Quo vadis, Liberalismus?
Ein Gespräch über die Grund- und Bürgerrechte mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger gilt als eine der wenigen FDP-Politikerinnen, die das Ideal eines Grundrechteliberalismus weiterhin hochhält - obwohl sich ihre Partei inzwischen vor allem um Steuersenkungen und wirtschaftsfreundliche Politik zu kümmern scheint. Die ehemalige Bundesjustizministerin im Kabinett Kohl trat 1996 aus Protest gegen die Zustimmung der Liberalen zum so genannten "Großen Lauschangriff" zurück.
Die bayerische FDP-Landesvorsitzende ist Mitglied des deutschen Bundestages und sitzt dort im Ausschuss für Menschenrechte und im Europaausschuss. 2002 ist die Schamfrist als ehemalige Bundesjustizministerin vorbei - dann will sie auch wieder in den einflussreichen Rechtsausschuss eintreten.
Telepolis traf sich mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zum Gespräch im Berliner Reichstagsgebäude.
Frau Leutheusser-Schnarrenberger, seit Ihrem Rücktritt im Januar 1996 wegen der Zustimmung Ihrer Partei zum Großen Lauschangriff ist die Zeit nicht stehengeblieben. Heutzutage scheint es so, als beherrschten die Wirtschaftsliberalen bei der FDP das Spielfeld.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Die einzige Chance, die eine FDP als liberale Partei hat, ist, wenn sie einen ganzheitlichen Liberalismus vertritt. Und der sollte dann nicht mehr diese Aufspaltung zwischen den Wirtschaftsliberalen auf der einen und den Rechtsstaatsliberalen - oder auch Gesellschaftsliberalen; ich glaube, das Wort trifft es noch ein bisschen besser - auf der anderen Seite vornehmen.
Wir hatten nach der Entscheidung für den Lauschangriff doch eine vierstellige Anzahl von Austritten - Eintritte zu dieser Zeit wegen der Änderung in unserer Haltung eigentlich nicht. Heute, so ist zumindest meine Einschätzung als Mitglied der FDP-Führungsgremien, würde man, auch mit einer anderen politischen Konstellation im Bundestag, in der Mehrheit wohl eher dagegen stimmen.
Das hätte aber auch wahrscheinlich etwas damit zu tun, dass man gesehen hat, dass die Anforderungen, die von den Lauschangriffs-Befürwortern in der FDP an das Abhören in den Wohnungen gestellt wurden, nur zum Teil auch durchgesetzt werden konnten - im Zusatz zu Artikel 13 der Verfassung, aber auch in den einfachen Gesetzen, die man schließlich geändert hat (Bundesrat verabschiedet Lauschangriff).
Beispielsweise gibt es kein klares Beweisverwertungsverbot, wenn etwa bei bestimmten betroffenen Berufsgruppen Daten erhoben werden. Und die Konzentration der Fälle ist natürlich nicht bei einem einzigen zuständigen Gericht mit speziell ausgebildeten Richtern vorgenommen worden, sondern hängt an Ermittlungsrichtern, die gerade Dienst haben. Mein Fazit ist, dass das Umschwenken der FDP in Sachen Lauschangriff nichts gebracht hat.
Worum ging es damals letztlich?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Im Grunde darum, wer für Sicherheit und wer für Freiheit ist - als absolute Gegensätze.
Das heißt, jeder, der eine Grundrechtsposition vertritt, ist sofort verdächtig, nicht unbedingt ein Krimineller zu sein, aber auf alle Fälle gegen Sicherheit, jedenfalls nicht für Sicherheit zu sein. Das ist natürlich eine total opportunistische und letztlich auch inhaltlich falsche Position.
Denn es ist ganz klar: In einem Staat, in dem sie die absolute Sicherheit haben, möglichst im diktatorischen Staat, haben sie genauso Kriminalität, in welcher Form auch immer. In einer Demokratie, in der wir ein Freiheitsgebot haben, das in den Grundrechten und damit in der Verfassung verankert ist, müssen wir einen ganz anderen Abwägungsprozess vornehmen.
Ein Grundrecht auf Sicherheit steht bewusst nicht in der Verfassung. Für mich heißt das als Liberale dann im Zweifel, bei Abwägung aller Gesichtspunkte, eben für die Freiheit zu sein. Und das muss in einer Gesellschaft, in der wir auf das Individuum setzen mit seiner Verantwortung, natürlich diskutiert und auch umgesetzt werden.
Das heißt ja nicht, dass wir nicht für eine bessere technische Ausstattung der Polizei sind und auch für moderne Ermittlungsmethoden. Aber dann, wenn sie soweit gehen, dass hier von entscheidenden Grundrechten - und das ist für mich der Persönlichkeitsschutz des Einzelnen ganz sicher - im Kern fasst nichts übrigbleibt, dann müssen wir mit unserer grundsätzlichen Gesellschaftsauffassung auch "Nein" sagen können.
Der "Große Lauschangriff", der dann 1998 auch mit den Stimmen der SPD verabschiedet wurde, war sicherlich ein Dammbruch. Seit dem hat man das Gefühl, bis zur heutigen TKÜV (Wirtschaftsministerium gibt Gas bei der Lauschverordnung) oder zum G-10-Gesetz Bundestag verabschiedet Lauschgesetz), dass dieser entscheidenden Einschränkung der Grundrechte ein weiterer Baustein nach dem anderen folgt. Wieso ist die Gegenbewegung - auch bei den Liberalen - so schwach?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Es ist eigentlich keine Partei da, die die Grundrechte-Debatte zu "dem" entscheidenden Thema macht. Natürlich müssen sich alle Fraktionen immer tagespolitisch daran orientieren, was im Moment das wichtigste Thema ist. Das sind heute zum Beispiel die Arbeitsmarktpolitik und die notwendigen Reformen der Sozialsysteme. Meine Auffassung ist aber, dass es hier nicht um ein Entweder-Oder geht.
In viele Bereiche spielen die Grundrechte hinein, denen man ein stärkeres Gewicht verleihen muss, beispielsweise in der Debatte um den Medikamentenpass. Daran sieht man, dass man sehr wohl für das eine, sprich die notwendige Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, sein kann - und sich genauso für Grundrechte einsetzt.
Verspielen wir unsere Menschenrechte also am Roulettetisch der Aktualität?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Es ist der sehr, sehr schwergewichtige Pragmatismus, der einen Großteil der Politiker erfasst hat. Die meinen zumeist, nur damit könne man bei den Bürgern bestehen. Daran glaube ich nicht, denn die Meinungsbildung des Bürgers hängt auch von dem ab, was man ihm präsentiert - so wie ich in den Wald hineinrufe, schallt es heraus. Ich werde zugedeckt mit Anfragen, zu Grundrechtsfragen zu sprechen - nach dem Motto: Was ist davon denn heute noch übrig?
Es gibt eine gewisse Angst, dass diese Fragen nicht populär genug seien, und das man mit anderen Themen sehr viel besser, zumindest auf die Schnelle, "Vox Populi" erreichen könnte. Würde man diese Bereiche deutlicher ansprechen, wären sie in unserer Gesellschaft aber natürlich auch von einem sehr viel größeren Gewicht.
Die Befürchtung ist meistens, dass man zu sehr in die Defensive gegenüber dem Bürger käme, wenn man zu grundrechtsbetont argumentiert. Der könnte ja dann sagen: Das ist mir zu abstrakt und zu grundsätzlich und ich möchte lieber, dass die Steuersätze niedriger sind und ich weniger Sozialabgaben zahle und so weiter, und so fort. Man muss ihm also klar machen, dass das letztendlich alles Fragen sind, die etwas mit Entfaltung von Freiheit zu tun haben. Ich glaube aber, dass die Politik im Moment nicht gewillt ist, diese Grundsatzdiskussion zu führen.
Dabei betrifft die Einschränkung der Grundrechte doch jeden einzelnen Bürger - wieso ist das so schwer zu vermitteln?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Man darf natürlich nicht unterschätzen, dass es zumindest in den allgemeinen Medien für diese Fragen wenig Interesse zu geben scheint. Die Resonanz ist selten groß.
Auch beim Lauschangriff war es so, dass der 'Spiegel' erst dann mit einem Mal auf der Bildfläche erschien, als es um die Pressefreiheit ging, also in wie weit Journalisten abgehört werden dürfen. Das war dann aber drei Wochen vor der endgültigen Entscheidung. Vorher hatten die diese Facette des ganzen Problems überhaupt nicht wahrgenommen, von anderen Presseerzeugnissen ganz zu schweigen.
Ich glaube also, dass es nicht nur daran liegt, dass das Feld noch mehr von Politikern besetzt werden müsste, sondern das es schlicht auch schwierig ist, es zu kommunizieren und zu transportieren. Und zwar nicht, weil das Thema unverständlich ist, sondern weil das Interesse nicht ausgeprägt zu sein scheint.
Welche Unterschiede sehen Sie zwischen der heutigen innenpolitischen Haltung von SPD/Grünen und der Regierung Kohl?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Zwischen dem, was CDU/CSU mit dem Innenminister Kanther betrieben haben, und dem, was der jetzigen Innenminister tut, gibt es meiner Meinung nach kaum Unterschiede. Wenn, dann nur geringfügig graduelle, beispielsweise bei Zuwanderung und Staatsangehörigkeitsrecht. Bei den Fragen der Sicherheit aber keineswegs. Otto Schily ist genauso ein Verfechter eines Grundrechtes auf Sicherheit wie das Manfred Kanther gewesen ist. Und das macht dann die ganze Problematik deutlich, denn wenn Sie das einführen würden - und Schily meint ja, das gäbe es sogar "ungeschrieben" - dann können Sie alle anderen Grundrechte vergessen.
Wenn es ein Grundrecht auf Sicherheit gibt und man dann in den Abwägungsprozess eintritt, ist angesichts der politischen Gemengelage noch viel weniger damit zu rechnen, dass man sich im Zweifel einmal für ein Grundrecht auf Freiheit oder Persönlichkeitsschutz entscheiden würde.
Dann wird die Sicherheit im Zweifel immer Vorrang haben und ist dann strukturell auf so einer Ebene, auf der man nur noch schwer argumentieren kann. Von daher kommt von der SPD nichts anderes, als von der konservativen Regierung unter Kohl. Enttäuschend sind für mich die Grünen, die ja außerparlamentarisch die ganz großen Grundrechts-Wortführer gewesen sind.
Lassen sich Ihre liberalen Vorstellungen in der aktuellen Situation nach den Anschlägen des 11. September noch durchsetzen?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Natürlich stehen in der jetzigen Zeit die Sicherheitsbedürfnisse der Menschen besonders im Vordergrund. Es scheint offenbar keine Konjunktur mehr für Grund- und Bürgerrechte zu geben. Aber gerade in dieser angespannten Lage müssen wir bei jeder Forderung genau prüfen, was diese für unsere essentiellen Freiheiten bedeuten kann. Das sollte zum Pflichtprogramm jedes Verantwortlichen gehören. Es kann auch nicht sein, dass der Datenschutz jetzt generell als Täterschutz gilt. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung hat Verfassungsrang.
Derzeit wird ein Füllhorn an politischen Vorschlägen über uns ausgeschüttet. Letztendlich dienen diese aber vor allem dazu, das Vollzugsdefizit nicht in Erscheinung treten zu lassen. In der inneren Sicherheit werden viele Gesetze nicht richtig angewandt, obwohl sie längst vorhanden sind.
Nutzen konservative politische Kräfte die momentane Angst der Menschen vor dem Terrorismus denn aus?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: In dieser Situation wird in der Tat versucht, all das durchzusetzen, was bis jetzt aus guten Gründen abgelehnt wurde. Aber auch alte Vorschläge werden herausgeholt. Der Paragraph 129b zur erweiterten Terrorismusbekämpfung lag schon seit zwei Jahren in der Schublade - auch ohne die aktuellen Anschläge in den USA. Daneben wurde ebenfalls schon länger das Religionsprivileg diskutiert.
Was sollte der Staat Ihrer Meinung nach tun, um seine Bürger besser zu schützen?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Es geht um Selbstverständlichkeiten. Wir brauchen tatsächlich mehr Geld für die innere Sicherheit. Wir müssen das Personal beim BKA, bei BND und Verfassungsschutz und vor allem bei den Landespolizeibehörden aufstocken, damit vorhandene Gesetze auch angewendet werden können.
In den USA scheint es ja so gewesen zu sein, dass die mit vielen Kompetenzen ausgestatten Dienste mit einem derartigen Anschlag nie gerechnet hatten, obwohl es offenbar bereits vor Monaten Hinweise gab. Das zeigt, dass sie Teile ihrer Tätigkeit vernachlässigt haben, insbesondere die persönliche Geheimdiensttätigkeit in den Kreisen terroristischer Organisationen selbst. Man hat sich auf seine millionenteure Abhörtechnik verlassen. Diese Technologiegläubigkeit muss aber nicht grundsätzlich richtig sein.
Terrorismus hat außerdem Ursachen, mit denen man sich beschäftigen muss. Die Sicherheit im Inland zu erhöhen, ist nur eine Reaktion. Langfristig muss man neben den nationalen Überlegungen eine globale Strategie ausarbeiten und zu einer ausgewogene Außenpolitik kommen, die die Demokratisierung vorantreibt. So ist beispielsweise die Lage im Nahen Osten zwischen Israelis und Palästinensern dringend zu verbessern. Sie birgt ein hohes Gefahrenpotenzial für die ganze Welt.
In anderen Ländern, beispielsweise in Amerika, scheint die Grundrechtefrage größeres Gewicht zu haben. Fehlt uns in Deutschland diese Tradition?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Der Artikel 5 des Grundgesetzes, das Recht auf Meinungsfreiheit, ist in meinen Augen das konstitutive Grundrecht für unsere Demokratie. Doch es muss in Deutschland starke Spannungsfelder aushalten.
Man erinnere sich nur an die Debatte um das berühmte Tucholsky-Zitat Soldaten sind Mörder, wo es um die Ehre des Einzelnen (oder der Bundeswehr) gegenüber der Meinungsfreiheit ging. Damals wurde überlegt, ein Gesetz zu schaffen, um die Armee vor diesem "Ehrverlust" zu schützen. Dabei ging es wohlgemerkt um die Verwendung eines Zitates, nicht darum, dass man zu einem Soldaten X gesagt hätte, er sei ein Mörder (was man natürlich nicht dürfte). Hier wurde in Deutschland einmal mehr sofort in Abwägungen gedacht - und man meinte eigentlich, mit so einer Äußerung, wenn sie denn nicht sofort geahndet wird, könne man in unserer Gesellschaft nicht leben.
Ähnliches sehen wir auch in der Debatte um die Rechtsextremisten. Wenn es darum geht, ob die demonstrieren dürfen, wird in erster Linie immer auf die Justiz gescholten, wenn sie zu dem Ergebnis kommt, dass man das nicht verbieten kann.
Ich bin der Meinung, dass man dort ganz anders argumentieren muss und viel eher sagt: Das hält eine Gesellschaft aus. Nur wenn ich mich mit denen, die da etwas verkünden, was mir zutiefst zuwider und im Kern antidemokratisch ist, offen auseinandersetze, wird es bekämpfbar. Die Demokratie muss sich offen damit auseinandersetzen, möglichst viele daran beteiligen und so eine breitere Grundüberzeugung schaffen. Die Vorstellung, da gäbe es schon eine Obrigkeit, die uns dann alle vor jenem Denken schützt, das wir nicht wollen, ist eine trügerische. Es macht auch nicht den Bürger in seiner Überzeugung für die Meinungsfreiheit sicherer und verfestigter, wenn wir immer darauf schielen, wo es denn einen Stärkeren gibt, nämlich hier den Staat, der uns vor allem Bösen beschützt. Dieses Schutzdenken, diese Schutzstaatsfunktion, scheint mir in Deutschland sehr viel stärker ausgeprägt, als beispielsweise in den Vereinigten Staaten.
Welche Motivation steckt eigentlich dahinter, wenn die Sicherheitspolitiker eine umfassende Überwachung fordern, die Privatsphäre und die Unverletztlichkeit der Wohnung immer weiter einschränken - obwohl sie doch wissen, dass mindestens die organisierte Kriminalität ganz genau weiß...
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: ...wie sie diese Maßnahmen umgehen und entsprechende "sichere" Mechanismen nutzen kann?
Wieso gilt Überwachung immer noch als Allheilmittel?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Ich glaube einmal, dass hier eine Art Gottvertrauen in einen derartig ausgestatteten Sicherheitsstaat gesetzt wird. Nach dem Motto: Wenn es eben gar nicht so viele trifft, dann siehst Du doch, dass es gar nicht so schlimm ist.
Das ist ja immer die Argumentation, wenn man zum Beispiel beim Lauschangriff sagt, nur so und so oft wurde der angewandt, und nur in ganz wenigen Fällen auch mal mit Erfolg. "Ja sehen Sie", höre ich dann, "wieso sind Sie denn damals dagegen gewesen, es passiert doch gar nicht so häufig - aber es ist doch wichtig, dass wir ihn haben". Darin sehe ich eine Überzeugung, dass man mit gewissen rechtsstaatlichen Vorbehalten eigentlich alles, auch Grundrechtseinschränkungen, vertreten kann: Wir haben doch immer einen Richtervorbehalt; es ist doch nie willkürlich; wir haben Forderungen in Gesetzen stehen, das heißt, es wird doch alles überprüft; man hat doch auch als Betroffener ein Rechtsmittel gegen den Lauschangriff - zwar wahrscheinlich erst in vier fünf Jahren, weil man vorher davon nie etwas erfährt - aber immerhin.
Grundsätzlich wird also beschwichtigt, dann aber argumentiert, es sei dringend notwendig, denn wir bräuchten diesen Staat, der eben wirklich alle Instrumente, wie Herr Kanther und Herr Schily unisono immer sagten, aus dem "Handwerkskasten der Sicherheitspolitik" einsetzen kann. Damit er eben nicht zahnlos und ein Nachtwächterstaat werde.
Das steckt bei vielen Sicherheitspolitikern wirklich tief drin, man glaubt fest daran. Die meinen, dass wenn man diese Instrumente nicht hat, der Bürger eben längst nicht derjenige ist, der verantwortungsbewusst, mündig und klug mit seinen Rechten umgeht, sondern er doch nicht dazu in der Lage ist und bevormundet werden muss. Das, was wir in allen anderen Bereichen von den selben Leuten hören, dass wir auf die Eigenverantwortung des Bürgers setzen müssen, ist genau hier nicht mehr vorhanden.
Die technischen Möglichkeiten der Überwachung verbessern sich ständig. Wenn ganze Lebensabläufe ins Internet migrieren, hinterlassen die Menschen eine ständige Datenspur, die begierig von den Behörden abgegriffen werden würde - Stichwort Speicherungsgebot für Bestandsdaten. Weiß die Politik überhaupt, was sie dort zulässt?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Es ist nach wie vor schwierig für einen Politiker, zu verfolgen, was sich dort tut - gerade technisch. Wir sehen die neuen Möglichkeiten ja normalerweise nicht unter dem Aspekt, wie weit damit in die Privatsphäre des Einzelnen langfristig nachvollziehbar eingegriffen wird.
Man muss den Bürger mehr aufklären. Wir haben zwar immer mehr Netz-Anschlüsse in Deutschland, aber es ist für einen Großteil der Menschen noch immer ein Buch mit sieben Siegeln. Wenn, dann schicken die Leute mal eine E-Mail im Bekanntenkreis, aber das, was da tatsächlich passiert und wo es sie wirklich berührt, bekommen sie kaum mit. Wenn dann jemand nach Jahren eine ablehnende Entscheidung, beispielsweise bei einer Bewerbung, erhält, weiß er dann nicht warum. Dann könnte man vielleicht einmal nachforschen, was man vor Jahren im Internet geschrieben hat. Solche Fälle sind schon an mich herangetragen worden.
Man muss die Menschen besser informieren, dass das auch nicht nur eine abstrakte Gefahr für den Einzelnen ist, sondern dass das ganz konkret werden kann. Dass es jeden jetzt schon betreffen kann, der sich am Netz beteiligt.
Nicht dass ich sage, nutze das Internet nicht - es ist eine wunderbare Sache, auch für die Demokratie und die Meinungsfreiheit. Man sollte sich aber dreimal überlegen, welche Daten man eingibt, was man in welcher Form macht und wie man allgemein mit dem Medium umgeht. Grundsätzlich brauchen wir eine - auch internationale - Debatte, welche Entwicklung wir dort wollen. Wenn wir das nicht jetzt machen, drehen wir das Rad in zehn Jahren nicht mehr zurück.
Was sollten die Multiplikatoren im Netz Ihrer Meinung nach tun?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Das Zugehen auf Politik alleine reicht nicht, auch nicht das Transportieren von Sachverhalten und Hinweisen auf gefährliche Entwicklungen. Die Menschen sollten selbst als Akteure der Zivilgesellschaft agieren. Nur diese Kombination funktioniert. Das klassische Netzwerk, das bereits in anderen Bereichen funktioniert, muss hier mit der Zielrichtung, eine stärker grundrechtsbezogene Politik zu machen, erst noch entstehen.