"Prophet des Freihandels"

Mit Pascal Lamy wurde jetzt ein französischer "Sozialist" zum Chef der Welthandelsorganisation WTO und damit zu einem der mächtigsten Männer der Welt

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"Stahlblick, Kahlschädel und spitze Ohren": Mit diesen charakteristischen Zügen beschreibt der Wiener Standard den neuen Chef der Welthandelsorganisation WTO, Pascal Lamy. Seine französischen Landsleute nennen ihn bevorzugt einen moine-soldat, einen Soldatenmönch, wegen seines angeblich asketischen Lebensstils ­ als bekannter Frühaufsteher und Marathonläufer, der aber auch seine fünf Zigarillos pro Tag nicht verschmäht ­ und wegen seines geradlinig-unbeirrbaren Eintretens für einen Glauben. Sein Religionsersatz, das ist die Vorstellung, dass mit Spielregeln, die aus technischer Rationalität und ökonomischem Effizienzstreben erwachsen und von internationalen Großorganisationen festgelegt werden, eine Verbesserung der Welt möglich sei. Die "Entwicklungsländer", so lautet das Credo des Monsieur Lamy, könnten davon nur profitieren, so dass der kommende ökonomische Aufschwung die Armut zurückdrängen werde.

Der 58jährige Franzose wurde heute in seinem neuen Amt bestätigt, das er am 1. September dieses Jahres in Genf antreten wird. Drei Mitbewerber um den Posten bei der Organisation, die sich hauptsächlich um die Förderung des internationalen Freihandels und den Abbau von Schranken für Kapital- und Warenflüsse kümmert, hatten im Laufe der mehrwöchigen "Sondierungsgespräche" aufgegeben. Die WTO hat 148 Mitgliedsstaaten, die im Konsens entscheiden müssen, oder eher: durch allmähliches Ausscheiden der am wenigsten konsensfähigen Lösungen. Deswegen ging der Ernennung des neuen WTO-Generaldirektors keine offene, eventuell kontrovers geführte politische Debatte voraus, sondern eine lange Abfolge von Kamingesprächen und "Green Room negotiations". Als letzter Gegenkandidat gegen Pascal Lamy, der durch die Europäische Union unterstützt wurde, schied vor 14 Tagen der Uruguayaner Carlos Perez del Castillo aus dem Rennen. Bereits zuvor hatten Luis Felipe de Seixas Correa aus Brasilien und Jayen Cuttaree, von der Insel Mauritius, wegen erkennbarer Chancenlosigkeit das Handtuch geworfen.

Nun ist Pascal Lamy einer der wohl de facto mächtigsten Männer des Planeten. Dabei hatte er zuvor den Sprung in andere internationale Ämter verpasst, weil es ihm zu Hause an Unterstützung seitens von Staatspräsident Jacques Chirac fehlte. Im vorigen Jahr hatten die wirtschaftsliberalen Regierungschefs Gerhard Schröder, Tony Blair und der irische Premierminister Bertie Ahern den Franzosen zum neuen Präsidenten der EU-Kommission, als Nachfolger des Italieners Romano Prodi, aufbauen wollen. Doch Chirac wollte auf diesem Ohr lieber taub bleiben, wie Le Canard enchaîné in seiner Ausgabe vom 25. Mai enthüllte. Und auch den Chefposten beim IWF verfehlte Lamy aus ähnlichen Gründen, nachdem er am Ende seiner Amtszeit als EU-Kommissar für den Außenhandel in der Prodi-Kommission (1999 bis 2004) zu erkennen gegeben hatte, dass er für eine weitere internationale Karriere "zur Verfügung stehe". Chirac und die bürgerliche Regierung in Paris verziehen dem Mann nur schwer, dass er in seiner Brüsseler Amtszeit das Freihandels-Credo ­ etwa im Agrar- und Kulturbereich ­ oder das Festhalten am mittlerweile aufgeweichten "Stabilitätspakt" auch dann konsequent weiter verfolgte, wenn französische Interessen dabei unter die Räder zu geraten drohten.

Doch dann zeichnete sich ein Kuhhandel zwischen den USA und der EU ab, nachdem die Europäer bei der von Washington betriebenen Ernennung von Paul Wolfowitz zum neuen Weltbank-Präsidenten stillgehalten hatten. Im Gegenzug deutete sich an, dass die Nordamerikaner bereit wären, einen durch die EU unterstützten Kandidaten für die WTO-Spitze zu unterstützen. Lamy ging auf internationale "Wahlkampf"-Tournee und warb etwa in Kairo und Dakar, wo man auf gute Wirtschaftsbeziehungen zur EU dringend angewiesen ist, für seine Kandidatur.

Öffnung der Märkte und Stärkung der EU

Pascal Lamy, Absolvent der beiden französischen Elitehochschulen HEC (Handel) und ENA ­ eine Kaderschmiede für Verwaltung und Politik -, hat seit 1969 eine Mitgliedskarte bei den französischen Sozialdemokraten. Er gilt als politisches Ziehkind von Jacques Delors, der 1985 als Kommissionspräsident nach Brüssel ging und dem Lamy dorthin als Kabinettschef folgte. Sein politisches Programm besteht aus einer Mixtur aus Glauben an technokratische "Regulierungen" der Wirtschaft und Unterstützung für den ungezügelten Freihandel. Die Financial Times Deutschland bezeichnet ihn deswegen als "französischen Freihändler", der Standard als "Propheten des Freihandels".

Tatsächlich konnte Lamy sich gerade mit diesem Credo bei den Regierungen des Südens beliebt machen, indem er ihnen glaubhaft machte, damit auch den Finger auf die Widersprüche im Verhalten der hochentwickelten Staaten des Nordens zu legen.

Denn deren Regierungen sind regelmäßig Anhänger des Freihandelsprinzips, solange es darum geht, von anderen ­ und vor allem von wirtschaftlich schwächeren ­ Ländern eine Öffnung ihrer Märkte und den Abbau von Schutzmaßnahmen für ihre Ökonomien zu sorgen. Der Verfassungsvertrag der EU sieht beispielsweise in seinem Artikel III-314 explizit einen Beitrag der EU zur "Entwicklung des Welthandels, zur zunehmenden Abschaffung von Hemmnissen für den internationalen Austausch und für Direktinvestitionen" vor. Gleichzeitig sieht der umstrittene Text etwa in seinem Artikel I-3 als "Ziele der Union" vor, "in ihren Beziehungen zum Rest der Welt ihre Werte und Interesse zu befördern".

Damit ist vor allem gemeint, dass die Länder des Südens für die Wirtschaftsinteressen des hochentwickelten Europas "offen" zu sein haben. Aber sobald Produkte aus den Ländern des Südens die europäischen Märkte zu "erobern" drohen, wie etwa Agrarerzeugnisse oder aktuell die chinesischen Textilien, greift auch die EU häufig zu protektionistischen Maßnahmen oder subventioniert ihre eigene Agroindustrie. Darin liegt tatsächlich ein gerüttelt Maß an Heuchelei. Indem er letztere zu attackieren vorgab und für eine Förderung der Exporte aus asiatischen oder lateinamerikanischen Ländern nach Europa eintrat, konnte Lamy bei vielen dortigen Regierungen ein offenes Ohr und Unterstützung für seine WTO-Bewerbung gewinnen.

Nicht übersehen werden darf dabei jedoch die Kehrseite seines Programms, soweit er es ernst damit meint: Die von Lamy proklamierte Ankurbelung der Exportindustrien des Südens bedeutet auch eine schädliche Zurichtung der Ökonomien dieser Länder, die darauf hinaus läuft, etwa Monokulturen ­ wie den Erdnussanbau in der Sahelzone oderdie Sojaproduktion in Brasilien ­ zu fördern und eine Konzentration der « unterentwickelten » Länder auf ihre eigene Bedürfnisse zu verhindern.

Dabei ist im Übrigen auch Lamy keineswegs ein wirtschaftsliberaler "Internationalist", sondern denkt stets daran, die EU als wirtschaftliche Großmacht zu stärken. So tritt er etwa für eine préférence communautair ein, also eine "Bevorzugung von Gemeinschaftsprodukten", die zur Ankurbelung des Handels vorrangig innerhalb der EU führen soll. Die Webpage www.liberalismus.at - die für einen konsequent marktfundamentalistischen Wirtschaftsliberalismus wirbt - schimpft deswegen auch über Lamy, dieser sei ein "Edelbürokrat", ja sogar ein "kollektivistischer Merkantalist", was als eine schlimme Beschimpfung gemeint ist.

In einem Interview im Figaro, in dem Lamy vor sechs Wochen die renitenten Franzosen zur Annahme des EU-Verfassungsauftrags aufrief, blickte der Mann auf seine Zeit in Brüssel zurück:

Als ich EU-Kommissar war, verbrachte ich die Hälfte meiner Zeit außerhalb Europas. Ich weiß, was für Hoffnungen der Aufbau Europas in Lateinamerika, Afrika und sogar in Asien weckt: Eine Welt, in der nicht nur Amerikaner, Chinesen und Inder ein Gewicht haben.

In einer globalisierten "Welt von Elefanten", so Lamy, sei "Europa" von Nöten. Das bedeutet ungefähr so viel wie: Wir basteln uns eine Großmacht.

Seine Elefanten-Metapher hatte Pascal Lamy bereits 2001 schon einmal verwendet, in einem Gespräch mit einem Gespräch mit dem konservativ-liberalen Wochenmagazin L¹Express. Damals äußerte er sich kritisch zur nordamerikanischen Freihandelszone, die "ein ungleiches Spiel" darstelle: "Auf der einen Seite ein Elefant, die USA, und auf der anderen Seite zwei wesentlich kleinere Tiere: Kanada und Mexiko." Das stimmt natürlich, gilt aber insbesondere auch für die Wirtschaftsbeziehungen der EU. In diesem Licht sind Lamys schöne Worte in einem weiteren Interview mit L¹Express vom Februar 05 auszulegen:

Bei der WTO gibt es 148 Mitgliedsländer. (...) Alle Länder sind gleichberechtigt, aber einige sind gleicher als die anderen.