RKI-Files und Medien: Der Kampf um Deutungshoheit

Stapel Zeitungen

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Corona-Aufarbeitung: Wie Medien mit der Veröffentlichung der Protokolle durch ein Magazin umgehen, das sie dem Verschwörungsmythen-Milieu zuordnen. Ein kritischer Blick.

Nachdem das Online-Magazin Multipolar am 18. März erstmals über die von ihm erstrittenen Protokolle des Corona-Krisenstabs des Robert Koch-Instituts (RKI) berichtet und diese dann am 20. März in der ihm vorliegenden Fassung vollständig öffentlich gemacht hatte, sind sie Thema in den Medien.

Nach erster Rezeption in sogenannten alternativen Medien war es wohl ein Bericht des ZDF (Erstfassung), der die "RKI-Files" auf die große Agenda gesetzt hat.

Doch der Umgang mit diesen Protokollen ist im Hinblick auf die Berichterstattungsqualität speziell - im Corona-Kontext vielleicht aber inzwischen auch normal.

Zunächst kann man zwei Dinge Multipolar sicher nicht vorwerfen: dass das Medium auf den schnellen Effekt gesetzt habe und dass es seinen juristischen Erfolg ausschlachtet. Gegen das Erste spricht die lange Zeit zwischen Zugang der Protokolle und ihrer öffentlichen Auswertung, die rund ein Jahr betrug.

Denn das Magazin hatte, nach eigenen Angaben und nachvollziehbar dargelegt, zunächst versucht, die vielen Schwärzungen in den Protokollen noch beseitigen zu lassen. Weil sich die entsprechende Behandlung bei Gericht jedoch hinzieht, entschloss man sich schließlich, auch mit diesem Material in die Öffentlichkeit zu gehen.

Gegen das Zweite spricht, dass Multipolar das gesamte Material online gestellt hat, so dass sich alle Medien daran für eigene Berichte bedienen können. Als Gegenbeispiel sei nicht nur auf häufige Wendung der Art "nach uns vorliegenden Dokumenten" verwiesen, sondern etwa auch auf die Protokolle der Bund-Länder-Konferenzen aus der Corona-Zeit, die der Berliner Tagesspiegel zwar erstritten hat, über die er dann aber nicht berichtet und die er auch nicht öffentlich gemacht hat.

Wertungen statt Fakten

Trotz des erheblichen Umfangs der Protokolle von mehr als 2.000 Seiten waren viele Journalisten schnell der Ansicht, sie gäben nicht viel her.

Zwei Tage nach dem ZDF-Bericht ordnete der ARD-Faktenfinder das Geschehen unter der Überschrift ein: "Die RKI-Files und der Skandal, der keiner ist".

Darin kapriziert sich Autor Pascal Siggelkow vor allem auf die in der Tat von Multipolar betonte Frage, wer letztlich verantwortlich war für die Hochstufung der Corona-Gefahr von "mäßig" auf "hoch" am 18. März 2020. Die entsprechende Passage im Protokoll vom 16. März 2020 lautet:

Am WE (=Wochenende, Anm. d. A) wurde eine neue Risikobewertung vorbereitet. Es soll diese Woche hochskaliert werden. Die Risikobewertung wird veröffentlicht, sobald (Stelle geschwärzt, Anm. d.A.) ein Signal dafür gibt.

Sitzungsprotokoll des RKI-Krisenstabs vom 16. März 2020 (Datei 080, Seite 6)

Das RKI sagt, hinter dem geschwärzten Namen stehe ein Mitarbeiter des RKI - also kein Politiker.

Warum allerdings ein RKI-Mitarbeiter, der ein so entscheidendes "Signal" geben darf, welches Auswirkungen auf die gesamte Bevölkerung haben wird, anonym bleiben muss, dürfen nicht nur, sondern müssen Journalisten fragen.

Und selbst, wenn man den Datenschutz eines sehr gewichtigen RKI-Mitarbeiters für wichtiger als das Informationsinteresse der Öffentlichkeit halten mag, gäbe es noch Möglichkeiten der Konkretisierung.

Viel wichtiger aber: Welcher Name auch immer hier verborgen wird, seine Auflösung wäre ja noch nicht der Beweis dafür, dass es keinen politischen Einfluss gab. Schließlich ist das RKI eine dem Bundesgesundheitsministerium unterstellte Behörde.

Und der Umgang mit den RKI-Files selbst zeigt den politischen Einfluss. Denn während die nun nach längeren Verhandlungen vorliegende geschwärzte Fassung der Protokolle nach Ansicht des RKI (vertreten durch seine Rechtsanwälte) das ist, was nach Informationsfreiheitsgesetz möglich ist, sagte der Bundesgesundheitsminister am 28. März 2024:

Ich habe gestern veranlasst, dass die Protokolle weitestgehend entschwärzt werden sollen, dass jetzt noch einmal geprüft werden soll, was muss unbedingt geschwärzt werden.

Karl Lauterbach im Deutschlandfunk

Dass nur das unbedingt Notwendige geschwärzt wurde, hatte das RKI bereits durch die Kanzlei Raue auf rund 1.000 Seiten ausgeführt. Wie sich Minister Lauterbach darüber fachlich hinwegsetzen kann, bleibt zu klären. Oder eben: Wieso das RKI mehr verheimlicht, als nach dem Informationsfreiheitsgesetz zulässig ist.

Vor allem die vielen Diskussionen um Protokoll-Fragmente auf X zeigen jedenfalls, dass weit mehr in den Dokumenten steckt als nur die Frage, wer den ersten Lockdown ab 22. März 2020 wissenschaftlich abgesichert hat.

Framing statt Aufklärung

Eine übersichtliche Zusammenfassung der Essentials der umfangreichen Protokolle sucht man in den großen Medien vergeblich. Stattdessen gab es neben den schnellen Entwarnungen, es stehe nichts Bewegendes drin, von Anfang an ein Framing des Magazins Multipolar.

Der Spiegel schreibt im ersten Satz: "Das Medium eines rechten Verschwörungstheoretikers hat die Coronaprotokolle des Krisenstabs am Robert Koch-Institut herausgeklagt."

Der für Multipolar Verantwortliche und Kläger in Sachen RKI-Files, Paul Schreyer, schreibt dazu, der Spiegel habe auf Anfrage nach Belegen für den Vorwurf lapidar geantwortet: "Unserem Beitrag haben wir nichts hinzuzufügen."

Ausführlich schildert Schreyer auch den Mailwechsel mit der Süddeutschen Zeitung (SZ) . Dort hieß es in einem Beitrag: "Der Blog Multipolar, eine Internetseite mit Hang zu Verschwörungsmythen, hatte die Herausgabe der Protokolle des Corona-Krisenstabs im RKI beantragt und vergangene Woche veröffentlicht."

In der Korrespondenz mit Schreyer bzw. Multipolar beruft sich die SZ unter anderem auf den Soziologen Andreas Anton, Co-Herausgeber des Sammelbands "Konspiration - Soziologie des Verschwörungsdenkens". Anton, so die SZ, zitiere "Ihr (Schreyers, Anm. d. A.) Werk als Beispiel in seinem Aufsatz 'Verschwörungstheorien zum 11. September'".

Danach befragt, ob die SZ-Interpretation richtig sei, hat Andreas Anton laut Multipolar Folgendes geantwortet, was wegen seiner Bedeutung für die Diskussion vollständig zitiert sei:

Der Begriff "Verschwörungstheorie" (oder wie es heute gerne heißt: "Verschwörungserzählung" oder "Verschwörungsmythos") ist mehr denn je ein Kampfbegriff, der häufig genutzt wird, um Meinungen oder Personen zu diskreditieren.

Angesichts der Tatsache, dass es reale Verschwörungen gibt und Verschwörungstheorien damit selbstverständlich auch wahr sein können, ist der Vorwurf, dass jemand ein "Verschwörungstheoretiker" sei, an sich vollkommen inhaltsleer.

Verschwörungstheorien können plausibel sein oder eben nicht. Pauschalurteile verbieten sich hier. Wir verwenden in unseren soziologischen Analysen zu Verschwörungstheorien eine neutrale Begriffsdefinition.

Eine Verschwörungstheorie ist für uns schlicht ein Erklärungsansatz, der aktuelle oder historische Zustände oder Ereignisse als Ergebnis einer Verschwörung interpretiert. Nicht mehr und nicht weniger.

Wir setzen der landläufigen negativen Konnotation des Begriffs für die wissenschaftliche Diskussion also ein neutrales Begriffsverständnis gegenüber, das keine generellen Aussagen über die Plausibilität oder den Wahrheitsgehalt verschwörungstheoretischer Deutungen macht.

Das wird leider oft missverstanden. Jemanden mit Bezug auf unsere Arbeiten als 'Verschwörungstheoretiker' zu bezeichnen und damit für unseriös erklären zu wollen, ist also einigermaßen absurd.

Andreas Anton

Das Label "Verschwörungstheoretiker" ersetzt insbesondere bei Corona-Debatten oft die nüchterne Darstellung von Fakten, zu denen sich dann ein jeder seine eigene Meinung bilden könnte.

Hier kommt allerdings hinzu, dass es für die Bewertung der RKI-Files völlig unerheblich ist, wer sie zutage gefördert hat. Jedenfalls für den Inhalt selbst.

Aufklärung obliegt den kleinen Medien

Denn erstaunlich ist, dass wesentliche Dokumente zur Corona-Zeit nicht von den großen Medien, nicht von Rechercheverbünden oder redaktionell gut besetzten Sendern an die Öffentlichkeit gebracht wurden, sondern von kleinen und eben dann oft negativ geframten Medien.

Jeder Bürger und damit auch jeder Journalist in Deutschland hätte die Herausgabe der RKI-Protokolle beantragen und ggf. gerichtlich erstreiten können. Doch es war Multipolar. Die Protokolle der Bund-Länder-Konferenzen wurden zwar vom Tagesspiegel erstritten, aber erst durch eigenen Antrag des Frankfurter Arztes Christian Haffner öffentlich zugänglich.

Die Herausgabe der Protokolle des Corona-Expertenrats musste Haffner erst gerichtlich erstreiten - auch hier hatte sich kein Medium erkennbar interessiert gezeigt. Die filmische Aufbereitung übernahm die freie Journalistin Aya Velázquez.

Mängel bei Dateninterpretation

Anknüpfend an "Die subtile Kunst der Fehlinformation" sei zum Umgang mit den RKI-Files noch ein Beispiel aus der Blogosphäre benannt.

Der Blogger Fefe beginnt seine kurze Einordnung mit den Worten: "Die Corona-Leugner haben ein paar RKI-Akten freigeklagt und glauben jetzt, den rauchenden Revolver gefunden zu haben." Und schließt mit folgendem Bonmot:

Ich persönlich halte es da wie Jimmy Carr in seinem Netflix-Special. Der fragt am Anfang das Publikum: Fanden Sie auch, dass die Corona-Maßnahmen zu hart waren? Das Publikum raunt zustimmend. Jimmy: "Das finden viele der Überlebenden!"

Felix von Leitner

Was nach einer pointierten Kritik am Egoismus klingt, offenbart tatsächlich aber einen Standardfehler im journalistischen Umgang mit Daten der Pandemie. Denn es wurde regelmäßig unterstellt, dass es nur eine Grundgesamtheit gibt, aus der sich alle statistischen Werte ergeben.

Am deutlichsten war dies bei Vergleichen zwischen Geimpften und Ungeimpften zu sehen. Eine Zeitlang wurden Patienten auf Intensivstationen nach diesem Status unterschieden und die relativen Anteile der Erkrankten gegenübergestellt.

Dies wäre jedoch nur bei einer zufälligen Verteilung der Impfungen sinnvoll, wie es in den klassischen Wirksamkeitsstudien gemacht wird. In der Bevölkerung bilden jedoch Geimpfte und Ungeimpfte zwei verschiedene Gruppen. Die Entscheidungen für oder gegen eine Impfung fielen nicht statistisch zufällig. Die Details spielen hier keine Rolle, aber es liegt auf der Hand, dass es vor allem gesundheitsrelevante Faktoren waren, die von den Einzelnen abgewogen wurden.

Wer bereits im Hospiz lebte, wird in einer Corona-Impfung vielleicht keinen Sinn mehr gesehen haben, ebenso wie Menschen, die aufgrund bestimmter Vorerkrankungen eher negative Reaktionen ihres Immunsystems befürchteten. Wer jede Vorsorgeuntersuchung mitnimmt, war vermutlich eher unter den Geimpften als jemand, dessen Lebenswandel auf eine Mir-ist-alles-egal-Haltung deutet.

In Fefes Anekdote nun unterstellt Jimmy Carr, alle während der Pandemie-Jahre Gestorbenen seien wenigstens im Zweifelsfall Opfer zu lascher Corona-Maßnahmen geworden und schließt die gegenteilige Wirkung aus, beispielsweise durch Vereinsamung (Kontaktbeschränkungen, Besuchsverbote), unterbliebene oder ausgesetzte medizinische Behandlungen, Unterbrechung von Hilfslieferungen in Hungergebiete, existenzielle Not durch Jobverlust.

Aus Corona-Politik und Corona-Journalismus gibt es sicherlich noch vieles aufzuklären. Die RKI-Files bieten dafür einige Ansatzpunkte.