Religionskritik oder Rassismus?

Seite 4: "Überfremdungsängste" und Verschwörungstheorien

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Im frühen 20. Jahrhundert stiegen Verschwörungstheorien wie "Die Protokolle der Weisen von Zion" zu Bestsellern auf, so wie heute die Bücher von Udo Ulfkotte und anderen, und das 1923 von Julius Streicher gegründete Hetzblatt "Der Stürmer" erzielte in der Weimarer Republik mit propagandistisch aufbereiteten Schauergeschichten über Vergewaltigungen, Mädchenhandel und andere Verbrechen, für die Juden verantwortlich gemacht wurden, hohe Auflagen - so wie heute Hetzblogs wie "Politically Incorrect" mit ihren Schauergeschichten über Ehrenmorde und "Migrantengewalt" tausendfach im Internet angeklickt werden.

Was früher "Verjudung" hieß, wird heute "Islamisierung" genannt, und die Hauptstadt Berlin galt vielen als besonders "verjudet", weil dort ein Drittel aller Juden in Deutschland lebten. Insgesamt machten Juden damals im Deutschen Reich weniger als 1 Prozent der Bevölkerung aus. Doch den politischen und wirtschaftlichen Eliten und der "Judenpresse" wurde der Vorwurf gemacht, mit dieser Minderheit unter einer Decke zu stecken, ja, heimlich von ihr beherrscht zu werden. Ganz ähnliche Debatten gab es zu jener Zeit auch in anderen europäischen Ländern, in Frankreich und Großbritannien.

Zu diesen "Überfremdungsängsten" und Verschwörungstheorien kamen noch der Vorwurf der Unterwanderung und "Zersetzung" sowie die Angst vor dem Terror. Dass in den Reihen von Anarchisten, Revolutionären und Kommunisten auffällig viele Juden zu finden waren, werteten Antisemiten als Beweis für ihr Vorurteil, dass Juden an Aufruhr und Gewalt gelegen sei. Dabei griffen sie auf ähnliche Stereotype zurück, wie es die Islamhasser von heute tun. Sie behaupteten, die Religion der Juden sei unmoralisch und inhuman und ihre Gesetze forderten zu Betrug und Verstellung sowie zur Gewalt gegen Andersgläubige auf, und zitierten als Beweis entsprechende Passagen aus dem Talmud.

"Was früher Talmud-Hetze war, ist heute Koran-Hetze", sagt der deutsche Historiker und Vorurteilsforscher Wolfgang Benz. Der nationalsozialistische "Stürmer" brachte diese Hetze gegen "Talmudjuden" und ihr angebliches "Geheimgesetz", die Halacha, zu wahrer Meisterschaft und führte gerne Zitate aus dem heiligen Buch der Juden an, um zu "belegen", dass Kindesmissbrauch im Judentum kein Verbrechen sei oder dass der Talmud die Tötung von Nichtjuden erlaube, kurz, dass alle angeblich von Juden begangene Verbrechen letztlich auf ihre Religion und Gesetzeslehre zurückzuführen seien.

Wer will, kann noch mehr Parallelen finden: Der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik verglich den Vorwurf der "Parallelgesellschaften", zu denen Muslime angeblich neigten, mit dem Angstbild vom "Staat im Staate", das Juden zu bilden einst unterstellt wurde. Und so, wie heute um den Bau von Moscheen gestritten wird, so erregte schon früher im Kaiserreich der Bau von Synagogen Anstoß - daran erinnerte der Architekt Salomon Korn. Der Grünen-Politiker Fritz Kuhn, der spätere Oberbürgermeister von Stuttgart, fühlte sich beim Anblick der Mohammed-Karikatur von Kurt Westergaard 2006 spontan an Zeichnungen aus dem antisemitischen "Stürmer" erinnert.

Mit ihrem Antisemitismus reagierten Teile der europäischen Bevölkerung auf einen sozialen und wirtschaftlichen Wandel, den sie bedrohlich fanden, sagt der Experte Wolfgang Benz. Nicht anders sei es bei den Islamfeinden von heute. Manchen Juden gingen die Anfeindungen gegen ihre Religion damals sogar derart in Fleisch und Blut über, dass sie sie verinnerlichten und zum Teil übernahmen.

So gehen einige der härtesten Urteile über Juden auf Persönlichkeiten zurück, die selbst jüdischer Herkunft waren, von Karl Marx und Ferdinand Lassalle bis Karl Kraus. Die Abneigung, die assimilierte Juden in Westeuropa gegen ihre "rückständigen" und orthodox-religiösen Glaubensbrüder aus Osteuropa entwickelten, ist legendär. Mit diesen mit Kaftan, Schläfenlocken und Gebetsriemen auftretenden Männern und altmodisch verhüllten Frauen wollten sie nichts zu tun haben, und so gaben sich manche patriotischer und deutschnationaler als ihre christlichen Mitbürger. Dieser Hass auf die eigene Herkunftsgruppe findet sich auch bei manchen Renegaten und "Islamkritikern" von heute, ob sie nun Kelek, Hirsi Ali oder Abdel-Samad heißen.

Ein besonders absurdes Beispiel für eine solche Über-Assimilation bietet der deutsch-türkische Schriftsteller Akif Pirincci, der ursprünglich einmal durch Katzenkrimis bekannt wurde, sich aber seit 2012 mit offen rechtsradikalen Sprüchen profiliert - zuerst auf rechten Blogs wie der "Achse des Guten", später in seinem Buch mit dem Titel "Deutschland von Sinnen", das im rechten Manuscriptum-Verlag erschien und ein Bestseller wurde. Darin teilt er mit vulgärer Polemik gegen Frauen, Homosexuelle und Muslime aus und plädiert für einen neuen, deutschnationalen Patriotismus. Seinen Auftritt bei einer Demonstration eines Pegida-Ablegers in Bonn im Dezember 2014 beendete er mit den Worten: "Es lebe das heilige Deutschland."

Auf Parallelen zwischen dem Antisemitismus von einst und den antimuslimischen Ressentiments von heute hinzuweisen bedeutet nicht, dass Muslime deshalb die "Juden von heute" waren, wie es Demagogen auf der anderen Seite behaupten, oder dass gar ein "Holocaust gegen Muslime" bevorstehe, wie etwa der salafistische Prediger und Konvertit Pierre Vogel warnt. Von einem Völkermord, ja, auch nur von Schikanen wie den "Nürnberger Rassengesetzen", mit denen die Nazis die jüdische Minderheit in Deutschland drangsalierten, sind die Muslime in Europa weit entfernt.

Jeder Vergleich zwischen der heutigen Zeit und dem Zivilisationsbruch unter dem Nazi-Regime führt in die Irre und ist fehl am Platz. Die Geschichte wiederholt sich nicht, und wenn, dann als Farce. Man darf auch nicht vergessen, dass der Antisemitismus längst nicht überwunden ist - judenfeindliche Einstellungen sind in Europa bis heute verbreitet, auch unter Muslimen und Einwanderern. Es wäre falsch, dass gegeneinander aufzurechnen.

Man sollte den aktuellen Hass auf Muslime aber nicht verharmlosen und unterschätzen, denn auch er kann in Gewalt umschlagen oder zumindest dazu dienen, Gewalt zu rechtfertigen. Im Konflikt um das Kosovo lagen die Sympathien von FPÖ und Lega Nord ganz eindeutig bei den Serben, nicht bei den Kosovaren. Die Lega Nord machte schon 1995 klar, dass sie den Krieg um das Kosovo als Teil eines Kampfes gegen die Islamisierung Europas betrachtete, und propagierte den Schulterschluss mit der serbischen Seite, ihr damaliger Vorsitzender Umberto Bossi traf sich sogar mit Serbiens Präsidenten Slobodan Miloševic . Und als das Kosovo 2008 als Staat anerkannt wurde, empörte sich FPÖ-Chef Strache, das sei "serbisches Kernland".

Zum Völkermord, den serbische Milizen 1995 in der bosnischen Enklave Srebrenica begangen haben, vertreten manche "Islamkritiker" und Rechtspopulisten deshalb eine ganz eigene Meinung. Der Schweizer Politiker Oskar Freysinger, der maßgeblich für die Anti-Minarett-Kampagne in seinem Land verantwortlich war, findet, das Massaker an 8.000 Zivilisten werde aufgebauscht, außerdem seien ja keine Frauen und Kinder getötet worden.

Sein Freund, der serbischstammige Schriftsteller Slobodan Despot, sieht das Massaker ähnlich und hält es - anders als die UNO - für keinen Völkermord. Freysinger, der für die SVP im Staatsrat des Kantons Wallis sitzt, ernannte Slobodan Despot 2013 zu seinem Kommunikationsverantwortlichen.20 Dazu passt, dass in der SVP-nahen "Weltwoche" im März 2015 ein Inserat erschien, mit dem das Buch des in Basel lebenden serbischstämmigen Genozidleugners Alexander Dorin über die angebliche "Srebrenica-Lüge" beworben wurde.

Vielleicht hatte es auch mehr zu denken geben sollen, dass Thilo Sarrazin mit seinem Satz, die Türken würden Deutschland erobern "wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate", an serbische Propagandamythen angeknüpft hat. Aber unabhängig davon bleibt die Frage: Was müssen die NSU-Mörder wohl gedacht haben, als sie Thilo Sarrazin in Talkshows gesehen oder in der Zeitung gelesen haben, wie er über Muslime herzog? Sie dürften sich bestätigt gefühlt haben.