"Ringen um das erneute Patt"

Syriens Regime soll nicht gewinnen. Die Rebellen aber auch nicht

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2013 gewann die reguläre syrische Armee wieder an Boden. Folglich wollen die USA und Saudi-Arabien die Aufständischen besser ausrüsten. Die Strategie dahinter sei aber keine kriegerische, sondern eine politische - und das eigentliche Ziel die Friedensverhandlungen, sagt Amr al-Azm. Telepolis sprach mit dem syrischen Oppositionellen.

Herr Azm - zunächst mit Blick auf die Ereignisse in Ägypten: Was bedeutet das Scheitern der dortigen Muslimbrüder für den syrischen Zweig der Bewegung?

Amr al-Azm: Das Regime ist natürlich zufrieden. Baschar al-Assad hat den Ägyptern Glückwünsche im Namen des syrischen Volkes geschickt - schliesslich passt die Entwicklung zu seinem Narrativ, dass er gegen Islamisten kämpfe. Für die syrische Bruderschaft selbst ist es ein Rückschlag. Sie hat hart daran gearbeitet, von der syrischen Gesellschaft nicht als salafistisch, sondern als Mainstream-Islam wahrgenommen zu werden. Nun könnte ihr der Vorwurf entgegenschlagen: "Ach, ihr seid doch genau wie eure ägyptischen Pendants".

Gelang es der Muslimbruderschaft denn, sich in der syrischen Gesellschaft seit 2011 neu zu etablieren? Viele kreiden ihr doch an, dass sie seit 30 Jahren im Ausland lebt, aktuell laufend in fünf-Sterne-Hotels tagt und der syrischen Realität völlig fern steht. Zudem gilt sie als ominöser Geheimbund mit einem intransparenten Programm.

Amr al-Azm: Dieses Image-Problem verschuldete nicht zuletzt die ältere Generation, die die Bruderschaft dominiert. Männer wie Riad al-Shaqfa, Mohammad Farouk Tayfour und Ali Sadr al-Din Bayanuni sind es gewohnt, im Geheimen zu arbeiten und kaum etwas nach außen dringen zu lassen. Darunter leiden auch die jungen Mitglieder der Bewegung. Zugleich schadete es der Bruderschaft, dass sie 2012 ein recht progressives Statement veröffentlichte, das sie letztlich nicht umgesetzt hat. Darin hatte sie sich zu einer pluralistischen Gesellschaft bekannt, in der die Rechte jedes Individuums geschützt würden.

Qatar vs. Saudi-Arabien

Die gleiche Forderung erhob sie doch schon in ihrem Programm von 2005: Demnach sollte niemand ob seiner Konfession oder Religon benachteiligt werden. Parallel war allerdings die Rede von einer schrittweisen Islamisierung der Gesetze. Schon damals klang die Erklärung nach Bluff - zumindest nach interner Konfusion... Über die wahren Absichten der Bruderschaft werden wir, wie es scheint, aber noch länger rätseln, da sie seit 2011 ja von Qatar und der Türkei vehement unterstützt wird.

Amr al-Azm: Ja, vor wenigen Tagen wurde in Istanbul das neue Oberhaupt der Syrischen Nationalen Koalition gewählt, wobei Qatar und Saudi-Arabien, die die syrische Sache zu ihrer eigenen gemacht haben, wieder um die Wette geeifert haben: Qatar wollte Mustafa Sabbagh und damit die Muslimbrüder durchsetzen, die Saudi-Arabien prinzipiell ablehnt, weil es eine religiös-politische Bewegung ist - eine Kombination, die die Monarchie fürchtet.

Also fährt Saudi-Arabien zweischneidig und unterstützt sowohl die apolitischen Salafisten, als auch säkulare Figuren wie den Dissidenten Michel Kilo (Eigentlich waren wir an der Reihe). Dessen Präsidentschaftskandidat für die Nationale Koalition war der bis dato relativ unbekannte Ahmed Jarba, der schliesslich auch gewählt wurde.

Spielt es überhaupt noch eine Rolle, wer gewinnt? Als Außenstehender hat man fast den Eindruck, diese Veranstaltungen seien nurmehr Beschäftigungstherapie für eine Opposition, die heillos zerstritten und politisch unfähig ist.

Amr al-Azm: Es ist tatsächlich ein großer Zirkus. Aber durch seine Drahtzieher erhält das Ganze Gewicht. Das wurde im Frühjahr ersichtlich. Damals setzte Qatar den Muslimbruder Ghassan Hitto als syrischen Interimspremier durch, woraufhin Saudi-Arabien seine Waffenlieferungen an die Rebellen wutentbrannt zurückfuhr.

Viele militärischen Beobachter sagen, dies habe dazu beigetragen, dass das Regime im Juni die strategisch wichtige Stadt Kusair zurückerobern konnte. Nach seiner Wahl erklärte Ahmed Jarba denn auch prompt, dass man nun wieder mit - obendrein schweren - Waffenlieferungen aus Saudi-Arabien rechne.

John Kerry: Erst Militärhilfe, dann Friedensverhandlungen

Hat nicht vor allem der Einsatz der Hizbollah zur Einnahme Kusairs verholfen?

Amr al-Azm: Natürlich. Aber weshalb kam die Hizbollah denn zu Hilfe? Bislang hatte sie das Regime nur beraten, aber nicht selbst mitgekämpft, und ohne grünes Licht aus Teheran hätte sie dies auch nicht getan. Doch mit dem Amtsantritt von John Kerry als US-Außenminister im Februar 2013 begann sich einiges zu ändern.

Dazu muss man noch weiter zurück gehen: Das gesamte Jahr 2012 über hatte eine Pattsituation zwischen dem Regime und den Rebellen geherrscht. Ersteres behielt die Oberhand über alle wichtigen Städte, musste sich aber aus den ländlichen Gegenden zurückziehen. Dort konnten sich die Rebellen ausbreiten - aber nicht weiter vorrücken.

Auf internationaler Ebene wurden unterdessen Verhandlungen angestrebt, auf die sich das Regime nie einließ. Kerry sah, dass sich dies erst ändern würde, wenn das Regime herbere militärische Verluste hinnehmen muss. Also stockten die USA ihre Hilfe für Syrien auf - zunächst in Form von humanitärer Hilfe und im Juni verkündete Obama, auch Waffen liefern zu wollen.

Auch die EU ließ ihr Waffenembargo gegen die Rebellen im Mai auslaufen. Parallel griff Israel die Region um Damaskus an (Spiel mit dem Feuer). Darüberhinaus intensivieren die USA seit Monaten ihre Zusammenarbeit mit dem Obersten Militärrat der Freien Syrischen Armee, den der moderate General Salim Idriss leitet.

Der Iran und Russland horchten angesichts all dieser Signale auf und griffen dem Regime noch stärker unter die Arme - unter anderem mithilfe der Hizbollah.

Nach der Einnahme von Kusair konzentriert sich das Regime nun auf Aleppo und Homs...

Amr al-Azm: Aleppo ist nur ein Nebenschauplatz. Das Regime greift dort an, um die Rebellen der Region beschäftigt zu halten. De facto kann es sehr gut ohne die Stadt leben - respektive ohne die Stadtteile, die die Rebellen erobert haben und die strategisch recht irrelevant sind. Homs hingegen ist eine andere Hausnummer. Es ist das Landeszentrum, liegt in der Nähe der Küstenregion und bildet eine Durchgangsroute zur libanesischen Grenze. Die Prioritäten des Regimes lauten daher: die Küste, Homs und natürlich die Hauptstadt und ihre Vororte.

Und worin bestehen die Pläne Kerrys und seiner Verbündeten?

Amr al-Azm: Bei ihrem Treffen in Irland forderten die Führer der G8-Staaten - und damit auch Russland - eine syrische Übergangsregierung, die wohlgemerkt voll und ganz handlungsfähig sein soll. Das bedeutet, dass Baschar al-Assad aus dem Spiel wäre...

...die Rolle von Präsident Assad blieb in der Erklärung aber doch unklar?

Amr al-Azm: Dass die Regierung handlungsfähig sein soll, ist im Prinzip selbsterklärend. Aber natürlich ist jedem klar, dass eine solche Situation in weiter Ferne liegt.

Die Erklärung schindet also mehr Zeit. Wofür? Für Großeinsätze von Waffen aus dem Westen und dem Golf?

Amr al-Azm: Das Ziel ist die Wiederherstellung der Pattsituation. Die Revolte soll nicht erlöschen - doch weder das Regime noch die Rebellen sollen gewinnen. Stattdessen wird hinter den Kulissen auf Verhandlungen hingearbeitet, die Mittelsmänner führen sollen. Schließlich weiß auch das Regime, dass es nicht in die Zeit vor 2011 zurückkehren kann.

Was macht Sie da so sicher? Immerhin begingen die politische wie die bewaffnete Opposition derart viele Fehler, dass beide mittlerweile vielen Syrern regelrecht verhasst sind.

Amr al-Azm: Man muss bedenken, was vor 2011 zur vollen Kontrolle des Regimes beitrug: Seine Allianzen mit den sunnitischen Stämmen in Daraa und Deir el-Zor. All dies ist nun weggebrochen. Mithilfe der Minoritäten und sunnitischen Kaufleuten allein, kann al-Assad nicht das Land regieren.

Zugleich darf man nicht außer Acht lassen, dass sich in den letzten zwei Jahren neue und für das Regime profitable Querverbindungen ergaben: Die kurdische PYD - die syrische Schwesterpartei der PKK (Weshalb beteiligen sich Syriens Kurden nicht an der Revolte?) - dient einzig den Interessen des Kurdenführers Abdullah Öcalan (Autonomie in der Warteschleife). Und da dieser Ankara unter Druck setzen will und ihm Damaskus dabei hilft, hat die PYD momentan jeden Grund, dem syrischen Regime den Rücken zu stärken.

Nach seinem Archäologiestudium an der Universität von London leitete Amr al-Azm unter anderem das Zentrum für archäologische Recherchen an der Universität Damaskus (2003-2006). Von 2006 bis 2009 lehrte er Politwissenschaften und Anthropologie an der Brigham Young University in Utah. Gegenwärtig ist er Assistenzprofessor für Anthropologie und die Geschichte des Mittleren Ostens an der Shawnee State Universität, Ohio. Als Gegner des Assad-Regimes war al-Azm maßgeblich an dem Projekt "The Day After" beteiligt.