"Querdenken" als Ausdruck der Polarisierung?
Seite 4: Vorschläge für einen Dialog
Es ist nicht Aufgabe dieses Artikels Gesprächsmöglichkeiten auszuloten. Ich will aber doch einige Voraussetzungen nennen, die ich jetzt einfach einmal als Thesen formuliere, ohne sie durchweg im Einzelnen zu belegen (was ich könnte).
Aufseiten der Mehrheitsbevölkerung, der Politik und der Medien wäre eine gelassenere und differenziertere Sicht erforderlich. "Querdenken" betont die Kollateralschäden der Restriktionsmaßnahmen und stellt sich auf die Seite der "Opfer". Das mag einseitig sein - die anderen Opfer der Pandemie scheinen weniger Mitgefühl zu erregen – und manchmal überzeichnet, aber das Grundanliegen ist respektabel.
Es kann niemanden gleichgültig lassen, dass Existenzen bedroht sind, wie schwierig es für sozial Benachteiligte ist, mit den Restriktionen umzugehen, welche gesundheitliche und psychische Schäden entstehen und was für eine Minderung der Lebensqualität ein Dauerausnahmezustand darstellt.
Dass eine zeitlich noch nicht absehbare Einschränkung der Grundrechte Gefahren in sich birgt, wird jeden Demokraten beunruhigen. Kritik an Regierungsmaßnahmen, die man sich oft differenzierter, flexibler und kreativer gewünscht hätte, hat seine Berechtigung.
Es ist auch so, dass die bisherigen Forschungsergebnisse zu den zur Debatte stehenden Fragen nicht immer gesichert sind und vieles unter Wissenschaftlern umstritten ist. Zudem verändert sich der Forschungsstand ständig. Die Beanspruchung der "Deutungshoheit" durch regierungsamtliche Einrichtungen, einige ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gehobene Wissenschaftler, manche Politiker und Journalisten sollte relativiert werden.
Ich persönlich habe auf Grund der Lektüre von "Querdenken"- Äußerungen den Eindruck, dass man zumindest selektiv mit "Fakten" zum Covid-19-Geschehen umgeht. Aber das wird sofort gespiegelt: Nein, die anderen verleugnen die Realität!
Doch das führt nicht weiter. Wir alle konstruieren unsere Wirklichkeit und täten in einer Demokratie gut daran, miteinander auf zivilisierte und sachbezogene Weise auszuhandeln, was "der Fall ist" und was gelten soll (was nicht heißen kann, dass alles verhandelbar ist). Auch "Querdenken" sollte auf die Beanspruchung der "Deutungshoheit" verzichten.
Es genügt nicht, sich immer wieder auf einige Wissenschaftler zu berufen (Ioannidis, Bhakdi), deren Veröffentlichungen umstritten und zumeist veraltet sind. Zumindest die führenden "Querdenker" müssten den Fortgang des wissenschaftlichen Diskurses offener und sorgfältiger mitverfolgen, um als kompetente Gesprächspartner ernst genommen zu werden. Es wird immer noch auf viel widerlegbaren oder unsicheren "Fakten" beharrt - allerdings auch auf der "anderen Seite".
Es ist nicht zu verleugnen, dass es begründete Stellungnahmen von Wissenschaftlern gibt, die "Querdenken" nahestehen und andere Folgerungen ziehen als die Mehrheit ihrer Kollegen. (Zum Beispiel Ines Kappstein in einer Meta-Studie zum "Mund-Nasen-Schutz in der Öffentlichkeit …" - gegen die sich allerdings manches einwenden lässt.)
Es erscheint nicht als richtig, wenn diese Wissenschaftler diskriminiert werden. Der angemessene wissenschaftliche Umgang mit "Abweichlern" ist Auseinandersetzung und gegebenenfalls Widerlegung.
Rücksichtsloses Verhalten verhindert Dialog
Eine Basisbewegung kann nur in die Bevölkerung hineinwirken, wenn sie sich nicht nur um die "Meinungshegemonie" in den eigenen Reihen bemüht, sondern auch um Außenwirksamkeit. Auf diese Weise haben Initiativen wie die "Indignados" oder die Klimaschutzbewegung große Bevölkerungsteile erreicht und für ihre Anliegen gewonnen. Es gelang ihnen auch die Politik zu beeinflussen.
Mit Demonstrationen, in denen Abstandswahrung und Maskenschutz nicht gewahrt werden - was möglicherweise der Virenverbreitung Vorschub leistet - wird "Querdenken" nicht den Beifall der Öffentlichkeit gewinnen. Das als Verhalten "mündiger" Bürger auszugeben, überzeugt nicht. Man kann es auch als "Rücksichtslosigkeit" und als Widerspruch zur Liebes- und Empathie-Rhetorik ansehen.
Angriffe gegen Journalisten werden diese kaum zu einer verständnisvollen Berichterstattung animieren und stehen im Widerspruch zur erklärten Gewaltfreiheit, ganz abgesehen davon, dass ein Grundrecht beschädigt wird. Ebenso wird die Unterstellung, die nicht mitziehende Bevölkerung bestünde nur aus regierungshörigen "Untertanen" von dieser nicht goutiert werden.
Eine gewagte Unterstellung ist auch der pauschale Vorwurf, die etablierten Medien seien regierungsbeflissen. Das alles verkennt das kritische und demokratische Potenzial in der Bevölkerung und in den Medien. Es gibt noch andere Richtungen der Regierungs- und Systemkritik als "Querdenken" sie betreibt. (Kritisch sehen zum Beispiel – und sogar darüber wütend werden – kann man die inkonsequenten und halben Maßnahmen der deutschen Corona-Politik, was in Medien und in der Bevölkerung vielfach zum Ausdruck kam.)
Auch die Diskriminierung von Politikern als "Marionetten" irgendwelcher "geheimer" Mächte sollte, weil unbelegt, unterlassen werden. (Etwas anderes ist es lobbyistisch tätige Politiker zu kritisieren!). Die nicht einfache Bemühung der Politik um Gesundheitsschutz und Ausgleich mit anderen Erfordernissen als "Diktatur" zu bezeichnen, verkennt das komplexe Zustandekommen der Beschlüsse und das, was eine Diktatur ausmacht.
Solche undifferenzierten Unterstellungen – und die damit oft verbundene beschimpfende und beleidigende Ausdrucksweise – werden nur wenig positive Resonanz in der Bevölkerung und in der Politik finden, auch nicht bei kritischen Bürgern und oppositionellen Politikern. Das sind Dialoghindernisse, die Gehör und Annäherung erschweren.
Dennoch, das vorliegende Angebot von führenden "Querdenkern" zum Dialog sollte wahrgenommen wird
Eine Möglichkeit bestündein der Einsetzung einer gemischten Kommission von Experten und Bürgern zur Frage der geeigneten Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19. Sie sollte je zur Hälfte von nicht regierungsamtlich gebundenen Experten und nicht an Behördenmaßnahmen beteiligten Bürgern besetzt werden.
Dabei müsste auf ein ausgewogenes Verhältnis von Befürwortern, Skeptikern und Gegnern restriktiver Maßnahmen geachtet werden. Die Kommission sollte unter der Schirmherrschaft des Bundestages stehen, ihre Mitglieder von einer neutralen und mit demokratischen Meinungsbildungsprozessen erfahrenen Organisation auf transparente Weise berufen und unparteiisch moderiert werden.
Die Aufgabe der Kommission wäre es, fortlaufend alle relevanten Daten und Aspekte zum Pandemiegeschehens zu sammeln und konstruktive Lösungsvorschläge zu erarbeiten - möglichst im Konsens. Die Öffentlichkeit sollte am Fortgang der Beratungen teilnehmen können. Die Vorschläge werden dem Bundestag und der Regierung zur Beratung vorgestellt.
Überhaupt ist der Weg aus dem Auseinanderdriften von Politik und Bevölkerung eine stärkere und institutionalisierte Bürgerbeteiligung, worüber an anderer Stelle genauer zu reden wäre.
Dr. theol. Wolfram Janzen, Studium der Theologie und Germanistik, vor seiner Zurruhesetzung tätig als Religionspädagoge in Schulen, Hochschule und Lehrerinnenaus- und -fortbildung. Veröffentlichungen im pädagogischen und religionswissenschaftlichen Bereich. War an religionssoziologischen Forschungen zu "Jugend und Religion" beteiligt.
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