Reizthema Frieden: Dialog oder eins aufs Maul?

Gewalt als Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele? Neuerdings ein moralisches Muss, wenn man dominanten Stimmen im öffentlichen Diskurs folgt. Symbolbild: Annabel_P auf Pixabay (Public Domain)

Der öffentliche Diskurs zum Ukraine-Krieg nimmt dogmatische Züge an. Wer oder was wird am meisten diskreditiert? Die Werte, für die angeblich bis zum letzten Atemzug gekämpft werden muss?

Es ist beunruhigend, zu beobachten, wie der öffentliche Meinungsaustausch in der Frage des Ukraine-Kriegs läuft. Seit die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer und die Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht anlässlich des Jahrestags des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine das Motto "Aufstand für Frieden" ausgaben, lässt der politisch-gesellschaftliche (Werte-?)Diskurs immer mehr die Stirn runzeln. Und es hat den Anschein: Die Debattenpfade sind ziemlich eingetrampelt.

Das von Schwarzer und Wagenknecht im Februar veröffentlichte "Manifest für Frieden" wurde in wenigen Tagen von Hunderttausenden unterschrieben. In ihrem Aufruf verweisen die beiden Frauen zurecht auf die hohe Zahl getöteter Soldaten und Zivilisten, die bereits in den Kämpfen umgekommen sind, benennen auch sonst grausame Tatsachen – Vergewaltigung von Frauen, Kinder verängstigt und "ein ganzes Volk traumatisiert" – kurz, es sei dringend nötig, zu Verhandlungen zu kommen.

"Propagandahilfe für Putin"

Bald wurde der Aufruf als Dokument der Unterwerfung tituliert, die Verfasserinnen und Unterzeichner rustikal attackiert und diffamiert. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann ("meinungsstarkes Großkaliber der FDP", Spiegel) wirft ihnen prompt Verhöhnung der Opfer vor, ein Aufschrei folgt quer durch alle Farben und Fraktionen.

Die Hüter der freiheitlichen Werteordnung, die das Menschheitsziel auf dem Prüfstand sehen, darunter Militär- und Humanexperten im Gleichschritt mit ehrgeizigen Nachwuchspolitikern, bekennen sich umgehend zu Waffenlieferungen. Unsere Mainstream-Medien wirken sonderbar gleichgeschaltet, die konservative FAZ titelt angesichts der Friedensaufständler: "Propagandahilfe für Putin".

Leistet also automatisch "Propagandahilfe für Putin", wer im Angesicht der Friedlosigkeit Bedenken gegen ein "Immer weiter" äußert?

Diagnose: Ethikdefizit

Was sich am Zweigespann Schwarzer-Wagenknecht und an der überspannten Reaktion auf ihren Mahnruf ablesen lässt, sind erschreckende Mängel im Diskurs, der vom öffentlichen Raum Besitz ergriffen hat. Eine Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zur Ethik militärischer Gewalt machte schon 2014 ein Manko in dieser Hinsicht aus. Dort hieß es:

Die Qualität der öffentlichen Debatte über den Einsatz oder Nichteinsatz militärischer Gewalt ließe sich steigern, indem man auf einen ethischen Bezugsrahmen zurückgreift.


Aus der Studie "Zur Ethik militärischer Gewalt", März 2014

Die Studie diagnostiziert ein Ethikdefizit des sicherheitspolitischen Diskurses in Deutschland. Ethische Gesichtspunkte, so heißt es, würden meist nur implizit angesprochen, aber nicht explizit ausgeführt. Das so entstandene Loch füllen Interessen – und Lügen. Legitimierung durch Lügen nannte der Politologe Jörg Himmelreich 2018 im Deutschlandfunk eine "aktualisierte Form des Machiavellismus". Unterschlagene Wahrheiten als solche nehmen wir gern auch dazu. Himmelreich recht lakonisch:

Außenpolitisch erlangen die Überlegungen des Florentiner Renaissance-Philosophen Niccolò Machiavelli derzeit neue Aktualität.


Jörg Himmelreich im Deutschlandfunk, Oktiber 2018

Auch in Demokratien, so der Autor, dient die Lüge dazu, politische Regierungsmacht zu erlangen oder zu erhalten. Als Musterknaben führte Himmelreich neben Putin auch den damaligen US-Präsidenten Donald Trump an. Letzterem bescheinigte er die Absicht, Europa öffentlich zu demütigen und nannte das gar die "Reinform" des Machiavellismus. Wir wollen aber darauf hinweisen: Die SWP-Studie bezieht sich auf die Verhältnisse von 2014.

Das war vor dem heutigen Ukraine-Desaster. Oder anders gesagt, an der Sollbruchstelle des sich anbahnenden Konflikts.

Machiavelli lässt grüßen

Also doch nicht alles verloren in der Debattenkultur? Ja und nein. Festzuhalten ist ein defizitärer Zustand, der als Normalzustand in Erscheinung tritt. Die ideellen, gesellschaftlichen, politischen Ressourcen wirken seltsam verknappt im Hickhack der Meinungen. Eine substanziierte ethische Debatte – Fehlanzeige.

Der Philosoph Jürgen Habermas, der dem Westen angesichts des anhaltenden Ukraine-Kriegs ein "Dilemma" attestiert, betonte unlängst in einem Essay für die Süddeutsche Zeitung, was stattdessen zu beobachten sei – nämlich "ein schriller, von Pressestimmen geschürter Meinungskampf über Art und Ausmaß der militärischen Hilfe für die bedrängte Ukraine".

Das Dilemma als solches ist vielfach festgestellt und diskutiert worden. Presse, Talkrunden, soziale Medien sind voll von Standpunkten, Meinungen und Gegenmeinungen. Zum Ethos der Gewalt ist aber nicht viel zu finden. Dabei wäre es höchst anschaulich, einmal über die fundamentalen Leidenschaften und Antriebe des Artgenossen Mensch zu räsonieren.

Die sind durchaus supranational und überparteilich, gelten hüben wie drüben, rechts und links. Niccolò Machiavelli nannte sie die beiden "Furien": Ehrgeiz (ambizione) und Habgier (avarizia). Sie tragen mit sich eine bodenlose Urne, mit der sie ihre unersättliche Gier (voglia infinita) unter Beweis stellen.

Dieser habsüchtige, nie zu stillende Ehrgeiz ist nach Machiavelli der Motor der Geschichte – und letztlich auch die Ursache des Krieges. Auch der "gerechte Krieg" (bellum iustum) mit seiner Aitiologie trifft hier, am Knackpunkt der menschlichen Unzulänglichkeit, auf sein Fragezeichen. Das würde doch auch für westliche Ambitionen gelten, möchte man annehmen. In der erwähnten SWP-Studie heißt es weiter:

Dass Politiker und Militärs, besonders im amerikanischen und britischen Diskurs, die Doktrin des gerechten Kriegs für ihre Zwecke einspannen, kann sie (eben die Doktrin) leicht ihrer kritischen Funktion berauben.


Aus der Studie "Zur Ethik militärischer Gewalt", März 2014

"Gerechter Krieg" mit Fragezeichen

Als Kernanliegen eines ethischen Diskurses wird in dem Papier gefordert, die "bellum iustum"-Tradition in ihrer kritischen Funktion zu nutzen, um damit den Stolperfallen möglicher Irrtümer zu entgehen. Zum illusionären Spiel zählt ja nicht nur Putins Großmachtanspruch, sondern auch das westliche Zeremoniell der freiheitlich-liberalen Utopie - zusammen mit der hypnotischen Fixierung auf eine militärische Lösung.

Bedingungsloser Pazifismus oder moralfreie Realpolitik? Sind das die Alternativen? Zur großen Strategie der Simplifizierung gehört hier in unsrem Fall auch die Diffamierung der Verhandlungsfraktion als "Putin-Versteher". Mit derartigen Zuschreibungen ist nichts gewonnen. Nicht nur das: Indem man eine Meinung und deren Träger derart diskreditiert, wie es gerade zu erleben ist, konterkariert man ausgerechnet diejenigen Werte, für die in der Ukraine nach Ansicht der Kriegsfraktion um jeden Preis und bis zum letzten Atemzug gekämpft werden muss.

Ja, Deutschland macht eine schlechte Figur. Die inszenierten Turbulenzen gehen mit einer faktischen Stagnation einher. Gemeint ist ein offener Diskurs. Sein Gegenteil ist das Dogma. Gegenwärtig gibt es bedenkliche Anzeichen fürs verordnete Maulhalten.

Es sollte – für alle – nicht in einer Kommandodemokratie enden.