"Poroschenko ist unser Robespierre"
- "Poroschenko ist unser Robespierre"
- "In Russland gibt es eine Ruhe vor dem Sturm"
- "Wenn die Menschen arm sind, ist die Identität das Wichtigste, was ihnen noch bleibt"
- "Der Rechte Sektor wurde mit Hilfe der Präsidialverwaltung auf den Maidan gebracht, um diesen zu diskreditieren"
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Sergej Kiritschuk von der ukrainischen linken Organisation Borotba über die instabile Lage in der Ukraine und in Russland
Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko steht heute unter enormem Druck der Ultranationalisten gegen die er jetzt - in einer Art Befreiungsschlag - auch mit strafrechtlichen Mitteln vorgehen lässt. Sergej Kiritschuk, Koordinator der ukrainischen Linksorganisation Borotba (Kampf), erläutert die Hintergründe. Das Interview führte Ulrich Heyden in Berlin
Sergej Kiritschuk ist 33 Jahre alt und Koordinator der ukrainischen Linksorganisation Borotba (Kampf). Er schreibt Analysen für das linke ukrainische Internet-Portal Liva.com.ua. Wegen der gewalttätigen Verfolgung von Borotba-Mitgliedern in der Ukraine ging er im Mai 2014 nach Berlin ins Exil. Im Jahr 2000 wurde Kiritschuk Mitglied der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU). Weil die KPU Präsident Janukowitsch unterstützte, gründete er 2012 zusammen mit Freunden aus der unabhängigen Linken und ehemaligen KPU-Mitgliedern die Organisation "Borotba".
Am 12. Oktober gab es Hausdurchsuchungen bei drei führenden Mitgliedern der Partei Swoboda. Man verdächtigt sie, dass sie in die Beschießung von Demonstranten auf dem Maidan verwickelt sind. Sie sollen am 20. Februar 2013 im elften Stock des Hotel Ukraina gewohnt haben. Von dort wurde vermutlich auf Demonstranten geschossen. Wie kommt es, dass die Staatsanwaltschaft diese Ermittlungen jetzt gegen Politiker führt, die beim Sturz des ukrainischen Präsidenten, Viktor Janukowitsch, am 21. Februar 2014 in Kiew eine Schlüsselrolle spielten?
Sergej Kiritschuk: Die Radikalen werden jetzt nicht mehr gebraucht. Man will sich von ihnen befreien. Sie kritisieren den ukrainischen Präsidenten sehr scharf. Und sie erlauben sich Erklärungen, die in keinem anderen Land möglich wären. Sie sagen, "wir ziehen nach Kiew", "wir ziehen alle Bataillone von der Front ab", "wir gehen nach Kiew und errichten dort eine patriotischen Macht". Sie können diese Erklärungen auf der Website des Rechten Sektors lesen.
Es gibt auch Verhaftungen und Vorladungen gegen andere bekannte Politiker aus dem rechten und dem linken Spektrum.
Sergej Kiritschuk: Vor kurzem ließ Poroschenko den Führer der (rechtsnationalen, U.H.) Ukrop-Partei, Gennadi Korban (ein Freund von Oligarch Igor Kolomoiski, U.H.) verhaften. Man wirft ihm die Bildung einer kriminellen Gruppe vor. Und es gibt Anzeichen, dass auch Vertreter des (russlandfreundlichen, U.H.) Oppositionsblockes verhaftet werden sollen. Poroschenko ist unser Robespierre. Er lässt erst die Rechten und dann die Linken verhaften. Er will alle radikalen Flügel kalt stellen und seine Macht festigen. Ich glaube, dass die Macht in den USA ihn dabei unterstützt.
Wie ist die soziale Situation heute in der Ukraine?
Sergej Kiritschuk: Die Wirtschaft kollabiert. Es gibt eine große Armut und es ist schwer zu überleben. Die Strom- und Gaspreise sind gestiegen. Die Menschen leben heute um Vieles schlechter.
Ihre Eltern leben in Kiew. Wie geht es Ihnen?
Sergej Kiritschuk: Meine Eltern leben zurzeit von 275 Euro. Mein Vater ist Ingenieur. Er konzipiert Systeme für den Schutz der Stromversorgung. Sein Gehalt ist in den letzten zwei Jahren von 800 Euro auf 200 Euro gesunken. Meine Mutter bekam eine Rente von 200 Euro. Jetzt bekommen sie nur noch 75 Euro. Dabei sind die Preise für Strom und Gas in der Ukraine mehrmals gestiegen.
Und die Menschen zahlen ihre Rechnungen nicht?
Sergej Kiritschuk: Die Ukrainer sind sehr diszipliniert. Sie zahlen Strom und Gas und hungern selbst. Ich weiß nicht, woher das kommt. Das ist wahrscheinlich die sowjetische Mentalität, gegen welche unsere Nationalisten jetzt kämpfen (lacht).
Wohin geht die Ukraine?
Sergej Kiritschuk: Man versucht eine Art Diktatur zu errichten. Es wird Wahlen geben, aber im Grunde wird es eine Diktatur sein. Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder es wird eine prowestliche Diktatur geben, die von westlichen Werten und europäischer Integration redet und alle Radikalen einsperrt. Oder eine Diktatur verrückter Ultranationalisten von Swoboda, Ukrop, Rechter Sektor und der faschistoiden Radikalen Partei von Oleh Ljaschko. Diese Kräfte raubten aus dem "Fonds zur Verteidigung des Vaterlandes" mehrere Millionen Dollar und Waffen. Der Fonds wurde von dem jetzt verhafteten Gennadi Korban beaufsichtigt.
"Wenn Poroschenko jetzt nicht ein autoritärer Führer ist, dann ist die Ukraine in Gefahr"
Welche Chancen hat Poroschenko noch, sein Macht zu erhalten?
Sergej Kiritschuk: Er wird jetzt von vielen unterstützt, die keine nationalistische Diktatur wollen. Nachdem die Rechten am 31. August dieses Jahres eine Granate auf Polizisten warfen (vier Polizisten wurden getötet, 100 Personen wurden verletzt, U.H.), haben viele Menschen in der Ukraine gesagt, "das ist zu viel". Die Menschen in der Ukraine wollen keine Gewalt gegen Polizisten und keinen Terror mehr. Die Granate wurde von einem Soldaten geworfen, der gerade von der Front kam. Es gibt jetzt ein großes Problem bei der Integration der Soldaten, die von der Front zurückkehren. Sie haben den Pulverdampf gerochen und - wie man sagt - "Blut geschmeckt". Sich selbst sehen sie als Helden, die das Land verteidigt haben. Doch es gibt keine Arbeitsplätze für sie, wenn sie zurückkommen. Deshalb werden sie jetzt vor der Präsidialverwaltung in Kiew soziale Vergünstigungen fordern. Die Beamten dort werden ihnen dann sagen, wir haben Euch nicht an die Front geschickt. Diese Rückkehrer fühlen sich auf den Müllhaufen geworden. Vielleicht gründen sie jetzt kriminelle Banden. Ich bin ein politischer Gegner von Poroschenko. Aber wenn er jetzt nicht ein autoritärer Führer ist, dann ist die Ukraine in Gefahr. Poroschenko und sein Clan können die rechten Radikalen jetzt stoppen und ihnen die Anführer nehmen.
Und was heißt das Alles für die Linken und den Russland-freundlichen Oppositionsblock?
Sergej Kiritschuk: Gennadi Kernes, der (Russland-freundliche, U.H.) Bürgermeister von Charkow wurde Ende Oktober mit 60 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Kurz darauf erklärte er, man müsse die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland wieder herstellen. Damit hat er sich gegen den Mainstream gestellt. Aber die Menschen wissen, dass es richtig ist. Ohne Wirtschaftsbeziehungen mit Russland gibt es einen Kollaps und keine Zukunft. In Odessa erlebte der Gouverneur Michail Saakaschwili ein Waterloo. Er unterstützte bei den Bürgermeisterwahlen öffentlich einen Kandidaten, der gegen einen Kandidaten der früheren Macht unterlag.