"Querdenken" als Ausdruck der Polarisierung?

Seite 3: Studie: "Politische Soziologie der Corona-Proteste"

Verständlicherweise sind genauere Untersuchungen der Teilnehmerschaft noch rar. Einen Anfang macht eine Studie der Universität Basel: "Politische Soziologie der Corona-Proteste" (17.12.20).

Die zugrunde liegende Online-Befragung ist nicht repräsentativ, aber immerhin wurden 1.150 Fragebögen ausgefüllt. Ergänzt wird die Fragebogenaktion durch Interviews. Die Fragebögen bieten Ausweichmöglichkeiten und könnten damit radikale Ansichten verschleiern. Auch die Selbstselektion der Teilnahme kann das Bild verzerren. Eine weitere Einschränkung ist, dass wissenschaftsfeindliche "Querdenker" die Umfrage ablehnten, also womöglich extremere Ansichten nicht zum Ausdruck kommen. Plausibel erscheinen die Ergebnisse dennoch.

Die Befragung ergibt, dass das Durchschnittsalter bei 47 Jahren liegt, junge Menschen sind schwach vertreten. Frauen überwiegen. Akademiker und Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen sind stark beteiligt (65 Prozent). Vollzeitbeschäftigte (auch mit Personalverantwortung) und Selbständige bilden einen hohen Anteil (letztere deutlich mehr als im Bevölkerungsdurchschnitt). Die meisten gehören der Selbsteinschätzung nach der Mittelschicht an (67 Prozent). Bei den Deutschen haben 70 Prozent von Geburt her ihre Nationalität.

Nach diesen Angaben handelt es sich bei "Querdenken" im Kern nicht um "soziale Außenseiter", sondern um eine Mittelschichtbewegung mit "bildungsbürgerlichen" Einschlag.

23 Prozent haben bei der letzten Wahl Die Grünen gewählt, 18 Prozent Die Linke, 15 Prozent AfD, 10 Prozent CDU/CSU, sieben Prozent FDP, sechs Prozent SPD. Das Wahlverhalten wird sich allerdings bei der nächsten Wahl stark verändern: 18 Prozent haben vor, die neue, "Querdenken" nahestehende Partei "Die Basis" zu wählen, 27 Prozent die AfD, sechs Prozent die FDP, fünf Prozent die Linke, nur noch ein Prozent wollen Die Grünen und die CDU/CSU wählen, für die SPD will niemand mehr votieren.

Dem Trend zur AfD entspricht, dass 68 Prozent sie voll oder teilweise für "eine normale Partei wie jede andere" halten. Die "Aufregung um schwarz-weiß-roten Fahnen bei Protesten" (Zeichen für "Reichbürger") hält mehr als die Hälfte für übertrieben.

Das bisherige gesellschaftliche und politische Engagement hat sich weitgehend auf Vereine, Teilnahme an Kampagnen, Petitionen und Äußerungen in den Social Media beschränkt. Teilnahme an Demonstrationen ist für die Hälfte Neuland. "Dauerdemonstranten" sind geringfügig vertreten. Nur eine verschwindende Zahl bekundet "Gewalttätige Aktionen" unterstützt zu haben. Die Vermutung legt sich nahe, dass die meisten Befragten sich erst im Laufe der Pandemie und der Regierungsmaßnahmen stärker politisiert haben.

Die Autoren ziehen folgenden Schluss: "Mit Blick auf die Wahlabsichten lässt sich sagen, dass es sich um eine Bewegung handelt, die eher von links kommt, aber stärker nach rechts geht."

Es ist allerdings zu fragen, ob bei der Neigung zur AfD nicht ein Zweckbündnis vorliegt, denn von der Wertorientierung her stimmen die meisten "Querdenker" nicht mit "rechts-populistischen" Orientierungen überein (wie Abwertung von Minderheiten, insbesondere Muslimen, Antisemitismus, autoritärem und paternalistischem Denken, Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen u.a. - beim Item zum Antisemitismus haben allerdings 30 Prozent der Befragten keine Angaben gemacht). Was "Querdenken" mit AfD-Positionen verbindet, ist die Kritik an den Corona-Maßnahmen der Regierung und ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Politik, "Main-Stream-Medien" und "Konzernen".

Aus verständlichen Gründen geht die Untersuchung nicht auf die Frage ein, wieweit "Querdenker" bereit sind, "gewaltsamen" Widerstand bei der Verfolgung ihrer Ziele auszuüben (hier wären kaum authentische Antworten zu erwarten gewesen).

Von der sozialen Zusammensetzung und vom Selbstverständnis her passt das nicht zu der Kernanhängerschaft und ihren Führungspersonen. Die bei großen Demonstrationen zu beobachtenden verbalen und körperlichen Attacken gegenüber Gegnern und Polizisten, die Sachbeschädigungen an Ausrüstungen und aggressiven Behinderungen von Pressvertretern müssten dann als "Randphänomen" betrachtet werden. (Allerdings ein auffälliges und nicht harmloses!)

Was verbindet die Anhänger von "Querdenken"?

Wie zu erwarten eine massive Kritik an den Regierungsmaßnahmen zur Eindämmung von Covid-19. Items wie "willkürlich", "unwirksam", "übertrieben", "Angst schürend", "existenzbedrohend", "kinderfeindlich", "Meinungsfreiheit und Demokratie bedrohend", "familiäre Bindungen zerstörend", "falsche Experten geben den Ton an" finden große Zustimmung.

Die Maskenpflicht erfährt besondere Ablehnung. 79 Prozent halten "das Corona-Virus für nicht gefährlicher als eine schwere Grippe. Die "natürlichen Selbstheilungskräfte sind stark genug, um das Virus zu bekämpfen" meinen 64 Prozent. Dass "spirituelles und ganzheitliches Denken" der Gesellschaft guttun würde, finden 67 Prozent.

Die Effektivität der wirtschaftlichen Hilfen durch die Regierung wird nicht hoch bewertet, eine Mehrheit sieht "Banken und Konzerne" als "die großen Profiteure der Corona-Krise". Das Statement, dass "geheime Organisationen" einen "großen Einfluss auf politische Entscheidungen" hätten und "Politiker und andere Führungspersönlichkeiten nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte" seien, trifft bei der Hälfte der Befragten auf Zustimmung. "Die Bill/Melinda Gates Foundation will eine Zwangsimpfung für die ganze Welt" findet bei 61 Prozent Glauben. Einen Impfzwang fürchten 91 Prozent.

Die meisten bestätigen die Meinung, dass die Regierung der Bevölkerung die Wahrheit verschweige, die regierenden Parteien das Volk hintergingen, der Staat immer mehr bevormunde, dass man nicht mehr frei seine Meinung äußern könne, ohne Ärger zu bekommen und dass Politik und Medien unter einer Decke steckten. Zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie in der BRD sind nur ganz wenige.

Hingegen wird der Polizei (!), der Justiz und Umweltgruppen ein gewisses Vertrauen, Unternehmen und Bürgerinitiativen mehr Vertrauen entgegengebracht. Politischem und zivilem Engagement von Bürgern wird begrenzt Einfluss auf die Politik zugetraut (45 Prozent teils/teils, 16 Prozent weitgehend bis voll und ganz). Fast alle Befragten bekunden, dass sie sich mit verschiedenen Meinungen und Positionen auseinandersetzten, ehe sie Entscheidungen träfen. Man vertraut aber Gefühlen und Intuitionen eher mehr als sogenannten Experten.

Züge der Querdenken-Mentalität

Überblickt man das Bild, das die Umfrage ergibt, so bestätigt sich der Eindruck der Heterogenität der Bewegung nur teilweise. Von der sozialen Zusammensetzung scheint der Kern einigermaßen homogen zu sein, auf die Ränder trifft dies aber nicht zu.

Ideologisch ist allerdings eine größere Vielfalt und auch eine gewisse Widersprüchlichkeit zu bemerken; einig sind sich die "Querdenker" in der Ablehnung der Regierungsmaßnahmen, der Einschätzung der Gefahren von Covid-19 und in dem grundlegenden Misstrauen gegenüber den etablierten gesellschaftlich-politischen Autoritäten. Bei den "Wütenden" der "More-in-Common"-Studie mit ihrer Rechtslastigkeit sind sie aber soziologisch nicht einzuordnen, obwohl es Berührungen gibt und nicht auszuschließen ist, dass Angehörige dieses Segments an den "Querdenken"-Demonstrationen teilnehmen.

Der Zusammenhalt durch eine negative Stoßrichtung (Ablehnung von …) unterscheidet "Querdenken" von anderen, früheren oder gegenwärtigen Initiativen (Occupy, die französischen "Gelbwesten", die spanischen "Indignados", Friedens- und Klimaschutzbewegung).

Mit diesen Bewegungen gibt es zwar Gemeinsamkeiten in der Ablehnung des herrschenden "Systems", darüber hinaus lässt sich aber bei ihnen eine politische oder gesellschaftliche Ausrichtung mit deutlichen, begrenzten oder umfassenden politisch-gesellschaftlichen Zielen erkennen. Das ist bei "Querdenken" höchstens in Ansätzen zu bemerken (Geldpolitik, basisdemokratische Forderungen wie Volksabstimmungen, Volksräte). Das kann sich aber ändern. Ich würde statt von einer "Basisbewegung" in Hinblick auf die offenen Ränder eher von einer noch ziemlich amorphen "Sammlung" sprechen.

Trotz des noch amorphen Charakters lässt sich ein inzwischen gewachsenes Eigenverständnis feststellen, das die Zugehörigen von der übrigen Gesellschaft abhebt. Die Autoren der Basler Studie sprechen von einer "Dichotomie" innen/außen und ausgegrenzt/etabliert, die sich in einer "Wir-gegen-Die-Mentalität" manifestiert.

Das "Wir-sind-anders-Gefühl" kann quasi-religiöse Züge annehmen, wenn die alte gnostische Metapher der "Aufgewachten" im Kontrast zu den "Schlafenden" ("Schlafschafe") aufgenommen wird. Hier droht die Gefahr eines exklusiven und intoleranten Wahrheitsanspruches. Dann wird eine Gemeinschaft beschworen, die sich von der Erkenntnisgewinnung der Mehrheitsgesellschaft ablöst und eigene Wissensaneignung betreibt, unter Berufung auf Außenseiter-"Experten", die nahezu Kultstatus besitzen.

Es ist folgerichtig, dass sich "Querdenken" inzwischen eigene Kanäle der Wissensvermittlung und Kommunikation geschaffen hat. Die Bewegung ist in Sozial-Media gut vernetzt und verfügt auf diese Weise über eine effektive Organisation der Veranstaltungen. So entsteht eine Gemeinschaft der mutigen und leidensbereiten Widerstandskämpfer, die sich in eventartigen Demonstrationen der Zusammengehörigkeit versichert und ihre "Kultfeiern" zelebriert.

Dass Emotionalität bei "Querdenkern" eine Rolle spielt, ergab sich aus der Befragung. Bestätigt wird dies durch die permanente Evokation von "Freiheit", "Liebe" und "Frieden" bei den Demonstrationen (in dieser Weise gebraucht sind das affektiv aufgeladene "Leerformeln"). Die affektive Aufladung kann aber schnell in aggressive Ablehnung der "Uneinsichtigen da draußen" umschlagen, was bei einzelnen Teilnehmern der Demonstrationen zu beobachten ist.

Verstärkt wird die Abgrenzungstendenz durch die überwiegend ablehnende Haltung der Gesellschaft und Berichterstattung in Medien, die oft undifferenziert berichten und Entgleisungen bei Demonstrationen hervorheben. So ist also auf beiden "Seiten" eine polarisierende Haltung zu verzeichnen.

Ich bin dennoch nicht der Meinung, dass man in Hinblick auf "Querdenken" von einer "Polarisierung" der Gesellschaft reden sollte. Dafür ist ihre Akzeptanz in der Gesamtgesellschaft zu gering. "Querdenken" bringt zwar große Teilnehmerzahlen bei Demonstrationen auf die Beine, damit ist aber noch nicht ausgemacht, dass alle auf der Linie der Querdenken-Mentalität liegen. Auf die Gesamtbevölkerung gesehen, ist die "Querdenken"-Bewegung eine kleine Minderheit, die selbst in den eigenen Reihen auf zwei bis fünf Prozent geschätzt wird (wofür keine statistischen Belege existieren). Das Schlagwort "Wir sind die Vielen" ist eine Selbsttäuschung.

Querdenken – undemokratisch?

Es ist nicht abwegig, wenn die Autoren der Basler Studie von einem "Radikalisierungspotential" in der Bewegung sprechen. Trotzdem gibt es nach wie vor Beziehungen und Brücken zur Gesamtgesellschaft, schon dadurch, dass die Beteiligten überwiegend keine sozialen "Randsiedler sind. Das Misstrauen gegen Institutionen, Politiker, Parteien, den Zustand der parlamentarischen Demokratie, die etablierten Medien ist auch sonst in der Gesellschaft verbreitet, wenn auch wohl nicht so extrem wie das oft angenommen wird. "Querdenken" radikalisiert dies und stellt das vorfindliche "System" unter "Generalverdacht".

Dennoch verlässt "Querdenken" nicht demokratische Grundlagen, es wird eine "andere Demokratie" gefordert. "Querdenken" beruft sich auf grundgesetzliche Rechte. Auch wenn diese einseitig ausgelegt werden, ist das eine Anerkennung einer gesellschaftlich-politischen Grundlage der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Die Ortsgruppen verbindet ein gemeinsames "Manifest":

Wir bestehen auf die ersten 20 Artikel unserer Verfassung, insbesondere auf die Aufhebung der Einschränkungen durch die Corona-Verordnung [es folgt die Nennung von Artikeln des GG].

Wir sind überparteilich und schließen keine Meinung aus - nach Wiederherstellung des Grundgesetzes sind dafür wieder alle demokratischen Mittel vorhanden.

Wir sind Demokraten. Wir sind eine friedliche Bewegung, in der Extremismus, Gewalt, Antisemitismus und menschenverachtendes Gedankengut keinen Platz hat.

Wir öffnen Debattenräume und leben einen respektvollen Austausch. Querdenken steht für Eigenverantwortung, Selbstbestimmung, Liebe, Freiheit, Frieden, Wahrheit.

Wieweit alle Teilnehmer an Demonstrationen das unterschreiben würden, ist eine andere Frage. Aber es bestehen Anknüpfungsmöglichkeiten zu einem Dialog.

Was kaum gesehen wurde, ist, dass es unter "Querdenken"- Führungspersönlichkeiten wie Michael Ballweg eine Annäherung zu "ZeroCovid" gab. Man war bereit, einen zeitweiligen radikalen Lockdown zu akzeptieren, um dann die Beschränkungen aufheben zu können. Zero oder Null Covid wäre möglicherweise ein erfolgversprechender Weg gewesen, um "Querdenken"-Kritik und Gesundheitsschutz, querdenkende und andere Bürger, "Querdenken"-Führungspersonen und Politik einander näherzubringen.

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