Psychiatrie: Gebt das medizinische Modell endlich auf!

Seite 3: Körper und Normen

Man muss erst einmal mit dem Vorurteil aufräumen, dass psychisches Leiden nur dann echt ist, wenn es sich biologisch nachweisen lässt. Auch wenn Sie sich mit Freunden verabreden oder jemand sagt, er möge Sie, fordern Sie hierfür keinen Beweis aus dem Hirnscanner. Es gäbe ihn auch gar nicht, weil unsere sozialen Normen eigenständig existieren und sich nicht auf die Biologie reduzieren lassen.

Der biomedizinische Ansatz beziehungsweise das medizinische Modell ist gerade nicht die Lösung dafür, dass psychisches Leiden weniger ernst genommen wird, sondern Ursache dieses Problems. Denn nur wenn man Menschen einbläut, es müsse biologische Entsprechungen für ihre Probleme geben, vermisst man sie. (Wer weiter ausholen will, möge bei Michel Foucault über Biomacht nachlesen.)

Aus jahrzehntelanger wissenschaftlicher Forschung wissen wir, welche Faktoren das psychische Wohlbefinden beeinflussen: unter anderem schlimme Lebensereignisse wie Traumata oder Verluste, Teilhabe am Wohlstand, Zugang zu Gesundheitsversorgung, der Partnerschaftsstatus, das Geschlecht und Alter. Diese robusten Ergebnisse wurden vom biomedizinischen Ansatz nicht widerlegt, sondern nur verdrängt.

Inwieweit sich der Anstieg der Diagnosen auf Veränderungen im sozialen Gefüge zurückführen lässt, ist damit eine wissenschaftlich erforschbare Frage. Und zwar mit echten Menschen, nicht genetisch modifizierten Nagetieren, die noch nicht einmal ihre eigene Spezies repräsentieren. Dazu kommt natürlich, dass Menschen auch immer ausführlicher über psychische Störungen informiert werden und daher auch eher die Neigung dazu haben, ihre Probleme so zu deuten.

Spezialistentum

Daran haben nicht nur Psychiater, sondern auch klinische Psychologen und Coaches aller Couleur finanzielle Interessen. Damit will ich nicht in Abrede stellen, dass viele dieser Spezialisten anderen Menschen aufrichtig helfen wollen. Obwohl wir aber in vielen westeuropäischen Ländern im weltweiten Vergleich die meisten Psychologen und Psychiater pro Kopf haben, bekommen wir die Probleme einfach nicht in den Griff.

Wie viel mehr Kliniker sollen wir noch ausbilden? Auch unser Psychologisches Institut platzt aus allen Nähten. Ich muss inzwischen für bis zu 600 Studierende pro Kurs Vorlesungen halten. Egal, wie viele Spezialisten es aber gibt, es scheinen immer zu wenige zu sein.

Anstatt immer mehr Menschen zum Arzt oder Psychologen zu schicken, sollte man sie besser in die Lage versetzen, ihre Probleme selbst zu lösen. Mit Prävention ließe sich wahrscheinlich auch unvorstellbar viel erreichen. Wir könnten beispielsweise chronischen Stress verringern - stattdessen wird uns eingetrichtert, ihn möglichst intelligent zu managen. Dabei enthält der Standpunkt der heutigen Gesundheitspsychologie auch ein Körnchen Wahrheit: Wer chronischen Stress hat und dann auch noch denkt, wie schlimm das sei, den trifft es wahrscheinlich am härtesten.

Psyche und Corona

Dass so viel mehr Menschen durch die Corona-Pandemie psychische Probleme erfahren, hängt auch am Wegbrechen von Strukturen. Das geht immer mit Unsicherheit einher. Gerade dann, wenn man solche einschneidenden Veränderungen nicht gewohnt ist.

Das permanente Verbreiten von Angst (und Stress) trägt sein Übriges dazu bei: Man hätte den Menschen auch vermitteln können, dass ihre Körper bereits drei Abwehrlinien gegen Krankheiten haben - und Maßnahmen wie Mundschutz und Abstandhalten eine vierte, soziale Abwehrlinie errichten. Wer dennoch ernsthaft krank wird, für den steht eines der modernsten Gesundheitssysteme der Welt bereit: mit der fünften Abwehrlinie der Biomedizin.

Zudem bedingen körperliche und psychische Gesundheit einander, Stichwort: Psychoimmunologie. Den Placebo-Effekt beispielsweise durch Hoffnung sollte man nicht unterschätzen - er half der Menschheit schon lange vor Ankunft der modernen Medizin. Noch heute sehen wir, dass spirituelle und religiöse Menschen oft widerstandsfähiger sind. Das gilt leider aber auch mit umgekehrtem Vorzeichen: Permanente Verängstigung, Verunsicherung und Stress verschlechtern die Gesundheit (Nocebo-Effekt).

Die tagtägliche Leistung klinischer Psychologen oder Psychiater soll hier kein Bisschen geschmälert werden: Deren Arbeitsbereich ist gerade so herausfordernd, weil es eben nicht nur um Biologie geht. Bei sehr schweren Symptomen können Medikamente zudem Leiden lindern und ein selbstständiges Leben ermöglichen. Insgesamt täte die Gesellschaft aber gut daran, ihren Umgang mit psychischem Leiden einmal grundsätzlich zu überdenken.

Das Subjektive wurde systematisch aus Wissenschaft und Medizin verdrängt. Es ist an der Zeit, diese wichtigen Gebiete für die Subjekte zurückzuerobern.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.

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