RKI-Files: Weiße Weste hinter schwarzen Balken?
Entschwärzte Protokolle zerstreuen Zweifel über politische Einflussnahme auf Robert Koch-Institut – nicht. Neue Fragen kommen auf, meint unser Autor.
Seit Ende März sind mehr als vier Wochen vergangen. Das war die ursprüngliche Frist, die Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) für die von ihm versprochene Entschwärzung der umstrittenen Protokolle des Robert Koch-Instituts (RKI) veranschlagt hatte.
Am vergangenen Donnerstag hat das RKI "aufgrund des öffentlichen Interesses" das Versprechen seines Dienstherren eingelöst – wenngleich noch immer einige schwarze Balken den freien Blick auf die Protokolle des Corona-Krisenstabs versperren.
Was hinter diesen zum Vorschein kommt, spricht die Behörde allerdings nicht von dem Vorwurf frei, in Abhängigkeit von politischen Erwägungen gehandelt zu haben – im Gegenteil.
Warum die Annahme von Einflussnahme naheliegt
Ein kurzer Rückblick: Das Online-Magazin Multipolar, welches die ursprüngliche Veröffentlichung der Protokolle erstritten hatte, sah in der "Hochskalierung" der Risikobewertung für Covid-19 – und damit einer "überraschenden Kehrtwende" – ein Indiz für eine solche politische Einflussnahme auf das Institut (Telepolis berichtete).
Hinter dem geschwärzten Namen der Person, die den Protokollen zufolge das "Signal" zur Veröffentlichung jener Risikobewertung geben sollte, verbirgt sich allerdings kein Politiker, sondern der damalige Vize- und heute erste Vorsitzende des Instituts, Lars Schaade. Das RKI hatte gegenüber Telepolis bereits im März deutlich gemacht, dass die Entscheidung "von der Institutsleitung" kam.
Eine politische Instrumentalisierung des RKI kann folglich ausgeschlossen werden. Oder?
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Diese Frage kann man wohl mit einem klaren Nein beantworten. Das konnte man bereits anhand der damals noch geschwärzten Protokolle. Denn eine Abhängigkeit von der Politik muss man dem RKI schon allein deshalb unterstellen, weil wesentliche Informationen und Abwägungen, die intern offenbar ergebnisoffen diskutiert wurden, nach außen als indiskutabel – oder: alternativlos – kommuniziert wurden. Das RKI hat einen politischen Maulkorb verpasst bekommen, so scheint es.
Anders als unablässig öffentlich beteuert, folgte die Wissenschaft offenbar der Politik – und nicht etwa umgekehrt. Das gilt speziell auch für die so umstrittene Grundlage der damaligen Risikobewertung: dem "politischen Wunsch nach verstärkter Testung" (vgl. RKI-Protokolle vom 29. Juni 2020) bei hoher Wahrscheinlichkeit falsch-positiver Ergebnisse. Und nicht nur für die Grundlage. Denn im selben Dokument findet sich auch die Formulierung "immer noch hohes Risiko – Vorgabe vom BMG".
Es war nicht die einzige Vorgabe, wie die entschwärzten Protokolle nun zeigen.
Liste brisanter Passagen veröffentlicht
Der mit Blick auf die vorgenannte Risikobewertung wohl brisanteste Vermerk findet sich im entschwärzten Protokoll vom 5. Mai 2020. Dort heißt es vonseiten des "Fachgebiets 32: Surveillance und elektronisches Melde- und Informationssystem (Demis)":
Indikatoren [d.h. Inzidenz-Schwellenwerte, P.F.] bereitzustellen wird aus fachlicher Sicht weitgehend abgelehnt, jedoch werden diese nachdrücklich von politischer Seite eingefordert (eine diesbezügliche Weisung ist jedoch nicht erfolgt). Die genannte Inzidenz [35 Fälle/100.000 Einwohner, P.F.] kommt aus einer Diskussion zwischen BM Braun und BM Spahn. RKI-Protokolle 5. Mai 2020
Der Leser ist gerne eingeladen, diesen Gegensatz zwischen fachlicher und politischer Erwägung aufzulösen – wahlweise inklusive der Begründung, wie politische "Weisungen" mit dem Anspruch einer unabhängigen Wissenschaft zu versöhnen sind.
Wie sehr die politischen Erwägungen die fachliche Diskussion geprägt haben, zeigt sich auch in einer zuvor geschwärzten Stelle des Sitzungsprotokolls vom 25. März 2020 unter dem Titel "Nicht-Abschaffung der Risikogebiete bis 5.4. (BMG)".
Demzufolge seien es die Bundesländer gewesen, die darauf gedrängt hätten, das Konzept der Risikogebiete vorerst nicht abzuschaffen. Anschließend hält das Protokoll fest, die Ergebnisse des Nowcast – also der Schätzung des bevölkerungsweiten Krankheitsverlaufs – "vorsichtig" zu kommunizieren, da sie "den derzeitigen Maßnahmen widersprechen" könnten.
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In einer Passage des Protokolls vom 28. Februar 2020 wird eine weitere Abweichung zwischen der Teststrategie der Bundesregierung und der fachlichen Einschätzung des RKI deutlich. Das BMG hatte zuvor angeordnet, dass sich auch asymptomatische Patienten in Gesundheitseinrichtungen Tests auf Covid-19 zu unterziehen haben. FG 32 hält fest, dass "im Krisenstab Einigkeit" darüber bestehe, "dass das nicht sinnvoll ist".
Schwer mit dem politischen Vorgehen in Einklang zu bringen ist auch eine weitere Passage aus dem Sitzungsprotokoll vom 26. Februar 2020, in dem "Fachgebiet 37: Nosokomiale Infektionen, Surveillance von Antibiotikaresistenz und -verbrauch" festhält, dass Kinder "kein(e) wichtigen Glieder in Transmissionsketten" von Covid-19 darstellen und deren Rolle im Gegensatz zum Influenza-Geschehen "eher untypisch untergeordnet" sei.
Das steht im Gegensatz zu jener Position, die der Virologe Christian Drosten am 12. März zu Schulschließungen geäußert hatte und die vom Spiegel aufgrund der plötzlichen Kehrtwende in der Beurteilung als "Drosten-Schwenk" beschrieben wurde.
Pflegeheime: "Schäden der Distanzierung schlimmer Angst vor Tod" Ein weiterer zentraler Punkt, der durch die Schwärzung nun hervorgehoben wird, betrifft den Umgang mit der sogenannten vulnerablen Gruppe der Hochbetagten in Pflegeheimen. Im Protokoll vom 2. Mai 2020 wird dazu unter dem Punkt "Kollateralschäden" von "Fachgebiet 36: Respiratorisch übertragbare Erkrankungen" festgehalten:
"Insbesondere alte und hochalte Personen in häuslicher Pflege oder entsprechenden Einrichtungen formulieren, dass sie die Kollateralschäden der sozialen und physischen Distanzierung als schlimmer empfinden als ihre Angst vor einem möglichen Tod an COVID-19." RKI-Protokolle 2. Mai 2020
Einsamkeit und Vereinsamung werden zudem seit Jahren als Faktoren für ein erhöhtes Sterberisiko diskutiert. Im vergangenen Sommer berichteten verschiedene Medien über eine Studie, wonach einsame Menschen ein signifikant höheres Risiko aufweisen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu erleiden oder an Krebs zu erkranken (bis zu 22 Prozent Steigerung).
Die Zeitung Welt berichtete vor kurzem, dass die Besuchsverbote in der Corona-Krise dazu führten, dass in deutschen Krankenhäusern mindestens 312.897 Männer, Frauen und Kinder einsam starben. Der Yale-Professor, Arzt und Soziologe Nicholas Christakis bezeichnete den Vorgang Welt gegenüber als "amoralisch, unethisch und unnötig".
Masken: "Dauerhaftes Tragen kann Schaden bringen"
Ein weiterer Aspekt, auf den die entschwärzten Protokolle ein neues Licht werfen, ist das Thema Masken. Durch die weitgehend zensierte Erstveröffentlichung war bereits bekannt geworden, dass es kritische Stimmen zur Nutzung von FFP-2-Masken gab. In den nun offengelegten Passagen zeigen sich allerdings noch deutlich umfangreichere Bedenken.
So hält Fachgebiet 36 im Protokoll des 19. März 2020 fest, dass Masken "zum Fremdschutz sinnvoll" sein könnten, betont allerdings, dass es "keine Empfehlung für die Gesamtbevölkerung" geben sollte. Ende April wird die Maskenpflicht für den öffentlichen Nahverkehr und Einzelhandel eingeführt.
Im Protokoll vom 4. Mai 2020 kritisiert "Fachgebiet 14: Angewandte Infektions- und Krankenhaushygiene" ein Video der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, in dem Personen auch unter freiem Himmel eine Maske tragen, darunter unter anderem beim Fahrradfahren. Dazu heißt es vom FG 14:
MNB [Mund-Nasen-Bedeckungen, P.F.] sollen in Geschlossenen Räumen (sic) getragen werden. […] Viele Personen haben jedoch sowieso schon den Eindruck, dass das Corona Virus in der Luft schweben würde und es gibt viele Personen, die Maske auf dem Fahrrad tragen. Das Video vermittelt einen falschen Eindruck für die Bevölkerung. RKI Protokolle 4. Mai 2020
Auffallend ist die Formulierung, die FG 14 daran anschließt, weil diese so nie Eingang in die öffentliche Kommunikation fand: "Das dauerhafte/ vermehrte Tragen von Masken kann auch Schaden bringen."
Wie offen war der Diskurs wirklich?
Soweit eine vorläufige Bestandsaufnahme der entschwärzten Protokolle. Das RKI stellt seiner Veröffentlichung die – teilweise durchaus berechtigte – Einschränkung voran, wonach die getroffenen Bewertungen "den Stand des Wissens und auch der öffentlichen Debatte im Krisenstab zum jeweiligen Zeitpunkt" repräsentieren und "einzelne Äußerungen im Rahmen solcher Diskussionen (…) nicht zwangsläufig eine abgestimmte Position des RKI darstellen".
Sofern solche Einzelpositionen sich allerdings auf ein fachliches Fundament stützen konnten und langfristig relevante Einwände gegen bestehende – vor allem: politische – Konzepte repräsentierten, stellt sich die Frage, ob die andere Behauptung im Vorwort zu den entschwärzten Protokollen aufrechterhalten werden kann.
Nämlich die, dass die Sitzungsprotokolle "den offenen wissenschaftlichen Diskurs wider(spiegeln), in dem verschiedene Perspektiven angesprochen und abgewogen werden."