Rom und die blutige Geschichte der Verfolgung von Schwulen und Lesben

Seite 3: Erpressung und Anpassung als System - Nährboden für mannigfache sexuelle Gewalt

Geflissentlich wurde die Homosexualität im klerikalen Männerbund stets übersehen, solange die betreffenden Personen die eigene Identität verbargen, angepasst blieben und enorme Arbeitsleistungen erbrachten. Bei ersten Abweichungen deutete man diskret an, dass man durchaus vom wunden Punkt in der Persönlichkeit des Gegenübers wusste.

Durch solche erpresserischen Methoden wurden Schwule im Raum der Kirche dahin getrieben, sich selbst zu verraten und im Zuge eines Kompensations-Konservatismus der herrschenden Linie besonders bereitwillig Folge zu leisten.

Der "Berufswahl Priester" von Homosexuellen lagen bis in die jüngste Vergangenheit hinein meist unbewusste Prozesse bzw. Verdrängungen zugrunde, also keine hellwachen und freien Lebensplanungen. Entsprechend liefen auch die Anpassungsmechanismen oft unbewusst ab. Theologiestudenten oder Priester ahnten, dass in ihnen eine Orientierung zum gleichgeschlechtlichen Eros schlummert. Solange dies unter dem Vorzeichen von Angst geschah, fühlten sie sich wertlos und sündig. Schon die bloße Neigung soll ja dem Katechismus zufolge ein objektiver Persönlichkeitsdefekt sein.

Und so kam es, dass Menschen, denen in der Kirche niemand Mut machte, den eigenen Lebensreichtum zu entdecken und als Geschenk anzunehmen, sich verkauften (bzw. ihre Annahme erkauften). Sie stützten dann ein Klerikalgebäude, in dem die Botschaft des Jesus von Nazareth de facto nicht mehr vorkam, und fühlten sich so erpressbar, dass sie z.B. auch ihre Kenntnisse von sexueller Gewalt im Raum der Kirche niemandem mitteilten. (Natürlich betrafen die Anpassungsmechanismen auch solche Amtsträger, die sich wie Kardinal Trujillo sehr berechnend in einem möglichst bequemen Doppelleben einrichteten.)

Bei einem nicht integrierten homosexuellen Mann, der sich selbst in einem zentralen Bereich seiner Persönlichkeit fremd bleibt, fehlt ein alles entscheidender Reifungsschritt. In einem solchen Stadium wäre ein homosexueller Kandidat zweifellos ungeeignet für die Seelsorge.

Während nun die vatikanischen Richtlinien Verdrängung und Heimlichkeit förderten, bleibt in der Priesterausbildung noch immer das genaue Gegenteil - die offene Selbstannahme - unabdingbar. Weniger depressive und sich ungeliebt fühlende Priester, das wäre ein gutes Ziel.

Nur angedeutet sei, dass der kirchliche Komplex "Homophobie, Homosexualität und Gewalt" viel mehr Bereiche umfasst. Dazu gehören selbstredend auch respektlose Grenzüberschreitungen gegenüber volljährigen Mitmenschen, Selbstmorde von Gläubigen, Theologiestudenten und Priestern bis in die jüngste Vergangenheit hinein, das unsäglich traurige Schicksal AIDS-kranker Priester noch im vorletzten Jahrzehnt oder die Zumutungen für männliche Partner von Klerikern, die ähnlich ausfallen wie bei "Priesterfrauen".

Mit seinem homophoben Feldzug hat speziell Joseph Ratzinger über einen sehr langen Zeitraum systematisch eine angstfreie Kultur der Offenheit, Wahrhaftigkeit, Reifung und Selbstfindung im Raum der Kirche unmöglich gemacht. Jegliches Fortschreiten nach dem Reformkonzil - in Moraltheologie, Pastoral, Priesterausbildung und Gemeindeleben - sollte spätestens ab Mitte der 1980er Jahre wieder abgewürgt werden. Zum Großteil war dies leider gelungen.

In den schwul-lesbischen Kirchengruppen der USA, so konnte ich 1987 in Baltimore miterleben, herrschte seit dem Ratzinger-Schreiben der Glaubenskongregation ständige Panik. Frauen und Männer aus Universitätstheologie und Seelsorge wurden gemaßregelt. Genau dieses Klima der Angst in der Kirche ist einer der Nährböden für Unwahrhaftigkeit und sexualisierte Gewalt!

In keiner Weise führte der ganze Komplex zu weniger homosexuell orientierten Kandidaten in bischöflichen Einrichtungen des 2. Bildungsweges, Konvikten, Klöstern etc. Gefördert wurden lediglich Denunziationen, Spitzeltum, Paranoia, Misstrauen und die Entwicklung raffinierter Überlebensstrategien.

Dergleichen gehört hierzulande gottlob fast überall der Vergangenheit an. Der Kölner Kardinal Rainer Woelki hat allerdings noch 2021 demonstrativ einen bereits 2019 umstrittenen homophoben Geistlichen mit der Leitung des Priesterseminars beauftragt - eine Entscheidung, die ganz gewiss mit überzeugenden Präventions-Konzepten gegen die sexuelle Klerikergewalt nicht vereinbar ist.

Das "göttliche Konzept der Liebe" zum Blühen bringen

Gibt es Aussicht auf eine Befreiung auch der römischen Kirchenzentrale von der Homophobie, da doch in vielen Ortskirchen die Angst längst geheilt ist und sich unwiderruflich eine andere Pastoral etabliert hat?

Im Weltkatechismus, der für das leibhaftige Leben weithin keine Bedeutung mehr hat, wird nach wie vor behauptet, gleichgeschlechtlichen Beziehungen würden nicht aus einer "wahren affektiven Ergänzungsbedürftigkeit" entspringen.

Im Gegensatz zu den Autoren solch gruseliger Texte hat ein Mann wie Kardinal Basil Hume dem leibhaftigen Leben in unserer Welt zugehört. Er forderte schon 1995, dass "unsere Kirche homosexuelle Frauen und Männer nicht nur als vollwertige Menschen anerkennen soll", sondern in ihren "Liebesbeziehungen auch eine Liebe zu akzeptieren bereit sein muss, die das göttliche Konzept zwischenmenschlichen Zusammenseins anreichert und zur höchsten Blüte führen kann."

Als Kronzeuge für eine andere Sichtweise könnte auch der heute für die Ökumene zuständige Kurienkardinal Kurt Koch genannt werden, der erst im Zuge einer langen vatikanischen Prägung auf Linie gebracht wurde. Über ihn teilt Hans Küng im Buch "Ist die Kirche noch zu retten?" (2011) auf Seite 175 mit:

Noch ein halbes Jahr vor seiner Priesterweihe (1982) veröffentlichte er [Kardinal Kurt Koch] die kleine Schrift "Lebensbeispiel der Freundschaft. Meditativer Brief an meinen Freund". Es handelt sich um eine Hymne auf die körperliche Zärtlichkeit zu seinem Freund, den er […] als "die zweite, die soziale Gebärmutter meines Lebens" bezeichnet. Auffallenderweise erscheint diese Schrift in der offiziellen Bibliographie Bischof Kochs nicht mehr.

Hans Küng

Im April 2010 plädierte sogar der Wiener Kardinal Christoph Schönborn für einen Wandel hin zu einer "Moral des Glücks" und konkretisierte dies so: "Beim Thema Homosexualität etwa sollten wir stärker die Qualität einer Beziehung sehen. Und über diese Qualität auch wertschätzend sprechen." Solche Differenzierungen aus dem Mund eines engen Ratzinger-Schülers waren wirklich etwas Neues.

In Eros und Sexualität werden vorzüglich unsere Schönheiten und gleichermaßen auch unsere Abgründe offenbar. Wie groß ist die Versuchung, vor solchem Zwiespalt in das Mönchsideal eines engelgleichen Lebens zu entfliehen. Wir können jedoch wissen, dass dort, wo man die Sexualität verteufelt, die "Dämonen" oft ein besonders leichtes Spiel haben. Auch hat sich schon so manche vermeintliche Einflüsterung des Widersachers im Laufe eines Lebensweges als Botschaft eines Engels erwiesen.

Der Frühling steht vor der Tür. Es werden sich in ungezählten römisch-katholischen Gemeinden auf dem ganzen Globus noch viele Blütenwunder ereignen. Die Eltern von zwei homosexuellen Kindern, von denen ich im 1. Teil dieses Beitrags berichte, wollen übrigens nach Lektüre meines Telepolis-Textes doch nicht austreten. Sie lassen mich wissen, man dürfe die Kirche nicht vatikanischen Eisheiligen überlassen.

Der Verfasser ist examinierter Krankenpfleger, Theologe und Publizist. Seine Bücher zum Thema: "Das Lied der Liebe kennt viele Melodien" (vier Auflagen 1997-2005); "Die Fromme Revolte - Katholiken brechen auf" (2009); "Wie die Menschheit eins ist. Die katholische Lehre "Humani generis unitas" für das dritte Jahrtausend" (2016); "Oscar Romero, die synodale Kirche und Abgründe des Klerikalismus" (2020). - Aktuelles Forschungsprojekt: "Kirche & Weltkrieg".

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