Psychiatrie: Gebt das medizinische Modell endlich auf!
Seite 2: Kulturgeschichte der Störungen
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Kulturelle Ansichten ändern sich aber. Im 19. Jahrhundert war zum Beispiel die Diagnose Neurasthenie (Nervenschwäche) verbreitet und galt als Zivilisationskrankheit. Entspricht das dem heutigen Burnout? Wobei die einschlägigen Diagnosehandbücher Burnout - bisher - nicht als gültige Kategorie ansehen. Dennoch führt es seit den 1970er-Jahren ein Eigenleben und ist in aller Munde. Das haben wir gerade wieder beim Bericht der KHH gesehen. Scheinbar haben heute schon Kinder und Jugendliche solche Probleme.
Im frühen 20. Jahrhundert war die Hysterie noch eine häufige Diagnose, vor allem bei jungen, alleinstehenden Frauen. Inzwischen ist sie gänzlich verschwunden. Anorexia nervosa, zu Deutsch Magersucht, hat hier allerdings ihre Wurzeln. In den 1970er und 1980er-Jahren wurden häufig multiple Persönlichkeiten diagnostiziert. Heute spricht man von der dissoziativen Identitätsstörung und die Diagnose wird viel seltener gestellt.
Störungsbilder kommen und gehen
Bis in die 1970er-Jahre sah man auch Homosexualität als behandlungsbedürftige psychische Störung an, in manchen Ländern bis heute. Schließlich musste man einräumen, dass Lesben und Schwule nicht unter ihrer sexuellen Orientierung litten, sondern unter sozialer Ausgrenzung. Aus diesem Lernprozess ging das heute etablierte Verständnis von psychischen Störungen einher.
Inzwischen ging die in den letzten Dekaden häufiger diagnostizierte Asperger-Störung in einem breiteren Autismus-Spektrum auf. Die genannten Aufmerksamkeitsstörungen wurden auch immer häufiger festgestellt. Bis zu zehn Prozent der Kinder und nun auch der Erwachsenen sollen davon betroffen sein. Einen objektiven Test gibt es hierfür nicht. Die häufig verschriebenen Stimulanzien wirken auch auf die Motivation.
Trans- und Intersexualität sind vielleicht die nächsten Kategorien, die man aus den psychiatrischen Diagnosehandbüchern streicht. Immer mehr Experten plädieren auch dafür, die schlimme Diagnose Schizophrenie durch Psychose-Risiko-Störung zu ersetzen. Im Gegenzug erwarten manche Fachleute, dass Einsamkeit bald als psychische Störung aufgefasst wird. Wo man auch hinschaut: Kriterien und Diagnosen verändern sich.
Störungsbild vs. subjektives Leiden
Es ist wichtig, aus diesen Überlegungen nicht die falschen Schlussfolgerungen zu ziehen: Auch wenn die Diagnosekategorien von Experten beschlossen werden und kulturell vermittelt sind, wird damit nicht das psychische Leiden an sich in Zweifel gezogen. Man sollte hierbei auch berücksichtigen, dass die Psychiatrie nicht viel älter als 200 Jahre ist. Früher wurde psychisches Leiden anders gedeutet und gingen Menschen anders damit um.
Dabei ist das biologische Denken nicht ganz neu: Schon Wilhelm Griesinger (1817-1868) formulierte vor über 170 Jahren eine Gehirntheorie psychischer Störungen. Ähnliche Gedanken lassen sich sogar bis in die Antike zurückverfolgen, nämlich zu Hippokrates' Säftelehre (Humoralpathologie).
Im DSM unterscheidet man hunderte von Störungen. Dass sich keine einzige davon biomedizinisch diagnostizieren lässt, sollte den Psychiatern eigentlich zu denken geben. Doch wie wir gesehen haben, deutet man Befunde im Sinne des herrschenden Paradigmas um. So immunisiert man sich gegen anderslautende Daten und stabilisiert den eigenen Ansatz, an dem Karrieren hängen - und sehr viel Geld.
Körper, Psyche und Gesellschaft
Die bereits erwähnte Stiftung Depressionshilfe betreibt Lobby-Arbeit für das biologische Denken in der Psychiatrie. Dabei sind gerade bei Depressionen psychosoziale Einflüsse um ein Vielfaches stärker. Das wurde auch wissenschaftlich immer wieder bestätigt und hier 2017 bereits im Artikel "Was sind Ursachen von Depressionen?" ausgeführt.
Wären Antidepressiva die Glückspillen, als die man sie jahrzehntelang bewarb, würden die Probleme auch nicht immer weiter zunehmen. Natürlich spielen Biologie, Gene und Gehirn eine Rolle. Wir sind eben Körperwesen. Auch das Schreiben beziehungsweise Lesen dieses Artikels wird erst durch ein funktionierendes Nervensystem ermöglicht. Das macht die Unterscheidung zwischen normalen und abnormalen Zuständen aber nicht biologisch. Diese wird immer von Menschen getroffen. Es geht um Normen.
Vereinzelt gibt es körperlich identifizierbare Probleme, die mit psychischen Problemen einhergehen, beispielsweise eine Entzündung im Gehirn oder eine hormonelle Erkrankung. Der Freiburger Neuropsychiater Ludger Tebartz van Elst berichtete mir in einem Interview im Juli 2020 von der Grundlagenforschung auf diesem Gebiet. Er räumte aber auch ein, dass hinter dem starken Fokus auf biologische Methoden oft Karriereinteressen stehen.
Das Nachsehen haben Patientinnen und Patienten, die warten, dass Gen- und Mäuseforscher in weltfremden Experimenten die neuronalen Mechanismen psychischer Störungen finden, die es gar nicht gibt. Beliebt sind auch Spaßexperimente, die sich zwar gut im Lebenslauf machen, aber eigentlich gar nichts mit Psychiatrie zu tun haben.
Der richtige Ansatz ist das biopsychosoziale Modell, das Körper, Psyche und Gesellschaft einbezieht. Dazu passen die drei Säulen der praktischen Psychiatrie: Biologie, Psychotherapie und Sozialarbeit. Was heißt das nun für den jahre-, ja jahrzehntelangen Anstieg psychologisch-psychiatrischer Diagnosen?
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