Reiche "Ernte" für Lokführer

Seite 2: Die Dynamik der GDL-Kämpfe seit 2008

Tritt man einen Schritt zurück und betrachtet die Entwicklung seit 2008 unter dem entscheidenden Aspekt "Geltungsbereich", dann wird deutlich: Es gelang der GDL nunmehr seit fast eineinhalb Jahrzehnten, den Bereich, für den sie seitens der Bahnchefs Hartmut Mehdorn, dann Rüdiger Grube, jetzt Richard Lutz zähneknirschend als tariffähig anerkannt werden musste, kontinuierlich auszuweiten.

2007/2008 gab es bereits einen elf Monate andauernden Tarifkampf, an dessen Ende ein Haustarifvertrag für Lokführer (LfTV) mit einer 11 Prozent Volumen-Erhöhung stand. Allerdings gab es damals auch einen Grundlagentarifvertrag, der der GDL auferlegte, bis 2011 keinen Tarifvertragsabschluss für andere Beschäftigte abzuschließen.

2014/2015 gab es eine weitere, ebenfalls rund elf Monate andauernde Tarifauseinandersetzung bei der DB mit dem Ergebnis der Integration von Zugbegleitern, Bordgastronomen, Ausbildern und Teamleitern in den Tarifvertrag. Es kam also zu einer deutlichen Erweiterung des Geltungsbereiches der mit der GDL abgeschlossenen Tarifverträge. Erneut war dies verbunden mit einem Grundsatztarifvertrag, der den (erweiterten) Geltungsbereich festschrieb. Gleichzeitig regelte der Grundsatztarifvertrag die Anwendungsgarantie für die GDL-Tarifverträge bilateral zwischen DB und GDL. Festgehalten wurde darin, dass das am 1. Juli 2015 in Kraft getretene Tarifeinheitsgesetz (TEG) bis Ende des Tarifvertrags (was Ende 2020 war) nicht angewandt wird.

2020/2021 dann die bekannte, nunmehr neunmonatige Tarifauseinandersetzung mit drei Streiks und den oben beschriebenen Ergebnissen - also mit nochmaliger Ausweitung des GDL-Geltungsbereichs.

Nicht vergessen werden darf: Die GDL ist längst auch bei den Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVUs), die nicht zum Konzern Deutsche Bahn AG zählen, aktiv - und dort seit geraumer Zeit die stärkste gewerkschaftliche Kraft. 2010/2011 gab es in diesem Bereich einen elfmonatigen GDL-Tarifkampf für Tarifverträge in den Wettbewerbsunternehmen Veolia, Netinera, HLB, Keolis und andere. Diese Arbeitgeber wehrten sich grundsätzlich gegen den Tarifpartner GDL.

Das Ergebnis war ein eigenständiger Bundesrahmen-Tarifvertrag für Lokführer (BuRa-LfTV) mit einer Tariflogik zur Anpassung nach oben auf ein einheitliches Niveau mit dem Marktführer Deutsche Bahn. Der Schutzwettbewerb "private" Bahn versus DB wurde damit deutlich eingegrenzt. "Privat" hier in Anführungszeichen, da sich hinter mehreren dieser Unternehmen staatliche Bahnen aus Italien oder den Niederlanden verbergen.

Zurück zur Entwicklung innerhalb des DB-Konzerns: Es gibt heute einen wichtigen Unterschied hinsichtlich der Dynamik "Ausweitung des GDL-Geltungsbereichs": Während die Zugbegleiter, für die die GDL nach dem Arbeitskampf 2008 noch nicht mit abschließen durfte, sieben Jahre warten mussten, bis sie dann 2015 "mit dran" waren und im neuen GDL-Tarifvertrag Berücksichtigung fanden, liegt vor den neuen GDL-Mitgliedern in den Infrastrukturbereichen der nächste Stichtag nur gut zwei Jahre voraus: am 1. November 2023 läuft der neue Tarifvertrag aus.

Alles spricht dafür, dass die GDL alles daran setzen wird, im gesamten produktiven Bereich des Bahnkonzerns als tariffähig anerkannt zu werden. Das Tarifeinheitsgesetz, das in der aktuellen Auseinandersetzung bereits eine wichtige Rolle spielte, zwingt sie dazu. Zugleich könnte sich ebendieses Gesetz in Bälde auf fatale Weise gegen die EVG wenden - und zwar überall in den DB-Betrieben, in denen die GDL sich dem Punkt der relativ stärksten Gewerkschaft nähert.

Erkennbar also ist: Wer sät, der erntet. Und mit dem neuen Tarifvertrag ist bereits eine Aussaat ausgebracht, die Ende 2023 erblühen könnte.

Streikrecht nicht Teil des Grundgesetzes

Dabei brachten die GDL-Mitglieder 2021 ihre gute Ernte unter höchst widrigen Witterungsverhältnissen ein: Ein großer Teil der Mainstream-Medien griff die GDL frontal und demagogisch an. Von Erpressung (durch die GDL), Geiselhaft (der Fahrgäste, wenn nicht der gesamten Republik) und einem "reinen Machtstreben" (des GDL-Bundesvorsitzenden) war da die Rede. Die Unternehmerverbände forderten offen die Einschränkung des Streikrechts. In einer Leserbriefdebatte der FAZ wurde daran erinnert, dass das Grundgesetz keineswegs das Streikrecht legitimiere.

Und das ist korrekt: Im Grundgesetz finden sich die Worte "Streik" oder "Streikrecht" nicht. Dabei gab es bei Erarbeitung des Grundgesetzes eine entsprechende Debatte - und es wurde bewusst darauf verzichtet, das Streikrecht in der Verfassung zu verankern. Jahrzehntelang gab es in der "alten BRD" eine Debatte über die Rechtmäßigkeit von Streiks. Arbeitsrechtler wie Wolfgang Abendroth leiteten ein indirekt in der Verfassung verankertes Streikrecht aus Artikel 9 Abs. 1 G ab. Doch dort ist "nur" ein Koalitionsrecht festgehalten.

Konservative Arbeitsrechtler hingegen, maßgeblich vertreten durch den bereits in der Nazizeit auf diesem Gebiet aktiven Hans C. Nipperdey, argumentierten, es gebe ein im Grundgesetz verankertes "Recht am eingerichteten Betrieb", weswegen Streiks, die die umfassende Unternehmerfreiheit in Frage stellten, grundsätzlich kritisch zu beurteilen seien. Wenn heute mehr oder weniger nonchalant von einem Streikrecht als verfassungsmäßig garantiert ausgegangen wird, dann ist das allein Ergebnis der Praxis dieser Arbeitskämpfe - und eines damit zugunsten der Gewerkschaften veränderten gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses.

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