Post-Corona-Gesellschaft: Wo soll die Resilienz herkommen?
Neuer Expertenrat soll auf zukünftige Gesundheitskrisen vorbereiten. Trotz Sparkurs. Was die Ausgangslage sonst noch erschwert. Ein Kommentar.
Auf den vor knapp einem Jahr aufgelösten Corona-Expertenrat der Bundesregierung folgt der Expertenrat "Gesundheit und Resilienz". Das Gremium hat sich am 18. März konstituiert und wird nach den Worten von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) benötigt, um "künftigen Gesundheitskrisen bestmöglich begegnen zu können". Was Scholz sonst noch dazu verlauten ließ, wirkt zunächst einmal schwer vereinbar mit den Sparvorhaben der Ampel-Regierung:
Denn eine Lehre aus der Pandemie ist, dass wir unser Gesundheitswesen widerstandsfähiger und robuster aufstellen – auch im Hinblick auf die Folgen des Klimawandels und der demographischen Entwicklung.
Bundeskanzler Olaf Scholz
Der Gesundheitsetat ist allerdings um rund ein Drittel geschrumpft und beträgt in diesem Jahr 16,71 Milliarden Euro, wie der Haushaltsausschuss in seiner Bereinigungssitzung im Januar beschloss. 2023 standen dem Gesundheitsministerium noch 24,48 Milliarden Euro zur Verfügung. Hintergrund des Sparkurses ist auch das Festhalten der Regierung an der sogenannten Schuldenbremse.
Lehren aus der Corona-Krise, Aufarbeitung und Konsequenzen
Aus dieser Situation solle nun 23 Expertinnen und Experten ehrenamtlich das Bestmögliche machen – oder zumindest vorschlagen. Es sind unterschiedlicher Fachrichtungen, wie Public Health, Epidemiologie, Ethik, Medizin, Informatik, Statistik, Modellierung, Pflegewissenschaft, Psychologie, Sozialwissenschaften und Virologie.
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Die Leitung des Gremiums wurde Prof. Heyo Kroemer, dem Vorstandschef der Berliner Charité übertragen, Ko-Vorsitzende ist Prof. Susanne Moebus von der Universitätsmedizin Essen.
Die Aufgabenstellung überschneidet sich teilweise mit derjenigen, die eine von der FDP vorgeschlagene Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der Corona-Krise haben könnte – die soll gegebenenfalls auch Empfehlungen für den Fall einer neuen Pandemie erarbeiten.
Was ist Resilienz und wie wird sie erworben?
Abgesehen von offenen Finanzierungsfragen im Gesundheitsbereich stellt sich aber im Fall des neuen Expertenrats die Frage, was die Bundesregierung unter Resilienz versteht.
In der Psychologie beschreibt der Begriff psychische Widerstandsfähigkeit und die Fähigkeit, Krisen als Entwicklungschancen zu nutzen. Die Frage ist aber, wie der Grundstein für diese Fähigkeiten gelegt wird – und ob eine Gesellschaft Resilienz erlangt, indem sie gerechter und solidarischer wird, oder ob die Herrschenden von den Beherrschten Resilienz einfordern.
Im Gesundheits- und Pflegebereich heißt das konkret: Wird alles getan, um die Personalschlüssel zu verbessern oder werden überlastete Pflegekräfte dazu angehalten, an ihrer Einstellung zu arbeiten?
Resilienz-Kult: Lob der Anpassungsfähigkeit?
Die Soziologin Stefanie Graefe kritisiert den Resilienz-Kult als "Lob der Anpassungsfähigkeit" im Krisenkapitalismus und plädiert dafür, systembedingten Zumutungen Grenzen zu setzen:
Mit Zunahme der stressbedingten Erschöpfung stellte sich die Frage nach allgemeinen Standards für gute Arbeitsbedingungen. In Deutschland gab es etwa eine Initiative für eine Anti-Stress-Verordnung seitens der IG Metall, die das auf gesetzlicher Ebene verankern wollte.
Das ist aber alles mehr oder weniger im Sande verlaufen – und parallel ist das Konzept der Resilienz immer stärker in den Vordergrund gerückt. Das ist aus meiner Sicht kein Zufall. Resilienz ist ein Alternativangebot zur Kritik an den Arbeitsbedingungen.
PD Dr. Stefanie Graefe im Gespräch mit Standard, Januar 2021
Hinzu kommt, dass nicht alle die gleichen Chancen haben, psychische Widerstandsfähigkeit zu entwickeln. Studien deuten darauf hin, dass Kindheitserfahrungen dafür ein wichtiger Faktor sind.
Kinder der Corona-Krise: Psychisch angeschlagen in Warteposition
Auch die Bundesregierung selbst räumt ein, dass "Kinder und Jugendliche durch die Corona-Pandemie besonders belastet wurden". Aber während viele von ihnen psychisch erkrankt sind und in manchen Bundesländern fast fünf Monate auf Therapieplätze warten müssen, wird in den Regierungsparteien über eine Wiedereinsetzung der Wehrpflicht diskutiert.
Aber auch unter den Erwachsenen wurden nicht gerade die besten Voraussetzungen für Resilienz gestärkt. Durch die Corona-Krise sind Familien zerbrochen und Freundeskreise gespalten worden – nicht nur durch das Virus und die Totalverweigerung der "Querdenker", sich an Schutzmaßnahmen zu halten, sondern auch durch die widersprüchliche Politik und Kommunikationsstrategie der damals Regierenden inklusive der heutigen Kanzlerpartei.
Die Doppelmoral der Pandemie-Maßnahmen
Während Unternehmen nicht verpflichtet wurden, Homeoffice zu erlauben, wo immer es arbeitsorganisatorisch möglich war, galten teils drastische Kontaktbeschränkungen in der Freizeit. Diese Doppelmoral und negative Erfahrungen mit dem kaputt gesparten Gesundheitssystem machten sowohl die Pandemie-Politik als auch die Schulmedizin in Teilen der Bevölkerung unglaubwürdig.
"Dr. Google" sowie esoterische Heilerinnen und Heiler waren und sind auch deswegen beliebt, weil viele Menschen jahrelang die Erfahrung gemacht haben, als Kassenpatienten lange auf Facharzttermine warten zu müssen und dann sehr schnell abgefertigt zu werden – mit der vagen Hoffnung, dass vielleicht in zwei Monaten ein anderer Facharzt weiterhelfen kann.
Die Glaubwürdigkeitskrise des Staates
Als es dann Impfstoffe gegen das Coronavirus gab, wussten viele nicht mehr, wem oder was sie noch glauben konnten und ließen sich deshalb mit der Impfentscheidung Zeit – und manche waren bereits überzeugt, dass immer das Gegenteil von dem richtig sei, was die Regierung gerade sagte.
Als sich dann herausstellte, dass auch Geimpfte das Virus weitergeben konnten, war aber die scharfe Schuldzuweisung an Ungeimpfte ähnlich postfaktisch und wissenschaftsfern wie die Behauptungen mancher "Querdenker".
Corona und das Internet: Als die Streitkultur kollabierte
Während der Kontaktbeschränkungen waren viele Diskussionen online eskaliert: Wer die Gefahr anders einschätzte oder ihr anders begegnen wollte, konnte nicht einfach nur eine andere Einschätzung haben. Nein: Er oder sie musste einen schlechten Charakter haben und ein schlechter Mensch sein, der wahlweise eine Diktatur einführen oder alte und kranke Menschen sterben lassen wollte.
Ersteres war der Standardvorwurf an das "Team Vorsicht". Letzteres wurde gern pauschal den Ungeimpften unterstellt – nicht nur den aktiven Impfgegnern, die unbewiesene Behauptungen verbreiteten und teils Schulter an Schulter mit Neonazis demonstrierten.
Teile der Linken schossen aber auch weit über das Ziel hinaus, indem sie alle Ungeimpften über einen Kamm schoren – Verunsicherte und Verwirrte gleich Nazis oder zumindest antisoziale, egoistische Subjekte, die man auch meiden sollte, wenn das Virus kein Thema mehr wäre.
Das unterschied sich zeitweise kaum von der staatstragenden Position und war ein gefundenes Fressen für rechte Demagogen, die um Verunsicherte warben.
Keine Versachlichung nach Ende der Corona-Maßnahmen
Der Trend, sich gegenseitig die niedrigsten Beweggründe zu unterstellen, setzte sich in anderen Diskussionen und vor allem mit Blick auf den Ukraine-Krieg fort: Wer nicht für die Lieferung von schweren Waffen oder Taurus-Marschflugkörpern ist, schätzt nicht einfach die Eskalationsgefahr anders ein, sondern ist ein schlechter Mensch, der dem Bösen Vorschub leisten will, in diesem Fall dem russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Motto: Support the current thing! Sei für die Regierung, besser noch für die Hardliner der Regierungsparteien – oder gleich automatisch gegen alles, was die Regierung sagt, egal ob es um Corona, die Ukraine oder Klimaschutz geht und egal, ob Reden und Handeln auf Regierungsseite übereinstimmen. Um solche Feinheiten geht es nicht. Unterstütze das "richtige" Team!
RKI-Files: Kampf um Deutungshoheit
Auf diesem Niveau bewegen sich auch aktuell viele Online-Diskussionen nach der Veröffentlichung der RKI-Protokolle. Sie bestätigen zwar keineswegs die Extrempositionen der "Querdenker", lassen aber doch erkennen, dass ein Hinterfragen der Corona-Politik im einen oder anderen Punkt richtig war; und dass anfangs vielleicht unvermeidbare Fehler früher hätten zugegeben werden können.
Daraus macht nun jeder, was er möchte; und das Lagerdenken geht weiter. Moralischer Narzissmus und Beleidigungen inklusive. Online mag es leicht sein, nach der Flaute der Corona-Zeit neue "Freunde" zu finden und ein Gemeinschaftsgefühl zu erleben, wenn man sich in Diskussionen so verhält. Aber eben nur online.
Echte Resilienz lebt von starken sozialen Beziehungen im "Real Life"; von stabilen Freundschaften, die Meinungsverschiedenheiten aushalten, solange es nicht um eindeutig menschenverachtende Positionen geht – und dafür ist die miese Streitkultur, die von der politisch-medialen Klasse vorgelebt wird, eher Gift als Booster.