RKI-Protokolle: Der Skandal, der kein Ende kennt

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Ungeschwärzten Protokolle: Die Debatte über den Einfluss der Politik auf das RKI lebt neu auf. Das ist wichtig, auch wenn Medien den Furor abwiegeln. Kommentar.

Taugt die Veröffentlichung der RKI-Protokolle zum Skandal? Die Frage kam Ende März zum ersten Mal in die öffentliche Debatte, als die geschwärzten Dokumente veröffentlicht wurden. Die Tagesschau nahm sie auf und verneinte sie.

Nun, da die ungeschwärzten Dokumente an die Öffentlichkeit gelangten, ist sie wieder neu auf dem Tisch. In der Süddeutsche Zeitung heißt sie "Wo ist jetzt der Skandal?"

Die erste Antwort auf die Eingangsfrage ist ein klares "Ja". Sie gründet auf einer einfachen Beobachtung: Wenn die Empörung einer größeren Menge von Bürgerinnen und Bürger durch die Veröffentlichung neu aufflammt, dann ist etwas im Land schiefgelaufen, das offenbar noch nicht wieder repariert wurde.

Die Empörung kann nicht wegdelegiert werden

Ungeschönt nachzulesen ist die Aufregung in öffentlichen Portalen wie X oder in Alternativ-Magazinen. Harte Worte fallen in vielen informellen Gesprächskreisen, wo die Grenzen zwischen privat und öffentlich fließend sind: in Gesellschaften, Vereinen, Feuerwehrverbänden, Gaststätten, Einladungen, größeren Familientreffen, Straßenfesten. Die Verärgerung kocht schon lange. Die jüngste Enthüllung der RKI-Protokolle befeuert die Empörung weiter.

Es ist eine Empörung darüber, dass man sich während der Corona-Krise von offizieller Seite, von der Regierung, staatlichen Institutionen und Medien getäuscht fühlt.

Man kann diesem Eindruck argumentativ begegnen, aber man kann das Gefühl, dass dem so sei, nicht einfach so zum Verschwinden bringen. Das ist der Skandal, der ans Eingemachte, an den Kern einer deliberativen Demokratie geht. Und die RKI-Protokolle werden als Bestätigung für das Gefühl genommen. Daher taugen sie zum Skandal.

Keine freiwillige Herausgabe der Protokolle

Die zweite Antwort ist ebenfalls "Ja". Das RKI gab die Protokolle nicht freiwillig heraus. Erst ein erzwungener Gerichtsbeschluss veranlasste die erste Enthüllung.

Die zweite Veröffentlichung, die der ungeschwärzten Protokolle, kam von einem Whistleblower.

Verdächtigungen, die widerlegt wurden

Dann wird die Antwort schwieriger. Fakten aus dem RKI-Protokoll widersprechen einem grundsätzlichen Verdacht, mit dem Multipolar die herausgeklagte Enthüllung unterlegte: Dass Mitte März 2020 die Hochstufung von "mäßig" auf "hoch" der Risikobewertung der Atemwegserkrankung Covid-19 nicht auf wissenschaftlicher Grundlage erfolgt ist. Sondern mutmaßlich auf politischer Anweisung, womöglich des weisungsbefugten und übergeordneten Bundesgesundheitsministeriums.

"Nach Sichtung der nun freigegebenen Protokolle wird deutlich: Eine interne fachliche Diskussion zur Risikoeinschätzung gab es anfänglich, die Hochstufung im März erfolgte jedoch abrupt und wurde offenbar von außerhalb des RKI initiiert", lautete der Verdacht des Magazins.

Dieser Verdacht hat sich nicht bestätigt. Das RKI selbst veröffentlichte ungeschwärzte Stellen zu seiner damaligen Entscheidung, die belegten, dass die Entscheidung vom damaligen Vizepräsidenten des RKI und jetzigen Präsidenten, dem Infektionsepidemiologe Lars Schaade getroffen wurde.

Interessant ist der Zusatz des Berichts der Zeit dazu: "Warum das RKI diese Personalie nicht gleich offenlegte, statt Medien spekulieren zu lassen, ist schwer verständlich."

Und man kann natürlich auch mutmaßen, dass Schade die Entscheidung seinerzeit nicht gänzlich alleine getroffen hat, sondern mit dem damaligen Gesundheitsminister Spahn abgesprochen hat. Aber das geht aus den Protokollen nicht hervor, sondern ist Spekulation.

[Nachträgliche Einfügung: Wie Telepolis-Autor Timo Rieg in seinem Blog SpiegelKritik schreibt, ist vom "politischen Einfluss auf das vorgeblich (gerade auch von Verwaltungsgerichten so gesehene) unabhängige RKI (...) an vielen Stellen in den Protokollen zu lesen, am deutlichsten vielleicht in folgender Passage vom 10.09.2021":

"Aktuelle Einschätzung der RKI-Leitung ist, dass die Empfehlungen durch das RKI in der Rolle einer Bundesbehörde ausgesprochen werden, und einer ministeriellen Weisung zur Ergänzung dieser Empfehlung nachgekommen werden muss, da das BMG die Fachaufsicht über das RKI hat und sich als Institut nicht auf Freiheit der Wissenschaft berufen kann. Die wissenschaftliche Unabhängigkeit des RKI von der Politik ist insofern eingeschränkt.” (Seite 982 im Dokument 2021)"]

Fakten widersprechen auch einem anderen "Skandalon", das kritische Augen in den neu veröffentlichten ungeschwärzten RKI-Protokollen ausgemacht haben: Dass ein Papier von Christian Drosten nicht veröffentlicht wurde, weil dies dem "Regierungshandeln widerspricht".

Diese Aussage ist zwar in den Leaks zu finden, wird aber in ihrer politischen Virulenz dadurch abgeschwächt, dass Drosten seine Überlegungen zur Testung kurze Zeit später in der Zeit veröffentlichte. Sie gelangten also an die Öffentlichkeit.

Es bleibt ein großer Rest an Streitpunkten

Diese beiden Skandalons sind ausgeräumt. Es bleibt ein großer Rest an Streitpunkten. Da geht es prinzipiell um den Einfluss politischer Maßgaben auf Entscheidungen, die sich öffentlich auf wissenschaftliche Grundlagen beriefen, um einen politischen Ausnahmezustand zu begründen. Und es geht um die Rolle der Medien, die eine öffentliche Front aufmachten, die das Land heute noch polarisiert.

Dass dies nun neu aufs Tapet kommt, ist eine Folge der Veröffentlichung der RKI-Files.

Nur mal nebenbei: Es muss nicht immer ein "Skandal" dabei herauskommen, wenn bisher unveröffentlichte Dokumente auf der Bildfläche erscheinen. Es könnten auch Einblicke zum besseren Verständnis von Vorgängen sein.

Frank Schmiechen

Nötig ist, um den Skandal abzuarbeiten, dass die Diskussion im Bundestag, in einer Enquete-Kommission aufgenommen wird und in Medien weitergeführt wird, ohne auf einer Frontziehung zu bestehen. Weder mit Rechthabereien noch mit Verharmlosungen ist dem gesellschaftlichen Klima gedient.