RUNET: Netzkultur im russischen Internet

Gespräch mit Olia Lialina

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Viel ist derzeit von den realen und virtuellen Grenzen des Internet die Rede. Doch die Vermessungsarbeiten im Netzraum bleiben recht abstrakt, wenn immer nur das verkartet wird, was inzwischen ohnehin alle kennen oder kennen müssten. Dass zumindest für die englisch- und deutschsprachige Netzgemeinde der kyrillisch-kodierte Teil des Internet mehr denn je eine "Terra incognita" ist, war Ausgangspunkt dieses Interviews. Der Text entwickelte sich aus ein paar konkreten Fragen an die Moskauer Netzkünstlerin Olia Lialina, die zur Zeit an der Stuttgarter Merz-Akademie "Kunst im Netz und Online-Umgebungen" lehrt. Die Fragen stellten James Allan und Florian Schneider, ergänzende Kommentare sind jeweils namentlich gekennzeichnet.

Netzkünstlerin Olia Lialina

Olia, in der letzten Zeit kreisten Interviews mit Dir meist um die Frage "Wie kann Netzkunst verkauft werden?" Ich würde gerne das Thema wechseln, und über das russische Internet und die Aktualität der Differenzen zwischen Ost und West sprechen. Die nettime-Konferenz "The Beauty and the East" brachte 1997 viele Künstler und Kritiker aus Ost und West zusammen. Wie erinnerst Du Dich heute an die Athmosphäre damals?

Olia Lialina: Ich erinnere mich sehr gut an die exotische Aura, die osteuropäische Internet- und Medienkünstler Mitte der 90er Jahre umgab. Die Konferenz der Mailinglist nettime war eine der Gelegenheiten, bei denen so manche westliche Vorurteile entblättert wurden und mit denen die damalige Ära der bloßen Neugier endete.

Ich frage mich, was seitdem passiert ist. Mal abgesehen von deinen Arbeiten und denen von Alexei Shulgin ist nicht allzuviel bekannt über das russische Internet.

Olia Lialina: Man hört ja auch nicht allzuviel über das italienische, deutsche, japanische oder ungarische Internet. Es heißt zwar, das Internet hätte keine Grenzen, aber eine Grenze zumindest ist offensichtlich: die sprachliche Grenze. Sprachen ziehen neue Grenzen durch das Internet. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie das im Moment visualisiert werden könnte, und ich kann auch nicht über andere Communities sprechen, aber das russische Netz besteht ja nicht nur aus Servern, Providern, Autoren und Künstlern, die in Rußland angesiedelt sind. Es handelt sich vielmehr um eine Community von Menschen, die russisch sprechen, schreiben und denken. Diese Menschen leben in Amerika, Israel, Deutschland, Russland, Australien, ehemaligen Sowjetrepubliken und so weiter. In diesem Fall also muss man regelrecht von einem neuen Territorium ausgehen, ohne die alten, aber mit neuen Grenzen. Ich kann dies an einem recht aktuellen Beispiel veranschaulichen: In der Sylvesternacht kamen im mexikanischen Gebirge drei Bergsteiger ums Leben. Sie lebten in Amerika, sprachen aber russisch. Sie waren Mitarbeiter verschiedener russischer Online-Magazine, und ihr Tod - der in den Offline-Medien fast überhaupt nicht behandelt wurde - war eine echte Tragödie für die Online-Welt. Oder ein anderes Beispiel: Der berühmte "etoy-eToys"-Konflikt und die lebhaften Diskussionen, die diesen im englischsprachigen Teil des Netzes begleiteten, haben die Grenze zum russischen Internet nicht überquert.

Welche Bedeutung hat Sprache an sich für das russische Internet?

Olia Lialina: Man muss festhalten, dass Sprache für das russische Netz von geradezu außergewöhlicher Bedeutung ist. Zu Beginn waren es Schriftsteller, Philologen und Semiotiker, die die Kultur des Netzes prägten und beeinflussten. Server für Online-Literatur, Veranstaltungen und Autoren-Wettbewerbe sind aber auch heute noch ein sehr wichtiger Bestandteil und nach wie vor im Zentrum der Aufmerksamkeit der Netzbeobachter.

Wie erklärst du das?

Olia Lialina: Es gibt zumindest drei Gründe hierfür: Der erste, recht grundsätzliche lautet: Die gesamte russische Kultur basiert auf dem geschriebenen Wort und die Literatur dominiert das kulturelle Leben Russlands. Der zweite Grund ist eher technologischer Natur: In seiner Gründerzeit diente das World Wide Web fast ausschließlich der Textproduktion. Es war nicht sehr atttraktiv für visuelle Künstler, Fotografen, Filmemacher und so weiter, aber es war ein echtes Paradies für Schriftsteller. Sie waren die ersten, die das Netz nutzten. Und der dritte, sehr subjektive Grund: Roman Leibov, Eugene Gorny und Dmitriy Itskovich waren die Gründer des ersten russischen Online-Kultur-Magazins: Zhurnal.Ru. Sie kamen von der weltbekannten Fakultät für Literatur an der Universität von Tarty in Estland, wo sie Schüler von Yurij Lotman waren, einem der bedeutendsten Semiotiker.

[Fwd to Roman Leibov:: Ich würde gerne hinzufügen, dass zunächst einmal das frühe russische Web von Menschen gestaltet wurde, die im Usenet aufgewachsen waren, also einer reinen Nur-Text-Umgebung. Und noch viel wichtiger: die meisten von ihnen waren Emigranten. Menschen, die der alltäglichen Kommunikation in ihrer Muttersprache entbehren und in ihrer Selbst-Identifikation in besonderem Maße auf das Feld von Sprache und literarischer Kultur ausgerichtet sind. Das Usenet war Ersatz für Küchengespräche, Radio und Fernsehen, Treffen auf der Straße oder auf Parties (partsobrania). Das Web wurde für sie ein Ort, an dem sie lauter "kleine Russlands" errichten konnten.]

Wie beliebt ist Internet heutzutage in Russland? Wie viele Menschen sind im Netz?

Olia Lialina: Ich habe keine Ahnung. Und wahrschienlich weiß das auch niemand genau, denn die Statistiken umfassen nur die Zahl der Maschinen und User in der Russischen Föderation. Um genau zu sein, will ich aus den Informationen von www.cmi.ru zitieren: Optimistische Schätzungen gehen dort von einer Zahl von 5 Millionen Nutzern aus, realistischere aber nur von 1,2 Millionen. Die beliebtesten Angebote im Bereich der Top-Level-Domain ".ru" bekommen nicht mehr als zehn bis zwölftausend Hits pro Tag. Natürlich finden sich die meisten Möglichkeiten und die meisten vernetzten Menschen in Moskau und St. Petersburg. Außerhalb der Hauptstädte hat die Geografie des Runet einen eigenartigen Verlauf, der die Spuren der Computerisierungs-Programme des Open-Society-Instituts (gegründet vom Philanthropen George Soros) nachzeichnet. Einige kleiner Städte sind voll computerisiert, aber das sind Enklaven, umgeben von Wüste.

Wann begann das Open-Society-Institut mit diesen Programmen und wer konnte davon profitieren?

Olia Lialina: Das Programm mit dem Titel "Internet" startete 1992 mit einem Budget von 100 Millionen Dollar. Ziel war, nicht-kommerzielle Organisationen in St. Petersburg und Moskau zu unterstützen, sowie 33 Universitäten in der Region. Bis 1999 waren davon 30 Universitäten am Netz. Ach ja: Im Moment gibt es an vielen russischen Universitäten Computer, und die Studenten haben freien Zugang zum Internet, aber ich habe noch nie eine Email von irgendjemandem bekommen, dessen Adresse die einer Universität war. Normale Studierende haben keine Mailboxen an den Universitäten genausowenig wie die Professoren.

Heißt das, dass es Universitäten ohne Computer und Universitäten ohne Internet-Anschluss gibt?

Olia Lialina: Ja sicher. Und die Studierenden, die einen Zugang haben, sind nicht von Universitätsrechnern gehostet, sie nutzen Gratis-Email-Dienste.

Wann bist du zum ersten Mal mit Internet in Kontakt gekommen?

Olia Lialina: Ich bin ebenfalls ein Kind der Politik der Soros-Stiftung, Computer anstelle von Geldmitteln zu vergeben. 1995 beantragte unser Filmclub "Cine Fantom" finanzielle Unterstützung, um Gäste aus dem Ausland einladen zu können. Stattdessen aber bekamen wir einen Computer und ein Modem.

Und dann?

Olia Lialina: Im Januar 1996 kam ein Filmemacher aus unserem Club zurück von einem Stipendium in New York. Er erzählte uns von einem neuen Wunder: dem Internet. Zu diesem Zeitpunkt klang Internet für mich nach einer riesigen Datenbank, wo du leicht Informationen über jeden Filmemacher erhalten kannst und Informationen über dich selbst weiterverbreiten kannst. Im Februar 1996 dann fanden wir einen Provider und fragten uns, wie wir loslegen sollten. Ich gab damals gerade Vorlesungen über Experimentalfilm für ein interdisziplinäres Künstler-Seminar. Alexei Shulgin war auch dabei und sprach über das Internet. Er vermittelte mir Webspace auf einem Server für die ersten Cine-Fantom-Seiten. Je mehr ich aber an den Cine-Fantom-Seiten arbeitete, desto mehr verwickelte ich mich in der ganzen Sache. Ab einem gewissen Zeiptunkt begriff ich, dass es nicht ausreichte, bloß Informationen über Filme in HTML zu überführen. Ich wollte beide Erfahrungen miteinander in Verbindung bringen: Vernetzt sein und mit Film arbeiten. So kam es, daß ich mit Netz-Filmen und Netz-Geschichten anfing.

Wir wissen, dass Du net.art auf Englisch machst. Veröffentlichst du eigentlich Teste auf russisch? Und was ist deine persönliche Verbindung zwischen dem Russischen und Englischen?

Olia Lialina: Ich habe kein einziges Projekt im Netz auf russisch gemacht. In meinen Arbeiten benutze ich Englisch, weil im Englischen Wörter für mich reine Zeichen sind. Das ermöglicht mir nämlich eine ganz andere Erfahrung: Ich kann mich auf die Sprache des Netzes konzentrieren - seine Struktur und seine Logik. Aber ich schreibe Artikel auf russisch, ich kommuniziere auf russisch; oder zumindest in Transliteration: russsisch, geschrieben mit einer lateinischen Tastatur. Das ist leichter, weil du dich nicht mehr um das Encoding kümmern mußt. Das ist ein interessantes Detail: Aufgrund mangelnder Abstimmung am Anfang sah es so aus, als hätte jede Systemplattform ihr eigenes Encoding für Kyrillisch. Das verursachte über Jahre hinweg einiges Durcheinander und bedeutete eine Menge Unannehmlichkeiten, zusätzliche Software und unfreiwillige Komik. Heute ist das Problem fast gelöst, aber ich glaube die große Konfusion um das Schrift-Encoding wurde Teil der russischen Internet-Kultur. Man könnte fast sagen, der Überfluss an Kodierungsvarianten, in denen jedwede Seite ausgegeben werden kann, unterstreicht nochmals die Macht der Sprache und ihre besondere Rolle.

[fwd Nikolaj Danilov (Netz-Schriftsteller): Der Witz ist, dass wegen dem ganzen Durcheinander mit dem Encoding die russische Sprache zumindest um einige Wörter reicher geworden ist. 'bnopnja' ist zum Beispiel ein falsch kodierte Version des Wortes 'vopros' (Frage). Das Wort wurde sehr populär, weil viele Anfängern es im Subject ihrer Emails an Provider oder Foren verwendeten. Und meist betrafen diese Fragen eben Fragen des Encodings...]

Kannst du die heutige Internet-Community beschreiben? Was passiert noch außer literarischen Wettbewerben?

Olia Lialina: Ja, es ist sehr interessant, die Situation heute zu umreißen. Es beginnen nämlich nun Machtspiele. Die letzten drei jahre war das Runet aufgebaut wie eine Pyramide: zwei oder drei Idole an der Spitze, zehn bis zwanzig berühmte Namen, rund fünfzig Beinahe-Bekanntheiten und eine riesige Zahl von Usern als Unterbau. Ich kann mich täuschen über die Zahlen, aber das allgemeine Bemühen geht dahin, der Spitze immer ein kleines Stück näher zu kommen. Das russische Internet-Modell ist ein gutes Beispiel für die weitverbreitete Annahme, dass es im Netz keinen Unterschied mehr gibt zwischen Mainstream und Underground. Aus einer anderen Perspektive heraus betrachtet heißt das: es gibt keine Trennung und auch keine Chance einer Trennung. Alles ist Mainstream, alles ist Establishment. Der einzige Unterschied zwischen den Seiten ist: berühmt, bekannt oder unbekannt. Es gibt Server, die sich selbst als "Underground" bezeichnen. Dort findet man jede Menge nicht genormten Wortschatzes, gute Scherze über die Top 10, politisch völlig unkorrekte Inhalte. Aber diese Seiten (www.fuck.ru , www.idiot.ru) sind Teile des Banner-Austausch- und Rating-Systems, das jene betreiben, zu denen der vermeintliche Undergound sich angeblich in Opposition befindet. Das alles ist also nicht sehr ernst gemeint.

Wird dieser Status quo durch nichts in Frage gestellt?

Olia Lialina: Die Situation hat sich in den letzten beiden Monaten verändert, als plötzlich zwei Internet-Akademien auftauchten. Eine heißt "Russische Internet Akademie", die andere "Allrussische Internet Akademie". Beide veranstalteten Pressekonferenzen über die Bedeutung der Förderung und Entwicklung des russischen Internet. Beide ignorieren sich gegenseitig und haben einen Preis ausgeschrieben im Stile der Webbyawards. Die eine besteht aus Medienkünstlern, aus Leuten, die keine Ahnung vom Internet haben, aber im Allgemeinen sehr berühmt sind, aus echten Spezialisten und angesehenen Netzbeobachtern. Diese Akademie wird von Intel gesponsort. Die andere Akademie formierte sich aus dem Umfeld des Servers www.ezhe.ru - dem Zusammenschluß der russischen Online-Periodika. Diese Akademie vereinigt Leute, die vorher schon vereinigt waren. Sie hat zwar keinen neuen Preis ausgeschrieben, macht aber weiter mit der Verleihung ihrer bisherigen Auszeichnung: POTOP. Damit ist zwar kein Geld verbunden, jedoch angeblich hohes Prestige. Wer diese Auszeichnung erhält, ist aber immer ziemlich leicht vorhersehbar.

Es gibt also plötzlich zwei Riesen, aber nicht genug Platz an der Spitze. Beide Akademien benehmen sich, als gälte es darum zu kämpfen, wer die einzig wahre sei. Dieser Vorgang ist recht lustig und an sich spektakulär. Der Wettstreit der Akademien rief sogar eine neue Welle öffentlicher Aufmerksamkeit für das Internet in den Offline-Medien hervor und ist Anlass für viele ironische Witze, Parodien und zahllose Artikel on- und offline. Es aber ist auch ein sehr wohltuender Prozess: Die Spitze der Pyramide richtet sich selbst zu Grunde. Das eröffnet neue Räume für neue Auseinandersetzungen, Polarisierungen und Entwicklungen.

Gibt es Kämpfe zwischen kommerziellen oder regierungsamtlichen Kräften und unabhängigen Produzenten? Irgendwas wie den eToy-Konflikt?

Olia Lialina: Diese Art von Problemen sind allgegenwärtig. Monopole wollen herrschen, der Staat will kontrollieren. Und beide machen mehr und mehr ernst mit ihren Unterfangen. Aber eToys Fehler war, dass sie, ebenso wie die russische Regierung bei dem Versuch eine Zensur des Netzes einzuführen, die Stärke und den Zusammenhalt der Netzgemeinde unterschätzten. Diejenigen, die die Macht und das Geld haben, verstehen nicht die Gesetzmäßigkeiten der Umwelt. Sie müssen noch mehr Geld investieren und noch mehr Spezialisten anheuern, wenn sie vorhaben zu gewinnen oder Gewinn zu machen. Jeden Tag gibt es eine neue Konfrontation zwischen der Online- und Offline-Logik sowie Wertesystemen, zum Beispiel Copyright und Zensur. Aber bis jetzt sind alle diese größeren und kleineren Zwischenfälle nur Manöver gewesen - von beiden Seiten.

Kannst du das an einem Beispiel erläutern?

Olia Lialina: Ja, letzes Jahr versuchte ein berühmter russischer Schriftsteller vergebens, die Verbreitung von Raubdrucken seines jüngsten Buches "Goluboe salo" über das Netz zu stoppen. Die Absichten von Autor und Verlag waren absolut aufrichtig. Die öffentlichen Sympathien galten ihnen, weil der Roman von allen Beteiligten in diesem Konflikt bewundert und geschätzt wurde. Aber in ihrem Versuch das Copyright zu wahren, begannen sie Leute anzugreifen, die lediglich Links von ihren Seiten zu den Piraten-Seiten gesetzt hatten. Ich will damit sagen: Autor und Verlag agierten ohne irgendein Verständnis für das Wesen des Webs und deswegen unterlagen sie. Am Ende hatten sie nur noch eine Möglichkeit: Allen, die Links gemacht hatten, zu danken für ihre "Teilnahme an einer großen PR-Kampagne für das Buch". Die ganze Diskussion ist hier nachzulesen.

Aber was ist mit dem Tschetschenien-Krieg? Was passiert in dieser Situation online? Irgendetwas womöglich, was mit dem Infowar während des Kosovo-Krieges vergleichbar wäre?

Olia Lialina: Gegenwärtig ist dieser Krieg - oder die anti-terroristische Operation, wie es von den russischen Behörden genannt wird - sprichwörtlich ein Niagara-Fall von Desinformationen. Und zwar von beiden Seiten und quer durch alle Medien. Ich kann nicht erkennen, inwieweit das Internet in diesem Fall eine besondere Rolle innerhalb oder außerhalb Rußlands spielen würde. Trotzdem kann man im Web leicht Informationen - auch auf englisch übrigens - finden, die von der pro-tschetschenischen Kavkaz Center News Agency stammen. Die Informationen, die von dort aus verbreitet werden und das Vokabular, das benutzt wird, sind Umkehrungen der russischen Wahrnehmungen - und wohl auch derer des Restes der Welt - in ihr exaktes Gegenteil: Die Regierungstruppen - also nicht die der Tschetschenen - werden Terroristen und Banditen genannt. Die Adresse der Seute lautet: www.kavkaz.org Übrigens: Kavkaz heißt Kaukasus auf russisch. Und unter www.kavkaz.ru findet sich ein Tourismusführer über eine schöne Bergregion, Hotels sowie Ausflugsziele in der Umgebung. Kein Wort über den Krieg.

Liest du eigentlich russische Online-Zeitungen?

Olia Lialina: Ja, und nicht nur dann, wenn ich im Ausland bin. Ich ziehe Online-Nachrichten solchen in Fernsehen, Radio oder in Tageszeitungen vor. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass die russischen Online-Angebote wie www.polit.ru, www.lenta.ru, www.cmi.ru, www.vesti.ru und andere, von Beginn an eben nicht bloße Online-Versionen eines Offline-Produktes waren, sondern echte, reine Online-Projekte. Sie sprechen gezielt Menschen an, die vernetzt sind. Und sie werden von Menschen gemacht, die vernetzt sind. Ich bin sehr froh, dass sie in der Tat den Offline-Tageszeitungen überlegen sind, die zwar einen größeren Namen haben, aber mehr und mehr an Boden verlieren, weil sie das Netz nur als Werbemöglichkeit für ihre Papier-Versionen benutzen.

[fwd to Misha Fishmann (Redakteur bei Polit.ru): Das Gewicht des Online-Jounalismus in der Medienlandschaft wächst und wächst. Heute hat jedes Online-Angebot seinen eigenen Charakter, seinen eigene Reputation, seine eigene Öffentlichkeit, und wiederholen so mehr oder weniger die gesamte Geschichte der russischen Print-Medien. Dieser Effekt ist natürlich auch von den Nachrichtenagenturen abhängig: die großen Sammler von Nachrichten im Land, egal ob sie inzwischen Vertriebswege im Internet eröffnet haben oder nicht, bekämpfen nach wie vor das psychologische Problem des Vertrauens in die Glaubwürdigkeit von "Internet-Nachrichten". Und man muss noch dazusagen, daß die Popularität und die Verfügbarkeit von Online-News-Angeboten immer noch nicht besonders groß ist. Der Einfluß, den manche von ihnen auf das medienpolitische Geschehen haben, existiert höchstwahrscheinlich nur wegen ihrer spezifischen Öffentlichkeit: die politische und die Medienwelt, die Nachrichten-Macher und die Geschäftswelt, diese Milieus sind eben eher an das Internet gewöhnt als die normale Öffentlichkeit.]

Olia Lialina: Andrej Levkin, einer der ersten russischen Online-Journalisten, machte kürzlich eine interessante Bemerkung über Internet-Periodika: Die politische Krise rund um den Putsch von 1991 brachte eine Menge unabhängiger Radio-Stationen hervor. Die Rubel-Krise vom Herbst 1998 schenkte unzähligen Online-Angeboten das Leben, weil diese ein sehr bequemer Weg waren, um wirtschaftspolitische Manifeste zu veröffentlichen, und dies hätte eben nicht im Medium Radio funktioniert. Für Zeitungen hätte es bedeutet, Position zu beziehen. Ein anderer Grund ist, dass im Gefolge der Krise viele Print-Magazine und Tageszeitungen eingestellt wurden und zahlreiche Journalisten gezwungen waren, sich dem Netz zuzuwenden.

[fwd Slava Kuritsin (Schriftsteller, Kulturkritiker): Es ist einfacher und macht mehr Spaß für Online-Meiden zu schreiben. Du kannst zusehen, wie dein Artikel sofort veröffentlicht wird, du bekommst sofort eine Resonanz von den Leuten, die ihn lesen. Und du fühlst dich freier und entspannter beim Schreiben, weil du den Text am nächsten Tag oder in einem Jahr immer noch ändern kannst. Kurz gesagt: Du arbeitst mit Plastilin und nicht mit Marmor.]

Und was ist gerade in Moskau los?

Olia Lialina: In Zusammenhang mit dem Internet haben die Leute Angst, dass es bald neue Regelungen für die Telefonabrechnungen geben könnte. Im Moment ist das Telefonieren fast umsonst, es kostet umgerechnet gerade einmal zwei Dollar pro Monat. Internet-Kommunikation würde natürlich deutlich unattraktiver werden, wenn du auf einmal jede Minute eines Ortsgespräches bezahlen musst.

Gibt es irgendwelche typische kulturelle Muster, die sich der digitalen Sturmflut entziehen können?

Olia Lialina: Trotz der ganzen 'neuen' Denkweise und der ganzen 'neuen' Geografie und allen anderen Neuigkeiten kann man nach wie vor den ewigen Wettstreit zwischen Moskau und St. Petersburg, den beiden russischen Großstädten ausmachen. Diese Rivalität entzieht sich den Gesetzen der Zeit und der Medien, sie ist immer noch allgegenwärtig und immer noch ein Mysterium - mehr darüber unter: russ.ru. Eine andere Eigenartigkeit ist überhaupt nicht eigenartig: Wenn die Leute 'russisches Internet' sagen, meinen sie das Web in Russland. Aber dieses Missverständnis ist auf der ganzen Welt gleich verbreitet.

Olia Lialinas Netzkunst-Arbeit "My boyfriend came back from the war" ist im Telepolis-Netzraum ausgestellt.