Religionskritik oder Rassismus?

Seite 3: Der Rassismus der Islamkritiker

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Sind diese antimuslimischen Parteien und Bewegungen also gar nicht rassistisch? Das kommt ganz darauf an, wie man Rassismus definiert. Wenn man unter Rassismus eine Ideologie versteht, die anhand biologischer Unterschiede eine Hierarchie unter den Völkern aufstellt, dann ist das sicher nicht der Fall. Solche Konzepte beruhen auf kruden Rassentheorien, wie sie etwa die Nationalsozialisten aufstellten, um ihren Hass auf Juden pseudowissenschaftlich zu begründen.

Wenn man Rassismus aber als eine Ideologie begreift, die anhand bestimmter Merkmale wie der Religionszugehörigkeit eine Ungleichwertigkeit behauptet und damit eine Ungleichbehandlung legitimiert, wie das in Teilen die heutige Rassismusforschung macht, dann liegen die Dinge anders. Dann kann man die Parolen mancher "Islamkritiker" und die politischen Forderungen von Rechtspopulisten durchaus als rassistisch bezeichnen.10 Manche Experten sprechen deshalb lieber von antimuslimischem Rassismus als von Islamophobie, weil sie dahinter keine irrationale Abneigung, sondern ein geschlossenes, ideologisch gefestigtes Weltbild erkennen.

Manchmal bröckelt die respektable Fassade der Rechtspopulisten. So war es, als Geert Wilders nach den Kommunalwahlen im März 2014 in einer Kneipe in Den Haag seinen Anhängern zurief: "Wollt ihr in dieser Stadt oder in den Niederlanden mehr oder weniger Marokkaner?" Als ihm daraufhin die "Weniger, weniger"-Rufe aus dem Saal entgegenschallten, lächelte Wilders maliziös und versprach: "Dann werden wir das regeln."

Die Szene brachte Wilders einen Sturm der Entrüstung und Hunderte von Strafanzeigen ein, sie entsetzte sogar einige Funktionäre, die aus seiner Partei austraten. Nun muss sich Wilders erneut vor Gericht verantworten. Dabei war er erst 2011 in einem aufwändigen Verfahren, das er geschickt als Bühne für sich zu nutzen verstand, noch vom Vorwurf der Volksverhetzung freigesprochen worden.

Die FPÖ geriet in Schwierigkeiten, als der türkischstämmige Unternehmer Hakan Sukun für sie 2015 als Kandidat in Vorarlberg antrat und in einem Interview freimütig bekannte, mit Slogans wie "Daham statt Islam" nicht viel anfangen zu können. Ausgerechnet im Ort Lustenau, in dem er kandidierte, schnitt die FPÖ bei den Regionalwahlen im März 2015 schlechter ab als erwartet. Nach der Wahl machte Parteichef Strache, der ihn zuvor noch als Musterbeispiel für gelungene Integration gepriesen hatte, Hakan Sukun zum Sündenbock für das schlechte Ergebnis und sprach von einer "krassen personellen und inhaltlichen Fehlbesetzung".

Ähnlich harsch reagierte der Front National, als ihr Jungabgeordneter im Gemeinderat von Noisy-le-Grand, Maxence Buttey, sich mit 22 Jahren plötzlich entschied, 2015 vom Katholizismus zum Islam überzutreten. Knapp davor, ihn zu suspendieren, entzog ihm die Parteiführung alle Befugnisse.11 Der Grat zwischen vorgeblicher "Religionskritik" und offener Ausgrenzung ist eben schmal.

Besonders deutlich wird das auch in Online-Foren, etwa auf "Politically Incorrect", wo Ausdrücke wie "Abschaum", "Gesindel" und "Türkendreck" eine deutliche Sprache sprechen. Noch deutlicher wurde es bei Thilo Sarrazin, der seine These von den unintegrierbaren Muslimen in seinem Bestseller "Deutschland schafft sich ab" mit einer Prise Intelligenzforschung abzurunden versuchte. Sein Ausflug in die Vererbungslehre hatte ihn beinahe Kopf und Kragen gekostet, und manche Peinlichkeit wurde aus späteren Auflagen des Buches getilgt.12 Es bleibt aber der Versuch, eine Art Rassenkunde für das 21. Jahrhundert zu entwerfen.

Sarrazins "biologistische" und "eugenische" Thesen wurden vielfach kritisiert. In seinem Buch legt er nahe, Deutschland werde durch Einwanderer aus dem Nahen Osten, der Türkei und Afrika "immer dümmer", weil Intelligenz "zu 50 bis 80 Prozent" von den Eltern vererbt werde, was die Aussichten auf den Schulerfolg von Einwandererkindern und die Entwicklung ganzer Völker begrenze. Deutschrussen attestierte er eine "altdeutsche Arbeitsauffassung" und Juden einen höheren IQ, während er gegenüber der muslimischen Kultur ein "Unwerturteil" für angebracht hielt. Dabei verwendete er sorglos so belastete Begriffe wie "Zuchtwahl" und "Auslese".13

Und im Gespräch mit seinem Bewunderer Henryk M. Broder, das in der taz abgedruckt wurde, gab er freimütig zu, in seinem Manuskript überall dort, wo er ursprünglich "Rasse" geschrieben hatte, es auf Anraten seines Lektors durch das Wort "Ethnie" ersetzt zu haben.14 Sarrazin ist ein Paradebeispiel dafür, wie sehr Vorstellungen und sogar das Vokabular aus der Nazizeit bis heute nachwirken, zumindest in der älteren Generation (Sarrazin ist Jahrgang 1945). Umso erstaunlicher, dass Sarrazin in vielen Leitmedien, von der Justiz und sogar von seiner Partei letztlich vom Vorwurf des Rassismus freigesprochen wurde.15

Dabei hatte schon Sarrazins konsequente Gleichsetzung des Islam mit dem Mittelalter, mit Gewalttätigkeit und Frauenverachtung gereicht, für die er sich auf die Schriften Necla Keleks stützte, um seine Thesen problematisch zu finden. Auch rechtspopulistische Parteien schrecken vor ähnlich drastischen Verallgemeinerungen nicht zurück. Vor den Wahlen im November 2001, mit denen ihr kometenhafter Aufstieg begann, brachte die Dänische Volkspartei eine zweihundertseitige Broschüre mit dem Titel "Dänemarks Zukunft - dein Land, deine Wahl" heraus. In dem Heft illustrierte sie die Gefahr, die Dänemark angeblich durch seine muslimischen Einwanderer drohe, mit Kriminalitätsstatistiken, Grafiken und einschlägigen Fotos.

Der Berliner Bezirk Kreuzberg wurde als besonders abschreckendes Beispiel hingestellt: In Schulen und Geschäften wurde nur Türkisch gesprochen, die Frauen trugen alle Kopftuch, und der Islam sei die vorherrschende Religion. Der Volkspartei-Funktionär Vagn Eriksen forderte damals unverblümt, alle Muslime aus dem Land zu werfen. Und ihr langjähriger, 2014 verstorbener Abgeordneter im Parlament von Kopenhagen, der Pastor Jesper Langballe, tönte einmal, muslimische Männer schlugen ihre Tochter tot und schauten weg, "während der Onkel sie vergewaltigt". Auf öffentlichen Druck hin ruderte er zurück, und seine damalige Parteivorsitzende Pia Kjarsgaard relativierte seine Aussage, indem sie meinte, Langballe habe wohl "etwas übertrieben".

Die Rechtspopulisten von heute verteidigen keine ethnisch definierte Volksgemeinschaft mehr, sondern eine kulturell definierte. Sie gehen nicht mehr von biologischen Unterschieden unter den Völkern aus, sondern halten nur noch die eigene Kultur für überlegen und nicht mit dem Islam vereinbar. Die Konsequenz für Muslime daraus lautet: Auswanderung oder Konversion. Manche fordern das ganz offen: Die Dänische Volkspartei forderte im März 2015 ein Exit-Programm, um Muslimen zu helfen, den Islam zu verlassen. Ihr Sprecher Martin Henriksen sagte, es solle sich aber nur an jene wenden, die von sich aus Unterstützung suchten. Und Geert Wilders erklärte in einem Interview: "Ich wünsche mir, dass diese Menschen sich vom Joch des Islam befreien, dass sie Atheisten oder Christen werden oder was auch immer."16

Bis zu einem gewissen Grad lassen sich die Ressentiments gegen Muslime von heute mit dem Antisemitismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert vergleichen - also mit jener Judenfeindlichkeit, die noch vorwiegend religiös und kulturell begründet wurde, bevor die Nationalsozialisten mit ihrem biologistisch begründeten Antisemitismus die Oberhand gewinnen sollten. Erst 1871 hatten die Juden im Kaiserreich die vollen Bürgerrechte erhalten, wogegen damals 250.000 Bürger in einer "Antisemiten-Petition" an den Reichskanzler Bismarck vergeblich protestierten.17

Dass Juden jetzt Lehrer, Beamte oder Richter sein sollten, war vielen nicht geheuer. Zugleich fürchtete man eine demografische Überfremdung durch jüdische Einwanderer aus Osteuropa, die aus Armut oder vor Pogromen nach Westen flüchteten. Nach dem Börsenkrach von 1873 erschien eine wahre Flut von Schriften zur "Judenfrage". Es bildeten sich antisemitische Vereine, insbesondere in Sachsen und Hessen, die sich zu internationalen Kongressen mit ähnlichen Bewegungen aus dem Ausland trafen, und es entstanden gleich mehrere antisemitischen Parteien, die einen kompletten Einwanderungsstopp und eine rechtliche Beschränkung jüdischen Lebens in Deutschland forderten und sich nur darin unterschieden, dass manche eine eher sozialstaatliche und andere eine eher wirtschaftsliberale Haltung vertraten. Diese Parteien blieben zwar marginal, aber trugen dazu bei, dass die Regierung Einwanderungsbeschränkungen erlies und damit begann, insbesondere Juden aus Osteuropa auszuweisen. Zugleich wurden Hürden bei der Einbürgerung erlassen, und es kam zu ersten Brandanschlägen auf Synagogen.

Der preußische Historiker Heinrich von Treitschke warnte im "Berliner Antisemitismusstreit" von 1879 vor einer ungebremsten Masseneinwanderung "strebsamer hosenverkaufender Jünglinge", die "aus der unerschöpflichen polnischen Wiege" nach Westen strömten. Es fällt nicht schwer, in ihm einen Vorgänger von Thilo Sarrazin und dessen Verachtung für "türkische Gemüsehandler" und "Kopftuchmädchen" zu sehen, denn auch Treitschke gerierte sich als Tabubrecher und gab vor, für eine schweigende Mehrheit zu sprechen.

Auch der hessische Bibliothekar Otto Böckel fürchtete sich vor den jüdischen Einwanderern aus Osteuropa, die ständig neue Kinder produzierten. "Dort wohnt beinahe die Hälfte der europäischen Juden. Hier befindet sich die große vagina judeorum, aus welcher die Juden Europas Auffrischung und neuen Zuwachs erhalten", warnte er in seinen Reden über die "Judenfrage".18 Böckel war ein politischer Agitator, der 1887 mit der Parole "Gegen Junker und Juden" als erster unabhängiger Antisemit in den preußischen Landtag gewählt wurde und "judenfreie Viehmarkte" organisierte. Wie er dabei zwischen linken und rechten Positionen oszillierte, erinnert an den Geert Wilders von heute.

In Österreich spielte derweil Wiens legendärer antisemitischer Bürgermeister Karl Lueger verschiedene Einwanderergruppen gegeneinander aus, indem er Attacken auf die Juden ritt, die proletarischen und katholischen Böhmen aber ausdrücklich in Schutz nahm.19 Nicht anders macht es heute sein Nachfolger im Geiste, FPO-Chef Heinz-Christian Strache, wenn er "die Serben" in seinem Land umgarnt, aber die Türken ausgrenzt.