Propheten, Reiniger, Interessenvertreter?

Aufstieg und Probleme der Piratenpartei offenbaren Einsichten in die Entstehungsbedingungen neuer Parteien

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Die 17. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages stand zu weiten Teilen im Zeichen der Piratenpartei - und dies, obwohl die 2006 gegründete Formation nicht mit Abgeordneten in Berlin vertreten war. Die Piraten hatten im Vorfeld des Bundestagswahlkampfs 2009 auf sich aufmerksam und das Themenfeld der "Netzpolitik" salonfähig gemacht. In der Folgezeit gelang es den Piraten nicht nur eine beträchtliche Zahl an Neumitgliedern zu rekrutieren und eine in Teilen innovative Organisationsstruktur zu entwickeln, sondern auch bei vier Landtagswahlen (Berlin, Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen) die Fünf-Prozent-Hürde zu meistern. Jedoch ist die Entwicklung der Piratenpartei in Deutschland keineswegs eine reine Erfolgsgeschichte: Interne Macht- und Positionskämpfe, Konfliktaustragung in und mit den Medien, Sexismus- und Extremismusvorwürfe oder herkömmliche Flügelkämpfe haben die Piraten als ebenso neuen wie unkontrollierbaren Faktor in der deutsche Parteienlandschaft erscheinen lassen.

Der nachfolgende Essay skizziert zunächst knapp die Entwicklung der Parteiorganisation und fragt dann nach den spezifischen Gründen für den schnellen Aufschwung und den - scheinbar - ebenso rapiden Absturz. Als Orientierungspunkt gilt dabei der Ansatz des niederländischen Politikwissenschaftlers Paul Lucardie, der neu entstehende Parteien entlang eines dreigliedrigen Schemas geordnet hat: Propheten, Reiniger und Interessenvertreter.1

Die Piratenpartei aus der Sicht der Parteienforschung

Für eine politikwissenschaftliche Betrachtung bieten sich unterschiedliche Blickwinkel an, die sich durchaus von den bisweilen aufgeregten und auf das politische Tagesgeschäft konzentrierten journalistischen Beiträgen unterscheiden. Neben dem Organisationsaufbau und Mitgliederentwicklung spielen programmatische Ausrichtung sowie parteiinterne Entscheidungsprozesse eine wichtige Rolle. Auch die Wechselwirkung mit der allgemeinen Dynamik des Parteiensystems ist zu berücksichtigen, ebenso die Entstehung von Machtzentren innerhalb der föderalen Organisationsstruktur.2

Der Impuls zur Parteigründung im September 2006 ging von der schwedischen Piratpartiet aus, die sich zu Beginn desselben Jahres formiert hatte. Nach den ersten, erfolglosen Wahlkämpfen auf Länderebene führte die Debatte um das Zugangserschwerungsgesetz3 im Vorfeld der Bundestagswahl 2009 zu größerer Bekanntheit und sorgte letztlich für den "Durchbruch". Auch mit nur 2,0 Prozent der Stimmanteile gerieten die Piraten in den Fokus der Öffentlichkeit und konnten fortan ihren Status als "Kleinstpartei" festigen.

Das Anwachsen des Mitgliederkorpus vollzog sich in bislang fünf Abschnitten. Auf die Gründungsphase (2006-2009, am Ende ca. 1000 Mitglieder) folgte eine erste explosive Wachstumsphase (Juni bis September 2009, ca. 12.000). Daran schloss sich eine zweijährige Stabilisierungsphase an, ehe mit dem Erfolg bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus die zweite Wachstumsphase einsetzte (September 2011 bis Juli 2012, ca. 33.000). Seitdem stagnieren die Mitgliederzahlen und parallel zum drastischen Abschwung in den Meinungsumfragen zu Beginn 2013 gehen sie leicht zurück.

Dennoch ist festzuhalten, dass die Entwicklung der Piratenpartei einen deutlichen Kontrapunkt zu den Mitgliederparteien in Deutschland darstellt - während bei den etablierten Parteien auf Bundesebene die Zahlen rückläufig sind (eine Ausnahme bildet Bündnis 90/Die Grünen)4, ist es den Piraten gelungen, Menschen zur aktiven Mitarbeit in einer politischen Partei zu bewegen. Dabei liegt das Durchschnittsalter der Piraten bei nur knapp über 30 Jahren, in den übrigen Parteien ist diese Alterskohorte meist nur noch im einstelligen Prozentbereich vertreten.

Programmatisch standen in der Gründungsphase für die Piratenpartei nahezu ausschließlich internet-bezogene Themen im Vordergrund (z.B. Datenschutz, Urheberrecht, Software-Patente, Open Access). Mit dem Wachstumsprozess geht jedoch eine Differenzierung einher. Neben Sachthemen spielen auch Fragen zur Organisation politischer Prozesse, die Herstellung von und der Umgang mit Transparenz sowie innerparteiliche Kommunikation und Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle.

Diese Ausweitung der Themen dürfte sich auch im Wahlprogramm zur Bundestagswahl zeigen, darauf deutet etwa die ausführliche Debatte zu wirtschaftspolitischen Grundsätzen auf dem Bundesparteitag im November 2012 in Bochum hin. Aber auch der Bereich der "Netzpolitik" könnte im Bundestagswahlkampf eine Renaissance erfahren - schließlich sind mit dem Leistungsschutzrecht für Verlage, Vorratsdatenspeicherung, Netzneutralität oder dem Einsatz von Überwachungstechnologien mehrere Themen Gegenstand öffentlicher Diskussionen, die im programmatischen Kernbereich der Piratenpartei liegen.

Ein wichtiges Merkmal der Abgrenzung gegenüber den etablierten Parteien sind die Besonderheiten der Parteienorganisation und -kommunikation, die sich im Laufe der letzten Jahre zu einem wesentlichen Alleinstellungsmerkmal entwickelt haben. Von Beginn an wird die Piratenpartei von einem ehrenamtlichen Vorstand geführt, der im Jahresrhythmus neu gewählt wird. Durch das Fehlen eines herkömmlichen Delegiertensystems soll eine breite Beteiligung der Mitgliederbasis sowohl an der Personalauswahl wie auch an thematischen Debatten garantiert werden.5

Das Organisationsleben der Piratenpartei wird bestimmt von der Arbeit in lokalen Kleingruppen ("Crews") sowie themen-basierten Kooperationen ("Arbeitsgruppen"). Ein wichtiges Rückgrat ist dabei das Piratenwiki, in dem die vielfältigen Aktivitäten dokumentiert werden. Außerdem werden darüber auch innerparteiliche Entscheidungen koordiniert, die - wie bei den herkömmlichen Parteien - vom Bundesparteitag als oberstem Parteiorgan beschlossen werden. Die massive Nutzung der Online-Kommunikation im Vorfeld der Entscheidungen hat bislang einen wesentlichen Beitrag zur internen Stabilisierung der Piratenpartei geliefert.6

Die Digitalisierung der Parteienkommunikation zeigt sich auch in der Nutzung der Plattform "Liquid Feedback", die von gut einem Drittel der Parteimitglieder als Werkzeug zur organisationsinternen Entscheidungskommunikation eingesetzt wird. Auf dieser Plattform können Mitglieder Fragen und Anträge zur Programmentwicklung, Parteiorganisation oder dem politischen Tagesgeschäft stellen, die dann von anderen Nutzern bewertet und diskutiert werden können. Innerhalb des Systems sind auch Stimmrechtsübertragungen an andere Mitglieder möglich, die dann als "Superdelegierte" abstimmen und dadurch Einfluss auf die innerparteilichen Entscheidungsprozesse nehmen können.7

Wenngleich das System keineswegs flächendeckend eingesetzt wird, dient diese Praxis inzwischen auch anderen Parteien als Vorbild zur Modernisierung der Parteienkommunikation. Eingeprägt hat sich für die Summe derartiger digitaler Innovationen der Begriff der "Liquid Democracy" als neuartige Verbindung von Elementen direkter und repräsentativer Demokratie unter Zuhilfenahme digitaler, interaktiver Medienumgebungen.8

Innerhalb der Piratenpartei wird inzwischen diskutiert, anstelle punktueller großer Parteitage eine "Ständige Mitgliederversammlung" als neues Entscheidungsorgan zu etablieren. Dies würde einen konsequenten, aber auch risikobehafteten Entwicklungsschritt darstellen, der sich allein durch einen Ausbau der digitalen Kommunikations- und Organisationswerkzeuge realisieren ließe.9

Piraten punkten in allen drei Dimensionen

Entlang der Dreiteilung von Lucardie ergeben sich nun verschiedene Zugänge, um die Besonderheiten der Piratenpartei Deutschland in den Blick zu nehmen. Die Entstehung neuer Parteien hängt von einer Vielzahl einzelner Faktoren ab, die aus der Sicht der Parteienforschung jedoch gut integriert werden können. Als zentral gilt dabei zunächst ein erkennbares politisches Projekt, das ein von möglichst vielen Bürgern wahrgenommenes gesellschaftliches Problem adressiert.

Wichtig ist des weiteren der Zugriff auf wesentliche Ressourcen wie Mitglieder, finanzielle Mittel, Führungskräfte und Verwaltung sowie mediale Aufmerksamkeit. Schließlich spielt auch die politische Gelegenheitsstruktur eine wichtige Rolle: Durchlebt das etablierte Parteienpersonal gerade eine Krise oder ist das politische System als Ganzes in einer Krisensituation?10

Bereits mit Blick auf die knappe Skizzierung der Parteientwicklung lässt sich festhalten, dass die Piraten in allen drei Dimensionen punkten können - darüber hinaus scheinen sich die Alleinstellungsmerkmale in besonderer Weise miteinander zu verschränken.

So ließe sich vordergründig die thematische Fokussierung auf das Internet und das neu entstehende Politikfeld "Netzpolitik" als das neue politische Projekt verstehen, das das Aufkommen der Piraten begünstigt. Hier wäre die "prophetische" Qualität der neuen Politik angesiedelt: Für immer mehr Menschen ist das Internet zu einem wichtigen Bestandteil der Lebenswelt geworden. Allein, die "herkömmliche" Politik hat das bislang nicht verstanden und irritiert durch fragwürdige Entscheidungen, die sich nicht mit der gesellschaftlichen Akzeptanz des digitalen Medienraums vertragen (z.B. Internetsperren, Jugendmedienschutz, Urheberrecht, Informationsfreiheit).

Folglich erscheint die Piratenpartei als Expertin für das neue Feld der digitalen Bürgerrechte, die zunächst als Ein-Themen-Partei auf sich aufmerksam macht und die etablierten Parteien in diesem Feld inhaltlich antreibt. Beispiele hierfür liefern die Einrichtung der Enquete-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" und die damit verbundenen innerparteilichen Karriereschübe der so genannten "Netzpolitiker", die nun zwar als Sachverständige gefragt sind, jedoch über keine große strategische Entscheidungsmacht innerhalb der eigenen Partei verfügen.

Neben einer klassischen Politikfeld-Orientierung können die Piraten aber noch mit einem zweiten "prophetischen" Projekt aufwarten: die Forderung nach mehr Beteiligung an demokratischen Prozessen durchzieht die programmatischen Texte und den praktischen Partei-Alltag. Unter der Überschrift "Mehr Demokratie wagen" formulieren die Piraten gleich zu Beginn des Grundsatzprogramms wichtige Leitsätze für die Verbesserung der Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger, die sie in ihrer eigenen Organisationsform umsetzen wollen.

Die daraus resultierende Absage an ein Delegiertensystem eröffnet einfachen Mitgliedern den schnellen Zugang zu Entscheidungsprozessen und führt zu einer Stärkung der Parteibasis. Längst nicht immer produktive Folgen davon sind die relative Schwäche der allmählich enstehenden Parteieliten (Landes- und Bundesvorstände, prominente Abgeordnete) sowie die Schwierigkeiten im offenen Entscheidungsverfahren etwa bei Landes- oder Bundesparteitagen.

Dieser partizipative Grundmodus enthält neben dem "prophetischen" Charakter aber auch Anteile des "Reinigungsansatzes", der nach Lucardie ebenfalls zu erfolgreichen Parteiwerdungsprozessen beitragen kann. Wenngleich die "purifier" im Original eher die Rückbesinnung auf zentrale Werte einer schon vorhandenen Ideologie im Blick haben (wie etwa die Linkspartei im Verhältnis zur SPD), so lässt sich die Positionierung der Piraten als neue "Anti-Parteien-Partei" ebenfalls als Herausforderung verstehen. Gerade in der Gegenüberstellung mit dem Aufkommen der Grünen in den frühen 1980er Jahren liegt der Schlüssel zum Verständnis dieser Innovations-Perspektive - die Piratenpartei formuliert keinen Erneuerungsanspruch, der auf das Vergessen althergebrachter Ideale und Vorstellungen zielt, sie kritisiert stattdessen die Verkrustung und Ermattung des politischen Systems durch die etablierten Parteien insgesamt.

Insofern erscheinen Entrüstung und Aktivität, mit der gerade die Grünen auf die neue Konkurrenz reagieren, besonders nachvollziehbar: Vormals selbst angetreten mit dem Anspruch, das überkommene Parteienregime zu reformieren, werden sie nun selbst mit einer Kritik konfrontiert, die sie als neo-bürgerliche, staatstragende Partei kennzeichnet.

Den vergleichsweise schwächsten Anteil im Innovationsprofil der Piratenpartei nimmt der Bereich der Interessenvertretung ein ("prolocutor"), allerdings ist dieses Segment mit dem politischen Projekt der digitalen Bürgerrechte verbunden. Die Tatsache, dass die Piratenpartei sowohl bei den Mitgliedern wie auch in der Wählerschaft einen vergleichsweise niedrigen Altersschnitt aufweist, deutet darauf hin, dass entlang der Nutzung digitaler Kommunikationsräume eine Art medialisierter Generationenkonflikt entsteht (in der öffentlichen Debatte zeigt sich diese Entwicklung in der plakativen Gegenüberstellung von "digital natives" und "digital immigrants").

Vertretungsangebote für eine wachsende Gruppe von jungen Menschen

In der - mit Blick auf programmatische Breite und (parteien)systemkritischen Impetus nur vordergründig richtigen - Einschätzung als "Internetpartei" ließe sich entlang der Thesen von Lucardie ein dritter Aspekt markieren. Die Piratenpartei formuliert Vertretungsangebote für eine wachsende Gruppe von (jungen) Menschen, die sich von der etablierten Parteienpolitik gerade dann nicht mehr gut vertreten fühlt, wenn es um die Regulierung des Kommunikationsraums Internet geht.11

Bereits diese skizzenhafte Diskussion von Lucardies "Theorie zur Entstehung neuer Parteien" macht deutlich, dass es sich bei der Piratenpartei nicht um einen Vertreter einer einzelnen Innovations-Kategorie handelt, sondern dass sich die verschiedenen Erfolgsmerkmale überschneiden und bündeln. Die Piratenpartei vereint demnach sowohl "prophetische", "reinigende" und "interessenorienterte" Elemente, die zu einer erfolgreichen Etablierung im Parteiensystem beitragen können. Wie sich aber an der jüngsten Entwicklung in den Meinungsumfragen im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 zeigt, ist diese Affinität zur Parteientheorie nicht unbedingt ein Garant für den Fortgang der Erfolgsgeschichte.

Möglicherweise ist gerade diese mehrfache Anschlussfähigkeit der Piratenpartei ein Problem: Sind die internen Konflikte, die aus den bisweilen sehr radikalen Modernisierungsansprüchen (z.B. "liquid democracy" als Alternative zu repräsentativen Vertretungsorganen) entstehen, vielleicht zu groß für eine "gesunde" Etablierung im politischen System? Die Vernachlässigung von Vertretungsansprüchen (prolocutor-Ebene) oder das Festhalten an nicht umsetzbaren Ideen und Idealen (Entscheidungsprozesse, Organisations- und Führungsstruktur) kann durchaus zu einem Rückgang wichtiger Ressourcen wie Personal, Geld und Aufmerksamkeit führen und die nachhaltige Organisation der Partei beeinträchtigen.

Insofern bleibt festzuhalten, dass die Piratenpartei Deutschland zwar in mehreren politikwissenschaftlich relevanten Dimensionen für einen erfolgreichen Etablierungsprozess gewappnet scheint - doch führt gerade diese Flexibilität auch zu internen und externen Störeffekten. Besonders interessant erscheint daher die Frage, ob Teile der Piratenpartei nicht schon jetzt auf diese Entwicklung reagieren: Geben die gewählten Fraktionen Teile ihres "prophetischen Anspruchs" auf, wenn sie sich dem Arbeitsalltag der Länderparlamente beugen? Wie wird der Gegensatz von analoger Steuerbarkeit durch Professionalisierung und digitaler Innovation durch "liquid democracy" gelöst?

Anders als es die im ersten Quartal 2013 dauerhaft sinkenden Umfragedaten anzeigen, ist die Piratenpartei aus einer parteientheoretischen Perspektive längst kein "fallendes Messer", in das man nicht greifen sollte - die Politikwissenschaft kann sowohl aus der jetzt schon recht aufschlussreichen Geschichte der deutschen Parteiorganisation, wie auch den noch sehr viel jüngeren und kleineren Piratenparteien in Europa und anderswo viel Neues über die Rahmenbedingungen zur Entstehung neuer Parteien erfahren.

Literaturangaben