Psychische Störungen nehmen rapide zu

Wesentliche Ursachen sollen die durch die Informationstechnologien und die Globalisierung entstandenen Zwänge am Arbeitsplatz sein

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Immer mehr Menschen leiden an Stress und psychischen Krankheiten, häufig mitverursacht durch die Arbeit und die Veränderung der Arbeitsstrukturen, die durch die Globalisierung und die Informationstechnologien sich durchgesetzt haben. Die daraus entstehenden Kosten belasten die Staaten und die Unternehmen, warnt ein eben von der International Labour Organisation (ILO), veröffentlichter Bericht.

Der Bericht der UN-Organisation fasst verschiedene Untersuchungen zum Zustand der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz zusammen, die in Deutschland, Finnland, Großbritannien, Polen und den USA durchgeführt wurden. In allen Ländern haben die Belastung durch Stress sowie das Auftreten von Depressionen und des Burnout-Syndroms enorm zugenommen. Jeder 10. Arbeitnehmer sei bereits davon betroffen.

Vor allem aber hätten überall die Depressionen in "alarmierendem" Ausmaß zugenommen. Das könne zwar teilweise auf eine veränderte diagnostische Praxis und eine offenere Einstellung gegenüber psychischen Krankheiten zurückzuführen sein, würde aber nicht das gesamte Ausmaß des enormen Anstiegs erklären können. Nach dem Herzinfarkt ist Depression mittlerweile zur zweithäufigsten Krankheit geworden, die zur Arbeitsunfähigkeit führt. Und auch andere psychische, neurologische oder Verhaltensstörungen nehmen so schnell zu, dass sie demnächst hinsichtlich ausgefallener Arbeitszeiten aufgrund von vorzeitigem Tod oder Arbeitsunfähigkeit Verkehrsunfälle, Aids und Gewalttaten überrunden werden.

Arbeitsplatzunsicherheit und Flexibilisierung

In Deutschland beispielsweise gingen die "traditionellen" arbeitsbedingten Belastungen oder Erkrankungen durch Maschinenunfälle, Hitze oder Kälte, körperliche Überanstrengung oder Lärm in teils erheblichem Maß zurück, während psychosoziale Belastungen wie psychische Überbelastung, Zeitdruck, Stress oder Personalwechsel fast ebenso zunahmen. Vor allem die zunehmend geforderte Flexibilität führe aufgrund der Zusammenführung mehrer Jobs in einen, der Ergebnisorientierung, des Verschwimmens der Grenze zwischen Arbeit und Privatleben, der Überbelastung, der Unvorhersagbarkeit der Arbeitsanforderungen und der mangelnden Beachtung von Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz zu negativen Folgen.

Psychischer Stress, mangelnde Unterstützung durch Kollegen und Vorgesetzte, kaum Feedback und Anerkennung, hohe Leistungsbereitschaft und Verantwortungsübernahme und starke Identifizierung mit den Kunden oder Klienten führe zum wachsenden Problem des Burnouts, der in allen Berufen auftrete. Als Folge des Burnout treten auch Depressionen auf, die mindestens 6 Prozent aller Deutschen haben sollen. Depressionen würden heute in Deutschland 10 Mal häufiger auftreten als noch vor 50 Jahren, zudem würden die davon Betroffenen immer jünger.

Was die Ursachen für den wachsenden Stress betrifft, so werden diese für Deutschland, entsprechend aber auch bei den anderen Ländern, neben Arbeitsplatzunsicherheit vor allem in der Restrukturierung der Arbeit gesehen: "Dazu gehören Mechanisierung und Automatisierung ebenso wie der Einsatz von elektronischen Datenverabeitungs- und Kommunikationstechnologien, die weitreichende Veränderungen in Organisationen bewirken. Neue Tätigkeiten und Arbeitsplätze, eine größere Bedeutung der Teamarbeit, "just in time" und "lean production" sowie eine veränderte Arbeitsteilung aufgrund des Outsourcing haben einen signifikanten Einfluss auf den Stress am Arbeitsplatz. Auf der positiven Seite haben diese Veränderungen zur Verringerung der Monotonie, der Zunahme von Kooperation, Autonomie und Entscheidungskompetenz durch Gruppenarbeit und mehr Aufgaben geführt, die Wissen verlangen. Aber Stress durch Zeitdruck, Termine und Anforderungen im Hinblick auf Qualität, Quantität und größere Flexibilität nimmt zu."

Finnland liegt an der Spitze, was die dort geläufige Diagnose des Burnout angeht. Betroffen davon seien mehr als die Hälfte aller Angestellten, sieben Prozent schwer. Vor allem in Großbritannien und den USA wird der wachsende Stress auf den Druck zurückgeführt, mit den schnellen Veränderungen in der Informationstechnologie zurecht zu kommen und den steigenden Produktivitätsanforderungen nachzukommen. In Großbritannien sollen jährlich drei von zehn Angestellte unter einer psychischen Störung leiden. Eine Firma, die 1000 Angestellte hat, könne davon ausgehen, dass 200 bis 300 Menschen jährlich Depressionen und Angstkrankheiten erleben. Der ILO-Bericht geht davon aus, dass 20 Prozent aller Menschen psychisch gestört seien, und dass in Bälde weltweit über 300 Millionen Menschen an Depressionen erkrankt seien. Jetzt schon würden aufgrund von Depressionen jährlich 800000 Menschen Selbstmord begehen.

Psychische Krankheiten verursachen große gesellschaftliche und wirtschaftliche Kosten

Psychische Erkrankungen aber lassen auch hohe gesellschaftliche Kosten entstehen, die in die vielen Milliarden gehen sollen. So sollen der deutsche Wirtschaft jährlich Kosten von fünf Milliarden Mark durch Krankheitsausfälle wegen psychischer Störungen entstehen, bei denen die Menschen überdies auch länger krank geschrieben werden als bei anderen Erkrankungen. In den USA fließen allein in die Behandlung von Depressionen 40 Milliarden Dollar, durch die jährlich 200 Millionen Arbeitstage ausfallen. Und drei nis vierr Prozent des Bruttosozialprodukts der EU-Staaten werden für Probleme aufgewendet, die aus psychischen Störungen entstehen. In den USA sollen 40 Millionen Menschen psychische Störungen aufweisen, und 4 bis 5 Millionen werden als schwer psychisch krank bezeichnet.

Die Staaten und die Wirtschaft nehmen, so der ILO-Bericht, trotz der alarmierenden Zahlen psychische Krankheiten noch nicht Ernst genug, um präventive Maßnahmen einzuleiten oder die Arbeitsorganisation entsprechend zu verändern. Möglicherweise geht das, was durch Stress an Arbeitsproduktivität gewonnen werden kann, durch Krankheiten, Fehltage und Fehlentscheidungen wieder verloren.