"Querdenken" als Ausdruck der Polarisierung?

Querdenken-Demo Anfang Oktober 2020 in Berlin. Bild: Kai Schwerdt, CC BY-NC 2.0

Über Meinungstrends in der Pandemie, die Struktur der Protestbewegung und mögliche Auswege aus der Sprach- und Dialoglosigkeit (Teil 2 und Schluss)

Verschiedentlich wurde die Covid-19-Pandemie als "Stresstest der Gesellschaft" bezeichnet. Dabei vertreten Anhänger der Polarisierungsthese die Auffassung, die Pandemie verstärke die ohnehin schon vorhandene Polarisierungstendenzen. Als Beleg wird die "Querdenken"-Bewegung angeführt. Sie sei ein Zeichen der Polarisierung. Wenn dies der Fall ist, müsste die Zahl der Anhänger und die Ziele von "Querdenken" in größerem Maße in der Bevölkerung Verbreitung finden, so wie etwa der "Trumpismus" in den USA. Prüfen wir, ob dies zutrifft.

Die "Querdenken"-Bewegung ist durch die das Grundgesetz einschränkenden Pandemie-Maßnahmen der Bundesregierung und der Länder entstanden. Der Protest dagegen bildet immer noch ihren Schwerpunkt. Schließt sich eine größere Zahl oder eine Mehrheit der Bevölkerung diesem Protest an?

Studie: "Spaltet Corona die Gesellschaft?"

Eine Untersuchung von Fabian Beckmann und Anna-Lena Schönauer (Ruhr-Universität Bochum) "Spaltet Corona die Gesellschaft?" gibt Hinweise.

Nach einer im September 2020 durchgeführten Online-Befragung von 1.065 nach dem Bevölkerungsquerschnitt ausgewählten Personen befürworteten 75 Prozent der Befragten die "Bekämpfung des Corona-Virus", 18 Prozent sind geteilter Meinung ("teils/teils"), drei Prozent sehen das "eher negativ" und vier Prozent "sehr negativ".

Unterschiede zeichnen sich in der Bewertung einzelner Maßnahmen oder Empfehlungen von Wissenschaftlern und Regierung ab. Der "Einhaltung von Abstandsregeln" stehen 91 Prozent positiv gegenüber, der "Maskenpflicht" 81 Prozent, der "Absage von (Groß-) Veranstaltungen" 80 Prozent, dem "Verbot bzw. der Beendigung von Demonstrationen bei Nichteinhaltung von Schutzmaßnahmen" 78 Prozent, einer "Impfpflicht gegen das Corona-Virus" 49 Prozent, der "Schließung öffentlicher Einrichtungen (Kitas, Schulen, Universitäten)" 37 Prozent. Zu den Zustimmungen kommen "Teils/teils"-Bewertungen, die entschiedene Ablehnungszahlen verkleinern.

Die Notwendigkeit der Bekämpfung des Sars-CoV-2-Virus wird nach der Untersuchung von allen sozialen Milieus, wenn auch mit graduellen Unterschieden, positiv bewertet. Die stärkste Zustimmung findet sie im konservativ-etablierten Milieu, eine etwas geringere im linksliberal-intellektuellen Milieu.

In der Zustimmung sind sich die Befragten weitgehend einig, mehr als in Themenfeldern wie Zuwanderung, Klima, soziale Ungleichheit. Nach Auffassung der Autoren ist "die Ablehnung der Corona-Politik eher ein Phänomen weniger Kritiker:innen, die sich medial und öffentlich gekonnt Gehör verschaffen". Ihr Fazit ist:

Eine Polarisierung von Einstellungen in der Bevölkerung übersetzen wir empirisch als eine quantitativ starke Besetzung der gegenüberliegenden Pole, d.h. eine relativ gleichmäßige Aufteilung von Stimmen auf positive und negative Einstellungen. Dieser Definition folgend sind mit Blick auf die Verteilung der Globaleinstellungen (…) für die Bekämpfung des Corona-Virus keine Polarisierungstendenzen erkennbar.

Inzwischen gehen die Zustimmungswerte zur "Corona"-Politik der Regierung zurück. Das hängt damit zusammen, dass ein großer Teil der Bürger meint, die Maßnahmen gingen nicht weit genug. Insgesamt scheint sich die Mehrheit aber nach wie vor einig zu sein, dass staatliche Maßnahmen zu Bekämpfung von Covid-19 notwendig sind (April 21: Maßnahmen gehen zu weit 24 Prozent, sind angemessen 24 Prozent, gehen nicht weit genug 46 Prozent). Ob sich damit eine stärkere Zustimmung zu den "Querdenken"-Forderungen abzeichnet, scheint zweifelhaft.

"Querdenken" - alles Extreme?

Fragen wir, ob es sich bei den Anhängern von "Querdenken" selbst um ein polarisiertes Bevölkerungssegment handelt, wie etwa bei den "Wütenden" der im ersten Teil erwähnten Robert-Bosch-Stiftung-Studie.

Die Wahrnehmung von Demonstrationen der "Querdenken"-Bewegung macht den Eindruck, dass es sich um heterogene Teilnehmer handelt. Auszumachen sind "normal" erscheinende Bürger, Alternative aus früheren Initiativen wie den Friedensbewegungen, Bürgerrechtler aus der Wendezeit der DDR, Fromme, Esoteriker verschiedenen Couleur, anthroposophisch Ausgerichtete, aber auch - am Rande - Anhänger der rechten und rechtsextremen Szene wie AfD-Anhänger oder "Reichsbürger". Erkennbar sind Vertreter dieser Richtungen meist an mitgeführten Symbolen, Schilder oder Fahnen - oder sie outen sich in verbalen Äußerungen.

Studie: "Politische Soziologie der Corona-Proteste"

Verständlicherweise sind genauere Untersuchungen der Teilnehmerschaft noch rar. Einen Anfang macht eine Studie der Universität Basel: "Politische Soziologie der Corona-Proteste" (17.12.20).

Die zugrunde liegende Online-Befragung ist nicht repräsentativ, aber immerhin wurden 1.150 Fragebögen ausgefüllt. Ergänzt wird die Fragebogenaktion durch Interviews. Die Fragebögen bieten Ausweichmöglichkeiten und könnten damit radikale Ansichten verschleiern. Auch die Selbstselektion der Teilnahme kann das Bild verzerren. Eine weitere Einschränkung ist, dass wissenschaftsfeindliche "Querdenker" die Umfrage ablehnten, also womöglich extremere Ansichten nicht zum Ausdruck kommen. Plausibel erscheinen die Ergebnisse dennoch.

Die Befragung ergibt, dass das Durchschnittsalter bei 47 Jahren liegt, junge Menschen sind schwach vertreten. Frauen überwiegen. Akademiker und Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen sind stark beteiligt (65 Prozent). Vollzeitbeschäftigte (auch mit Personalverantwortung) und Selbständige bilden einen hohen Anteil (letztere deutlich mehr als im Bevölkerungsdurchschnitt). Die meisten gehören der Selbsteinschätzung nach der Mittelschicht an (67 Prozent). Bei den Deutschen haben 70 Prozent von Geburt her ihre Nationalität.

Nach diesen Angaben handelt es sich bei "Querdenken" im Kern nicht um "soziale Außenseiter", sondern um eine Mittelschichtbewegung mit "bildungsbürgerlichen" Einschlag.

23 Prozent haben bei der letzten Wahl Die Grünen gewählt, 18 Prozent Die Linke, 15 Prozent AfD, 10 Prozent CDU/CSU, sieben Prozent FDP, sechs Prozent SPD. Das Wahlverhalten wird sich allerdings bei der nächsten Wahl stark verändern: 18 Prozent haben vor, die neue, "Querdenken" nahestehende Partei "Die Basis" zu wählen, 27 Prozent die AfD, sechs Prozent die FDP, fünf Prozent die Linke, nur noch ein Prozent wollen Die Grünen und die CDU/CSU wählen, für die SPD will niemand mehr votieren.

Dem Trend zur AfD entspricht, dass 68 Prozent sie voll oder teilweise für "eine normale Partei wie jede andere" halten. Die "Aufregung um schwarz-weiß-roten Fahnen bei Protesten" (Zeichen für "Reichbürger") hält mehr als die Hälfte für übertrieben.

Das bisherige gesellschaftliche und politische Engagement hat sich weitgehend auf Vereine, Teilnahme an Kampagnen, Petitionen und Äußerungen in den Social Media beschränkt. Teilnahme an Demonstrationen ist für die Hälfte Neuland. "Dauerdemonstranten" sind geringfügig vertreten. Nur eine verschwindende Zahl bekundet "Gewalttätige Aktionen" unterstützt zu haben. Die Vermutung legt sich nahe, dass die meisten Befragten sich erst im Laufe der Pandemie und der Regierungsmaßnahmen stärker politisiert haben.

Die Autoren ziehen folgenden Schluss: "Mit Blick auf die Wahlabsichten lässt sich sagen, dass es sich um eine Bewegung handelt, die eher von links kommt, aber stärker nach rechts geht."

Es ist allerdings zu fragen, ob bei der Neigung zur AfD nicht ein Zweckbündnis vorliegt, denn von der Wertorientierung her stimmen die meisten "Querdenker" nicht mit "rechts-populistischen" Orientierungen überein (wie Abwertung von Minderheiten, insbesondere Muslimen, Antisemitismus, autoritärem und paternalistischem Denken, Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen u.a. - beim Item zum Antisemitismus haben allerdings 30 Prozent der Befragten keine Angaben gemacht). Was "Querdenken" mit AfD-Positionen verbindet, ist die Kritik an den Corona-Maßnahmen der Regierung und ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Politik, "Main-Stream-Medien" und "Konzernen".

Aus verständlichen Gründen geht die Untersuchung nicht auf die Frage ein, wieweit "Querdenker" bereit sind, "gewaltsamen" Widerstand bei der Verfolgung ihrer Ziele auszuüben (hier wären kaum authentische Antworten zu erwarten gewesen).

Von der sozialen Zusammensetzung und vom Selbstverständnis her passt das nicht zu der Kernanhängerschaft und ihren Führungspersonen. Die bei großen Demonstrationen zu beobachtenden verbalen und körperlichen Attacken gegenüber Gegnern und Polizisten, die Sachbeschädigungen an Ausrüstungen und aggressiven Behinderungen von Pressvertretern müssten dann als "Randphänomen" betrachtet werden. (Allerdings ein auffälliges und nicht harmloses!)

Was verbindet die Anhänger von "Querdenken"?

Wie zu erwarten eine massive Kritik an den Regierungsmaßnahmen zur Eindämmung von Covid-19. Items wie "willkürlich", "unwirksam", "übertrieben", "Angst schürend", "existenzbedrohend", "kinderfeindlich", "Meinungsfreiheit und Demokratie bedrohend", "familiäre Bindungen zerstörend", "falsche Experten geben den Ton an" finden große Zustimmung.

Die Maskenpflicht erfährt besondere Ablehnung. 79 Prozent halten "das Corona-Virus für nicht gefährlicher als eine schwere Grippe. Die "natürlichen Selbstheilungskräfte sind stark genug, um das Virus zu bekämpfen" meinen 64 Prozent. Dass "spirituelles und ganzheitliches Denken" der Gesellschaft guttun würde, finden 67 Prozent.

Die Effektivität der wirtschaftlichen Hilfen durch die Regierung wird nicht hoch bewertet, eine Mehrheit sieht "Banken und Konzerne" als "die großen Profiteure der Corona-Krise". Das Statement, dass "geheime Organisationen" einen "großen Einfluss auf politische Entscheidungen" hätten und "Politiker und andere Führungspersönlichkeiten nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte" seien, trifft bei der Hälfte der Befragten auf Zustimmung. "Die Bill/Melinda Gates Foundation will eine Zwangsimpfung für die ganze Welt" findet bei 61 Prozent Glauben. Einen Impfzwang fürchten 91 Prozent.

Die meisten bestätigen die Meinung, dass die Regierung der Bevölkerung die Wahrheit verschweige, die regierenden Parteien das Volk hintergingen, der Staat immer mehr bevormunde, dass man nicht mehr frei seine Meinung äußern könne, ohne Ärger zu bekommen und dass Politik und Medien unter einer Decke steckten. Zufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie in der BRD sind nur ganz wenige.

Hingegen wird der Polizei (!), der Justiz und Umweltgruppen ein gewisses Vertrauen, Unternehmen und Bürgerinitiativen mehr Vertrauen entgegengebracht. Politischem und zivilem Engagement von Bürgern wird begrenzt Einfluss auf die Politik zugetraut (45 Prozent teils/teils, 16 Prozent weitgehend bis voll und ganz). Fast alle Befragten bekunden, dass sie sich mit verschiedenen Meinungen und Positionen auseinandersetzten, ehe sie Entscheidungen träfen. Man vertraut aber Gefühlen und Intuitionen eher mehr als sogenannten Experten.

Züge der Querdenken-Mentalität

Überblickt man das Bild, das die Umfrage ergibt, so bestätigt sich der Eindruck der Heterogenität der Bewegung nur teilweise. Von der sozialen Zusammensetzung scheint der Kern einigermaßen homogen zu sein, auf die Ränder trifft dies aber nicht zu.

Ideologisch ist allerdings eine größere Vielfalt und auch eine gewisse Widersprüchlichkeit zu bemerken; einig sind sich die "Querdenker" in der Ablehnung der Regierungsmaßnahmen, der Einschätzung der Gefahren von Covid-19 und in dem grundlegenden Misstrauen gegenüber den etablierten gesellschaftlich-politischen Autoritäten. Bei den "Wütenden" der "More-in-Common"-Studie mit ihrer Rechtslastigkeit sind sie aber soziologisch nicht einzuordnen, obwohl es Berührungen gibt und nicht auszuschließen ist, dass Angehörige dieses Segments an den "Querdenken"-Demonstrationen teilnehmen.

Der Zusammenhalt durch eine negative Stoßrichtung (Ablehnung von …) unterscheidet "Querdenken" von anderen, früheren oder gegenwärtigen Initiativen (Occupy, die französischen "Gelbwesten", die spanischen "Indignados", Friedens- und Klimaschutzbewegung).

Mit diesen Bewegungen gibt es zwar Gemeinsamkeiten in der Ablehnung des herrschenden "Systems", darüber hinaus lässt sich aber bei ihnen eine politische oder gesellschaftliche Ausrichtung mit deutlichen, begrenzten oder umfassenden politisch-gesellschaftlichen Zielen erkennen. Das ist bei "Querdenken" höchstens in Ansätzen zu bemerken (Geldpolitik, basisdemokratische Forderungen wie Volksabstimmungen, Volksräte). Das kann sich aber ändern. Ich würde statt von einer "Basisbewegung" in Hinblick auf die offenen Ränder eher von einer noch ziemlich amorphen "Sammlung" sprechen.

Trotz des noch amorphen Charakters lässt sich ein inzwischen gewachsenes Eigenverständnis feststellen, das die Zugehörigen von der übrigen Gesellschaft abhebt. Die Autoren der Basler Studie sprechen von einer "Dichotomie" innen/außen und ausgegrenzt/etabliert, die sich in einer "Wir-gegen-Die-Mentalität" manifestiert.

Das "Wir-sind-anders-Gefühl" kann quasi-religiöse Züge annehmen, wenn die alte gnostische Metapher der "Aufgewachten" im Kontrast zu den "Schlafenden" ("Schlafschafe") aufgenommen wird. Hier droht die Gefahr eines exklusiven und intoleranten Wahrheitsanspruches. Dann wird eine Gemeinschaft beschworen, die sich von der Erkenntnisgewinnung der Mehrheitsgesellschaft ablöst und eigene Wissensaneignung betreibt, unter Berufung auf Außenseiter-"Experten", die nahezu Kultstatus besitzen.

Es ist folgerichtig, dass sich "Querdenken" inzwischen eigene Kanäle der Wissensvermittlung und Kommunikation geschaffen hat. Die Bewegung ist in Sozial-Media gut vernetzt und verfügt auf diese Weise über eine effektive Organisation der Veranstaltungen. So entsteht eine Gemeinschaft der mutigen und leidensbereiten Widerstandskämpfer, die sich in eventartigen Demonstrationen der Zusammengehörigkeit versichert und ihre "Kultfeiern" zelebriert.

Dass Emotionalität bei "Querdenkern" eine Rolle spielt, ergab sich aus der Befragung. Bestätigt wird dies durch die permanente Evokation von "Freiheit", "Liebe" und "Frieden" bei den Demonstrationen (in dieser Weise gebraucht sind das affektiv aufgeladene "Leerformeln"). Die affektive Aufladung kann aber schnell in aggressive Ablehnung der "Uneinsichtigen da draußen" umschlagen, was bei einzelnen Teilnehmern der Demonstrationen zu beobachten ist.

Verstärkt wird die Abgrenzungstendenz durch die überwiegend ablehnende Haltung der Gesellschaft und Berichterstattung in Medien, die oft undifferenziert berichten und Entgleisungen bei Demonstrationen hervorheben. So ist also auf beiden "Seiten" eine polarisierende Haltung zu verzeichnen.

Ich bin dennoch nicht der Meinung, dass man in Hinblick auf "Querdenken" von einer "Polarisierung" der Gesellschaft reden sollte. Dafür ist ihre Akzeptanz in der Gesamtgesellschaft zu gering. "Querdenken" bringt zwar große Teilnehmerzahlen bei Demonstrationen auf die Beine, damit ist aber noch nicht ausgemacht, dass alle auf der Linie der Querdenken-Mentalität liegen. Auf die Gesamtbevölkerung gesehen, ist die "Querdenken"-Bewegung eine kleine Minderheit, die selbst in den eigenen Reihen auf zwei bis fünf Prozent geschätzt wird (wofür keine statistischen Belege existieren). Das Schlagwort "Wir sind die Vielen" ist eine Selbsttäuschung.

Querdenken – undemokratisch?

Es ist nicht abwegig, wenn die Autoren der Basler Studie von einem "Radikalisierungspotential" in der Bewegung sprechen. Trotzdem gibt es nach wie vor Beziehungen und Brücken zur Gesamtgesellschaft, schon dadurch, dass die Beteiligten überwiegend keine sozialen "Randsiedler sind. Das Misstrauen gegen Institutionen, Politiker, Parteien, den Zustand der parlamentarischen Demokratie, die etablierten Medien ist auch sonst in der Gesellschaft verbreitet, wenn auch wohl nicht so extrem wie das oft angenommen wird. "Querdenken" radikalisiert dies und stellt das vorfindliche "System" unter "Generalverdacht".

Dennoch verlässt "Querdenken" nicht demokratische Grundlagen, es wird eine "andere Demokratie" gefordert. "Querdenken" beruft sich auf grundgesetzliche Rechte. Auch wenn diese einseitig ausgelegt werden, ist das eine Anerkennung einer gesellschaftlich-politischen Grundlage der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Die Ortsgruppen verbindet ein gemeinsames "Manifest":

Wir bestehen auf die ersten 20 Artikel unserer Verfassung, insbesondere auf die Aufhebung der Einschränkungen durch die Corona-Verordnung [es folgt die Nennung von Artikeln des GG].

Wir sind überparteilich und schließen keine Meinung aus - nach Wiederherstellung des Grundgesetzes sind dafür wieder alle demokratischen Mittel vorhanden.

Wir sind Demokraten. Wir sind eine friedliche Bewegung, in der Extremismus, Gewalt, Antisemitismus und menschenverachtendes Gedankengut keinen Platz hat.

Wir öffnen Debattenräume und leben einen respektvollen Austausch. Querdenken steht für Eigenverantwortung, Selbstbestimmung, Liebe, Freiheit, Frieden, Wahrheit.

Wieweit alle Teilnehmer an Demonstrationen das unterschreiben würden, ist eine andere Frage. Aber es bestehen Anknüpfungsmöglichkeiten zu einem Dialog.

Was kaum gesehen wurde, ist, dass es unter "Querdenken"- Führungspersönlichkeiten wie Michael Ballweg eine Annäherung zu "ZeroCovid" gab. Man war bereit, einen zeitweiligen radikalen Lockdown zu akzeptieren, um dann die Beschränkungen aufheben zu können. Zero oder Null Covid wäre möglicherweise ein erfolgversprechender Weg gewesen, um "Querdenken"-Kritik und Gesundheitsschutz, querdenkende und andere Bürger, "Querdenken"-Führungspersonen und Politik einander näherzubringen.

Vorschläge für einen Dialog

Es ist nicht Aufgabe dieses Artikels Gesprächsmöglichkeiten auszuloten. Ich will aber doch einige Voraussetzungen nennen, die ich jetzt einfach einmal als Thesen formuliere, ohne sie durchweg im Einzelnen zu belegen (was ich könnte).

Aufseiten der Mehrheitsbevölkerung, der Politik und der Medien wäre eine gelassenere und differenziertere Sicht erforderlich. "Querdenken" betont die Kollateralschäden der Restriktionsmaßnahmen und stellt sich auf die Seite der "Opfer". Das mag einseitig sein - die anderen Opfer der Pandemie scheinen weniger Mitgefühl zu erregen – und manchmal überzeichnet, aber das Grundanliegen ist respektabel.

Es kann niemanden gleichgültig lassen, dass Existenzen bedroht sind, wie schwierig es für sozial Benachteiligte ist, mit den Restriktionen umzugehen, welche gesundheitliche und psychische Schäden entstehen und was für eine Minderung der Lebensqualität ein Dauerausnahmezustand darstellt.

Dass eine zeitlich noch nicht absehbare Einschränkung der Grundrechte Gefahren in sich birgt, wird jeden Demokraten beunruhigen. Kritik an Regierungsmaßnahmen, die man sich oft differenzierter, flexibler und kreativer gewünscht hätte, hat seine Berechtigung.

Es ist auch so, dass die bisherigen Forschungsergebnisse zu den zur Debatte stehenden Fragen nicht immer gesichert sind und vieles unter Wissenschaftlern umstritten ist. Zudem verändert sich der Forschungsstand ständig. Die Beanspruchung der "Deutungshoheit" durch regierungsamtliche Einrichtungen, einige ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gehobene Wissenschaftler, manche Politiker und Journalisten sollte relativiert werden.

Ich persönlich habe auf Grund der Lektüre von "Querdenken"- Äußerungen den Eindruck, dass man zumindest selektiv mit "Fakten" zum Covid-19-Geschehen umgeht. Aber das wird sofort gespiegelt: Nein, die anderen verleugnen die Realität!

Doch das führt nicht weiter. Wir alle konstruieren unsere Wirklichkeit und täten in einer Demokratie gut daran, miteinander auf zivilisierte und sachbezogene Weise auszuhandeln, was "der Fall ist" und was gelten soll (was nicht heißen kann, dass alles verhandelbar ist). Auch "Querdenken" sollte auf die Beanspruchung der "Deutungshoheit" verzichten.

Es genügt nicht, sich immer wieder auf einige Wissenschaftler zu berufen (Ioannidis, Bhakdi), deren Veröffentlichungen umstritten und zumeist veraltet sind. Zumindest die führenden "Querdenker" müssten den Fortgang des wissenschaftlichen Diskurses offener und sorgfältiger mitverfolgen, um als kompetente Gesprächspartner ernst genommen zu werden. Es wird immer noch auf viel widerlegbaren oder unsicheren "Fakten" beharrt - allerdings auch auf der "anderen Seite".

Es ist nicht zu verleugnen, dass es begründete Stellungnahmen von Wissenschaftlern gibt, die "Querdenken" nahestehen und andere Folgerungen ziehen als die Mehrheit ihrer Kollegen. (Zum Beispiel Ines Kappstein in einer Meta-Studie zum "Mund-Nasen-Schutz in der Öffentlichkeit …" - gegen die sich allerdings manches einwenden lässt.)

Es erscheint nicht als richtig, wenn diese Wissenschaftler diskriminiert werden. Der angemessene wissenschaftliche Umgang mit "Abweichlern" ist Auseinandersetzung und gegebenenfalls Widerlegung.

Rücksichtsloses Verhalten verhindert Dialog

Eine Basisbewegung kann nur in die Bevölkerung hineinwirken, wenn sie sich nicht nur um die "Meinungshegemonie" in den eigenen Reihen bemüht, sondern auch um Außenwirksamkeit. Auf diese Weise haben Initiativen wie die "Indignados" oder die Klimaschutzbewegung große Bevölkerungsteile erreicht und für ihre Anliegen gewonnen. Es gelang ihnen auch die Politik zu beeinflussen.

Mit Demonstrationen, in denen Abstandswahrung und Maskenschutz nicht gewahrt werden - was möglicherweise der Virenverbreitung Vorschub leistet - wird "Querdenken" nicht den Beifall der Öffentlichkeit gewinnen. Das als Verhalten "mündiger" Bürger auszugeben, überzeugt nicht. Man kann es auch als "Rücksichtslosigkeit" und als Widerspruch zur Liebes- und Empathie-Rhetorik ansehen.

Angriffe gegen Journalisten werden diese kaum zu einer verständnisvollen Berichterstattung animieren und stehen im Widerspruch zur erklärten Gewaltfreiheit, ganz abgesehen davon, dass ein Grundrecht beschädigt wird. Ebenso wird die Unterstellung, die nicht mitziehende Bevölkerung bestünde nur aus regierungshörigen "Untertanen" von dieser nicht goutiert werden.

Eine gewagte Unterstellung ist auch der pauschale Vorwurf, die etablierten Medien seien regierungsbeflissen. Das alles verkennt das kritische und demokratische Potenzial in der Bevölkerung und in den Medien. Es gibt noch andere Richtungen der Regierungs- und Systemkritik als "Querdenken" sie betreibt. (Kritisch sehen zum Beispiel – und sogar darüber wütend werden – kann man die inkonsequenten und halben Maßnahmen der deutschen Corona-Politik, was in Medien und in der Bevölkerung vielfach zum Ausdruck kam.)

Auch die Diskriminierung von Politikern als "Marionetten" irgendwelcher "geheimer" Mächte sollte, weil unbelegt, unterlassen werden. (Etwas anderes ist es lobbyistisch tätige Politiker zu kritisieren!). Die nicht einfache Bemühung der Politik um Gesundheitsschutz und Ausgleich mit anderen Erfordernissen als "Diktatur" zu bezeichnen, verkennt das komplexe Zustandekommen der Beschlüsse und das, was eine Diktatur ausmacht.

Solche undifferenzierten Unterstellungen – und die damit oft verbundene beschimpfende und beleidigende Ausdrucksweise – werden nur wenig positive Resonanz in der Bevölkerung und in der Politik finden, auch nicht bei kritischen Bürgern und oppositionellen Politikern. Das sind Dialoghindernisse, die Gehör und Annäherung erschweren.

Dennoch, das vorliegende Angebot von führenden "Querdenkern" zum Dialog sollte wahrgenommen wird

Eine Möglichkeit bestündein der Einsetzung einer gemischten Kommission von Experten und Bürgern zur Frage der geeigneten Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19. Sie sollte je zur Hälfte von nicht regierungsamtlich gebundenen Experten und nicht an Behördenmaßnahmen beteiligten Bürgern besetzt werden.

Dabei müsste auf ein ausgewogenes Verhältnis von Befürwortern, Skeptikern und Gegnern restriktiver Maßnahmen geachtet werden. Die Kommission sollte unter der Schirmherrschaft des Bundestages stehen, ihre Mitglieder von einer neutralen und mit demokratischen Meinungsbildungsprozessen erfahrenen Organisation auf transparente Weise berufen und unparteiisch moderiert werden.

Die Aufgabe der Kommission wäre es, fortlaufend alle relevanten Daten und Aspekte zum Pandemiegeschehens zu sammeln und konstruktive Lösungsvorschläge zu erarbeiten - möglichst im Konsens. Die Öffentlichkeit sollte am Fortgang der Beratungen teilnehmen können. Die Vorschläge werden dem Bundestag und der Regierung zur Beratung vorgestellt.

Überhaupt ist der Weg aus dem Auseinanderdriften von Politik und Bevölkerung eine stärkere und institutionalisierte Bürgerbeteiligung, worüber an anderer Stelle genauer zu reden wäre.

Dr. theol. Wolfram Janzen, Studium der Theologie und Germanistik, vor seiner Zurruhesetzung tätig als Religionspädagoge in Schulen, Hochschule und Lehrerinnenaus- und -fortbildung. Veröffentlichungen im pädagogischen und religionswissenschaftlichen Bereich. War an religionssoziologischen Forschungen zu "Jugend und Religion" beteiligt.

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