Rente mit 85 Jahren
Experten schätzen, dass bis 2030 unsere Lebenserwartung um 20 Jahre steigt
In den USA saßen Wissenschaftler zusammen, um über Anti-Aging-Strategien und ihre möglichen gesellschaftlichen Folgen zu diskutieren. In den westlichen Ländern werden die Menschen immer älter und es gibt verschiedene Ansätze, um das Sterben in nächster Zukunft noch weiter zu verzögern. Die Folge sind völlig neue Berechnungen der Bevölkerungszahlen, aber auch eine weitere Verschiebung des Verhältnisses zwischen Arbeitenden und Rentnern. Und die Schere zwischen armen und reichen Staaten wird voraussichtlich noch weiter aufklappen.
Vor kurzem tagte die amerikanische Wissenschaftsvereinigung American Association for the Advancement of Science (AAAS) in St. Louis. Dort trafen sich Experten zu einem Panelgespräch über die Möglichkeiten eines sehr langen oder sogar ewigen Lebens. In den Industrienationen ist die Lebenserwartung in den letzten rund 100 Jahren enorm gestiegen, in Deutschland hat sie sich seit 1870 mehr als verdoppelt ( Lebenserwartung Neugeborener). Das ist vor allem dem Fortschritt der Medizin zu verdanken.
Neuere Forschungen geben Anlass zu der Hoffnung, dass bald weitere Therapien gefunden werden könnten, um die Lebensuhr der Menschen langsamer laufen zu lassen. Unter dem neudeutschen Schlagwort Anti-Aging werden zahlreiche gute Tipps an alle Mitbürger gebracht, vor allem eine ausgewogene, vitaminreiche Ernährung soll helfen, ein gutes Stressmanagement und viel Bewegung. Dazu gibt es natürlich eine Menge Pillen und Pülverchen zu kaufen, nicht nur aus Ginseng und Knoblauch. Und der bekannteste deutsche Anti-Aging-Experte und Fitnesspapst Ulrich Strunz) verspricht mit pausenlosem, etwas festgezurrt wirkenden Lächeln, man könne „forever young“ bleiben, wenn man nur richtig esse, denke und vor allem endlos jogge (Abgehoben - Die gefährlichen Empfehlungen des Laufgurus Ulrich Strunz).
Jungbrunnen
Die jüngste Forschung hat durch genetische Manipulation und neue Erkenntnisse molekularer Zusammenhänge in Tierversuchen erstaunliche Erfolge an Langlebigkeit produziert. Eine Legende ist das Gen-Mäuschen Yoda, das in einem Labor der University of Michigan mehr als vier Jahre alt wurde. Andere Mäuse überleben mit viel Glück nur ihren zweiten Geburtstag (World’s oldest mouse reaches milestone birthday).
Aber auch bei anderen Tierarten gelang es, den Tod aufzuschieben. Tatsächlich altert der Fadenwurm Caenorhabditis elegans auf Diät oder mit Enzymkost tatsächlich wesentlich langsamer (Ein Gen zur Vorhersage der Lebenserwartung). Bei der Fruchtfliege Drosophila wird die Lebensspanne maßgeblich von einem Hormon beeinflusst. Entzieht man ihr dieses Jugendhormon, wird sie viel älter als ihr Geschwister, bleibt aber kleinwüchsig oder sogar unfruchtbar (Langes Leben und Jugendhormon). Und erst seit ganz kurzer Zeit ist bekannt, dass Rotwein, bzw. der darin enthaltene Stoff Resveratrol, bei der Fischart Nothobranchius furzeri, dem Prachtgrundkärpfling, die normalerweise gerade drei Monate lange Lebenszeit um mehr als die Hälfte verlängern kann (Resveratrol Prolongs Lifespan and Retards the Onset of Age-Related Markers in a Short-Lived Vertebrate).
Die Bibel berichtet, der sagenhafte Urvater Methusalem sei 969 Jahre alt geworden. Das menschliche Urgeschlecht erreichte nach Auskunft des Alten Testaments durchgehend ein höchst beachtliches Alter, aber noch vor der Sintflut reduzierte der Herr die Lebenszeit auf 120 Jahre (Genesis 5 und Genesis 6). Ein Alter, das Menschen heute höchst selten erreichen (Ältester Mensch).
Umso emsiger suchen sie das Elixier, das ewiges Leben bringen soll. In St. Louis saß ein britischer Forscher mit am Tisch, der zu den umstrittensten Spezialisten des Fachbereichs gehört: Aubrey de Grey, Bio-Gerontologe und Informatiker an der University of Cambridge. Er ist besessen von der Idee, die Vergänglichkeit des menschlichen Körpers aufzuhalten. Bisher hat er nichts als theoretische Ansätze zu bieten, aber er ist überzeugt, dass sich die menschliche Lebenszeit letztlich auf Tausende von Jahren ausdehnen lassen wird. Langlebigkeit hält er für ein Menschenrecht (Wollen Sie ewig leben?).
Andere Forscher machen sich gerne über den exzentrischen Autodidakten und seinen ihrer Meinung nach utopischen Ansatz lustig (Unsterblicher Briefwechsel). In St. Louis stellte er einmal mehr seine Ideen über die Umkehrung des Alterungsprozesses vor, den er Strategies for Engineered Negligible Senescence (SENS) nennt. Dabei geht er davon aus, dass die Resultate der oben kurz zitierten Tierexperimente bald auf den Menschen übertragen werden können. Und er hält es für wahrscheinlich, dass in 25 Jahren Menschen mittleren Alters durch derartige Anti-Aging-Therapien bereits 25 weitere Lebensjahre zur Verfügung stehen werden.
Im vergangenen Jahr schrieben 28 Wissenschaftler an die European Molecular Biology Organization und wiesen de Greys SENS-Ansatz als spekulativ und ungeeignet für eine wissenschaftliche Diskussion zurück. Einer der Autoren, Steven Austad von der University of Texas ist selbst zwar davon überzeugt, dass sich die Lebensspanne des Homo sapiens in den kommenden 150 Jahren gewaltig erweitern wird – er hat sogar darauf gewettet (Methusalem aus dem Gen-Labor). Trotzdem bremst er erstmal den momentanen Enthusiasmus und verweist darauf, dass es bisher zu wenige Studien mit Säugetieren gibt, meist wurden kurzlebige einfache Lebewesen verwendet – und selbst bei ihnen zeigten sich durchaus unerwünschte Nebenwirkungen wie erhöhte Infektionsanfälligkeit, verminderte Leistungsfähigkeit und Unfruchtbarkeit.
Langlebigkeit scheint ein erstrebenswertes Ziel und sicher gäbe es einen riesigen Markt von potenziellen Konsumenten künftiger Jungbrunnen-Behandlungen. Aber der Biologe Shripad Tuljapurkar von der Stanford University gab in St. Louis zu bedenken, dass es nötig sei, die Konsequenzen zu bedenken, wenn bald einsetzbare Verfahren zur Verfügung stehen.
Für seine Studien verwendete er Daten von verschiedenen Ländern und untersuchte die Verknüpfungen zwischen historischen Trends des Durchschnittsalters, Bevölkerungswachstums und ökonomischer Aktivitäten. Dann bezog er für seine Hochrechnungen die Voraussagen führender Forscher der Gerontologie mit ein und untersuchte die möglichen Folgen. Das daraus folgende Szenario ist durchaus erschreckend: Bis 2030 würde die durchschnittliche Lebenszeit sich um 20 Jahre verlängern. In den USA würden die Einwohner dann ungefähr 100 Jahre alt. Die Weltbevölkerung würde sich dadurch stark vermehren – geschätzt auf 10 oder 11 Milliarden Menschen. Allein in China würde das gebremste Altern zu einer Bevölkerungszunahme von 0,3 Milliarden Köpfen führen. Andererseits ist es äußerst wahrscheinlich, dass nur die Bürger reicher Staaten in breitem Umfang zu den neuen Therapien hätten, die der Zeit den Zahn ziehen würden.
Anti-Aging ist ein Riesenmarkt und das Beispiel der AIDS-Medikamente zeigt, dass die Konzerne sie in Entwicklungsländern nicht zu Dumping-Preisen anbieten wollten, sondern zu Spezialkonditionen gezwungen werden müssen (Medikamente könnten mehr AIDS-Kranken helfen). Der Abstand zwischen reichen Ländern, in denen Menschen alt werden und armen Ländern, in denen die Menschen jung sterben, würde sich weiter vergrößern. Die Lebenserwartung ist heute schon stark unterschiedlich. So werden die Japaner mit durchschnittlich 81 Jahren am ältesten, während Menschen aus Malawi nur auf 36 Lebensjahre, solche aus Kenia auf 45 Jahre hoffen dürfen.
Ähnliches gilt möglicherweise auch für die Schere zwischen Arm und Reich innerhalb der Industriestaaten, denn es darf bezweifelt werden, ob Krankenkassen die Kosten von Anti-Aging-Behandlungen übernehmen würden. Schon heute macht Armut auch in wohlhabenden Staaten krank und verkürzt die Lebenszeit (McDonald's-Verschwörung vs. Methusalem-Komplott). Nicht zu vernachlässigen sind auch die Folgen für Volkswirtschaften und Sozialsysteme. Schon heute beklagen viele europäische Länder die Veränderung der Alterspyramide, die demografischen Entwicklung, die es mit sich bringt, dass die junge und erwerbstätige Generation immer mehr Rentner finanzieren muss. Der Vergänglichkeit ein Schnippchen zu schlagen, bringt eine Bevölkerungsexplosion der Alten mit sich, eine Vergreisung der Gesellschaft. Entweder muss dann das Rentenalter herauf gesetzt werden – in Deutschland entsprechend auf 85 Jahre – oder das System kollabiert.
Die Risiken sollten sorgfältig abgewogen und die sozialen Konsequenzen geprüft werden, bevor einfach gemacht wird, was technisch möglich wird. Es sollte sowohl von Wissenschaftlern wie Politikern geprüft werden, ob die potenziellen Kosten und Schwierigkeiten in einem vernünftigen Verhältnis zum Nutzen stehen. Shripad Tuljapurkar meint:
Wir haben in der Vergangenheit immer dazu geneigt und es für einen sinnvollen Standpunkt gehalten, alles an medizinischem Fortschritt anzuwenden, was sich ergab. Wie auch immer, nun nähern wir uns einer neuen Phase, wo es nötig wird, die Implikationen zu betrachten, bevor wir losstürzen – zumindest damit wir uns vorbereiten können. Wir sollten uns mit der Zukunftsaussicht der direkt auf uns zukommenden Ungleichheit auseinander setzen, anstatt zehn Jahre zu warten und dann zu sagen: „Was für eine Überraschung!“