, dass Gemeinden, die bislang auf die Einkommensteuer angewiesen waren, viel Geld verlieren könnten. Ein Kompensationsmechanismus sieht vor, dass größere, finanziell bessergestellte Gemeinden, die fast durchgehend von Bürgermeistern aus den Reihen der Opposition regiert werden, verhältnismäßig weniger rückerstattet bekommen würden als kleinere, ärmere städtische- und Dorfgemeinden. Ein Schritt, der als Bestrafung bzw. Benachteiligung der PiS-feindlichen urbanen Schichten interpretiert wird.

Mit dem Programm soll, ganz dem Motto der PiS folgend, Gerechtigkeit wieder hergestellt werden. Dank Förderung junger Familien und Erleichterungen beim Erwerb von Wohneigentum soll die Geburtenrate angehoben werden, zusätzlich wird der Mindestlohn auf 2.800 Złoty (ca. 615 Euro) angehoben. Michael Martin Richter von der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen stellt in seiner Analyse fest, dass nun Apologeten des Etatismus und Interventionismus in der Regierung das Zepter übernehmen würden – auf Kosten liberaler Ideen.

Das aktuelle Programm "spiegele die Ideen: Konsum, Konservatismus und Staatskapitalismus: staatlicher Interventionismus und Zentralismus, gepaart mit konservativen katholischen Werten und einem Narrativ, dass die Regierung den Schwachen und Armen gibt. Diese neue Ordnung dient dabei eindeutig den politischen Interessen der PiS".

Richter folgt damit im Wesentlichen dem Narrativ der wirtschaftsliberalen Opposition. Von Anbeginn, seit 2015, seitdem PiS regiert, kritisiert diese das Sozialprogramm der PiS, allen voran das Kindergeld "500 plus", auch wenn sie insgeheim die Regierungspartei um diese Idee wohl beneidet, denn die Transferzahlungen bescherten der PiS wiederholt Wahlerfolge. Die "Polnische Ordnung" wird eben deswegen in den Staatsmedien mit Warnungen begleitet, die Opposition würde nach ihrem Sieg alle Leistungen wieder rückgängig machen.

Was nach einer Art "Wunderwaffe" gegen jegliche Versuche der Opposition, der PiS die Macht streitig zu machen klingt, erweist sich das Programm nun, seit Einführung im Januar 2022, vorerst als Rohrkrepierer.

Geplant war nämlich, das Paket mit einem nie dagewesenen Investitionsprogramm, samt Schaffung einer halben Million neuer Arbeitsplätze, abzurunden, dessen Finanzierung hauptsächlich aus dem EU-Corona-Wiederaufbaufonds stammen soll. Doch da haben Kaczyński und seine Entourage die Rechnung ohne den Wirt gemacht.

Wegen des Zerwürfnisses Polens mit der EU um die Justizreform hält Brüssel die Auszahlung der Polen zugesprochenen 58 Milliarden Euro zurück – der Nationale Wiederaufbauplan wurde vorerst nicht genehmigt. Die EU-Kommission und der EU-Gerichtshof, welche die Rechtsstaatlichkeit in Polen für gefährdet erachten, fordern die Rücknahme einiger Kernelemente der Reform der polnischen Gerichtsbarkeit, in erster Linie - die Abschaffung der umstrittenen Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs.

PiS spielt nun auf Zeit, muss aber zunehmend einsehen, dass sie mit ihren Ablenkungsmanövern nicht durchkommt. Dem Projekt wurde im Vorfeld selbst in Polen so viel Kritik zuteil, sodass die "Polnische Ordnung" in den Augen der breiten Öffentlichkeit nur mehr als Schlag gegen die Mittelklasse wahrgenommen wird.

Zudem kam es bei der Einführung der "Polnischen Ordnung" zu gravierenden Fehlern, die der hastigen und unzureichenden Vorbereitung geschuldet sind. Vor allem die neuen Steuerregeln haben den Effekt zufolge, dass die Gehaltsermittlung gemäß dem neuen Modell das Gegenteil von den angekündigten Zielen bewirkt; Staatsbedienstete wie Lehrer oder Krankenschwestern bekamen plötzlich signifikant weniger Gehalt ausbezahlt.

In den Reihen der PiS wurden Rufe nach Rücktritt der für das Schlamassel verantwortlichen Minister und sogar des Regierungschefs Morawiecki laut. "Es hätte ein Programm werden sollen, das unsere Wähler wieder mobilisiert und nun haben gerade sie als erste weniger in der Geldbörse", empörte sich ein PiS-Abgeordneter gegenüber dem Radiosender RMF FM. Ein anderer bemerkte: "Wenn der Premierminister es nicht zustande bringt, dieses Schlüsselprojekt zu verwirklichen, so heißt das einfach, dass seine Zeit in dieser Position abgelaufen ist."

Der Schwanz wedelt mit dem Hund

Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Justizminister und der Premierminister einander nicht leiden. Ziobro lässt keine Gelegenheit aus, den Regierungschef – in seiner Fraktion trägt dieser den Spitznamen "PowerPoint-Premier" – zu attackieren. Der innerkoalitionäre Kampf ist so heftig, dass Kaczyński den angekündigten Rückzug aus der Regierung – er bekleidet derzeit das Amt des Vize-Ministerpräsidenten – verschieben musste.

Solange Brüssel die Corona-Hilfsgelder zurückhält, hat Zbigniew Ziobro genug Argumente gegen die EU, welche aus seiner Sicht Polen bloß schaden will, und gegen Morawiecki, der sich um eine gemäßigtere Haltung gegenüber Brüssel bemüht. Solange die Zahlungen aus dem Aufbaufonds eingefroren bleiben, kann sich die PiS des Wahlsiegs, egal, ob vorgezogen oder turnusgemäß, nicht mehr sicher sein.

Ziobro weiß, dass seine Formation nach einem Bruch der Koalition bei den Wahlen keine Chance auf einen neuerlichen Einzug in den Sejm hätte. Dennoch wünschen weder die Opposition noch die PiS vorgezogene Wahlen, die Ersteren, weil sie hoffen, PiS könnte in der Wählergunst weiter absteigen, die Zweiteren, weil sie nach Ausschüttung des Füllhorns aus der "Polnischen Ordnung" auf Zugewinne hoffen.

Um die Blockade der Geldflüsse aus Brüssel zu beenden, begann Kaczyński sich vom Justizminister Ziobro abzuwenden. So meinte er, dass die Disziplinarkammer des Höchstgerichtes in der jetzigen Form ein Fehler wäre und ihren Zweck nicht erfülle.

Auch Premierminister Morawiecki kritisierte die Justizreform. Ziobro hingegen spricht von "rechtloser Erpressung seitens der EU". Damit stellt er sich ostentativ gegen die Linie der PiS, die ihrerseits von einem "Polexit" nichts wissen will. Ziobro weiß, dass Kaczyński ihn für seine ohnehin ausgedünnte Parlamentsmehrheit benötigt. Seit dem Rauswurf Gowins aus der Regierungskoalition ist Ziobros Gewicht in der Koalition gestiegen.

Kaczyński ist nun in der Zwickmühle, es wird seit Monaten über einen vorgezogenen Urnengang gemunkelt. Planmäßig würden Parlamentswahlen erst 2023 stattfinden. Bis dahin, so fürchtet Kaczyński, könnte Donald Tusk, der seit dem Vorjahr wieder in der polnischen Innenpolitik zurück ist und nun die größte Oppositionspartei "Bürgerplattform", kurz PO anführt, die Anti-PiS-Opposition konsolidiert haben.

Tusk bereist das Land und präsentiert PiS als eine Partei, die vor politischer Korruption nicht schreckt und Polen aus der EU führen möchte. Doch auch Tusk weiß, auf welch dünnem Eis er sich bewegt. Er weiß, dass seine politische Agenda nicht einzig aus der Kritik an der Regierung bestehen darf und dass er dem sozialen Angebot seiner politischen Gegner eine glaubhafte Alternative entgegensetzen muss.