Rousseau geht ins Theater

Von hysterischen Philosophen und bescheidenen Frauen - Teil 2

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Im ersten Teil wurde berichtet, wie Rousseau und die Gräfin von Genlis sich kennen lernten. Sie bekam Besuch und dachte, einen von ihrem Mann beauftragten Schauspieler vor sich zu haben. Ihr wurde erst danach klar, dass der scheinbar als Rousseau verkleidetet Mann tatsächlich Rousseau gewesen war…

Jean-Jacques Rousseau. Gemälde von von Allan Ramsay (1713-1784). Bild: gemeinfrei im Rahmen des Yorck Project.

Natürlich genierte sich die Genlis ins Bodenlose. Rousseau hatte aber an der zwanglosen Natürlichkeit seiner Gesprächspartnerin Gefallen gefunden, so dass ihr, wie sie es nannte, "einfältiges Benehmen" seine Gunst gewann. Er wurde ein Freund der Familie und deklamierte dort regelmäßig mit großen Gestikulationen und energischem Feuer aus seinen Werken.

Er verteidigte vor der Genlis seine Werke, die sie nicht lesen hatte dürfen, weil sie zu wenig Religion enthielten, und er meinte, dass niemand über das Evangelium mit mehr Gefühl und Überzeugung geredet hätte als er, auch wenn er nicht katholisch sei. Er meinte, in ein paar Jahren sei sie alt genug dafür, seine Werke zu lesen. Sie war zu diesem Zeitpunkt noch keine 20 Jahre alt, aber zumindest alt genug, vorgeführt zu bekommen, wie seine Neue Heloise entstanden war, mit Juliens sämtlichen Briefen auf feinem Briefpapier und auf Zetteln, die er bei Spaziergängen mit so viel Herzenswonne las, als hätte er sie wirklich von einer angebeteten Geliebten erhalten.

Auch hielt er sie für reif genug, ihr eine ganze Hand voll Kompositionen zu schenken, aber in diesem Punkt lag er falsch, denn sie verlegte sie alle und fand sie nicht wieder. Das war umso bedauerlicher, als er damals allein von dem Gewinn seiner Geschicklichkeit im Notenabschreiben lebte.

Aber zumindest bekam er bei Genlis' alle Tage zu essen. Man bemerkte dergestalt fünf Monate lang keine Empfindlichkeit und keinen Eigensinn an ihm, und weil er eine bestimmte Sorte Sallerier-Wein besonders gerne trank, fragte ihn der Herr von Genlis eines Tages, ob er ihm solchen Wein schicken dürfe, da er selbst viel davon geschenkt bekommen hatte. Rousseau antwortete, dass er den Wein mit Vergnügen annehmen würde.

Als der Herr von Genlis ihm aber einen Korb mit 25 Flaschen gesandt hatte, kam der volle Korb zurück, mit einem sonderbaren Zettel und drei Zeilen voll Zorn und Unwillen. Es hieß, dass Rousseau wirklich wütend sei und die Eheleute Genlis nie wiedersehen wolle. Herr von Genlis war sehr betroffen, und empfahl seiner Frau, da sie am unschuldigsten an allem war, einen langen Brief schreiben. Rousseau kam zurück, war aber fortan nur freundlich gegenüber der Frau Genlis und kalt gegenüber ihrem Mann.

Das Gitter der Loge klemmt …

Zwei Monate später gibt es ein Theaterstück. Obwohl Rousseau prinzipiell nicht gerne das Theater besuchte und sorgfältig vermied, sich öffentlich zu zeigen, ging er in diesem Fall doch mit, nachdem man ihm eine vergitterte Loge zugesagt hatte, durch eine eigene Treppe und einen separaten Eingang vom übrigen Publikum getrennt. Die Stimmung war gut. Rousseau lobte lächelnd den Haarputz der Genlis: Der sei zu schön, um in einer Gitterloge versteckt zu bleiben. Dabei bestand dieser Putz nur aus ein paar Blumen. Sie entgegnete zuvorkommend, dass sie sich sowieso nur für ihn geputzt habe.

Dann kommt man an, geht in die Loge, aber das Gitter klemmt. Rousseau meint nun seinerseits höflich, dass ihr das Gitter doch sicher ohnehin unangenehm sei. Sie beteuert das Gegenteil. Aber er besteht auf der Alternative, sich einfach hinter ihr und ihrem Mann zu verstecken. Sie besteht auf dem Gitter. Aber er besteht nachhaltiger. Man fällt durch den Streit fast schon auf, die Loge ist dicht am Orchester, nahe am Parterre - also gibt sie nach.

Man setzt sich. Rousseau lugt zwischen der Genlis und ihrem Mann hindurch und wird gesehen. Man hört: "Das ist Rousseau, das ist Rousseau". Aber niemand klatscht und die Musik setzt ein. Wieder schlägt sie vor, doch das Gitter zu benutzen, aber er antwortet in bitterstem Tone, dass es jetzt nicht mehr Zeit sei. "Das ist nicht meine Schuld", sagte sie, und "Nein, ohne Zweifel" sagt er, so spöttisch und mit gezwungenem Lächeln, dass sie beleidigt ist. Sie hofft, dass sich seine Anwandlung wieder legt. Aber das tut es nicht und als man nach der Vorstellung aus der Loge geht, ist Rousseaus Gesicht finster und Furcht erregender denn je. Er sagt kein Wort. Sie steigt in den Wagen, aber Rousseau lehnt es ab mitzukommen, verbeugt sich, kehrt sich ab und weg ist er.

Am nächsten Morgen versucht man herauszubekommen, was eigentlich los gewesen war - und Rousseau erklärte einem Mittler mit vor Zorn sprühenden Augen, dass er die Genlis nie wiederbesuchen werde, weil sie ihn nur ins Theater geführt hätte, um ihn zur Schau zu stellen und dem Publikum zu zeigen wie ein wildes Tier auf dem Jahrmarkt. Sie habe sich nicht umsonst so sehr herausgeputzt gehabt, von der Wahl der Loge nahe am Parterre ganz zu schweigen, auch wenn man sich die Lage gemieteter Logen eigentlich nicht hatte aussuchen können.

Alle Argumente und Vermittlungsversuche scheitern, und sie meint abschließend: Die Wahrheit darüber sei, dass er in der Hoffnung, Aufsehen zu erregen, sich zeigen wollte, und seine üble Laune nur davon herkam, dass er dabei so wenig Erfolg gehabt hatte. Man sieht sich nie wieder, auch nicht als er zwei oder drei Jahre später moniert, dass er sich für seine Spaziergänge im Tier- und Pflanzengarten, dem Jardin des Plantes, allen Ernstes immer eine Einlasskarte kaufen müsse, und sie ihm einen Schlüssel verschafft. Er lässt zwar danken.

Damit ist die Geschichte beendet, mit dem Bild des alleine zwischen Pflanzen wandelnden Rousseau. Denn beim Alleinsein war er am glücklichsten - während sich die Genlis bewährte als Ehrendame der Herzogin von Chartres, der Mutter des späteren Königs Louis-Philippe, und deren herzögliche Kinder erzog.

Warum ist Genlis hierzulande unbekannt geblieben?

Die Genlis sollte dann während der Revolution Frankreich eine Zeitlang verlassen, kehrte dann aber später wieder zurück, und schrieb auf Grundlage eines Gnadengehalts der Regierung historische und pädagogische Schriften, zum Beispiel über ihre Erneuerung des sog. tableux vivants, einer Art erzieherisch-unterhaltsamer Familienaufstellung mit antiken Figuren1, und sie fand Eingang als Charakter in den Werken von Honoré de Balzac (Illusions perdues), Leo Tolstoy (Krieg und Frieden), Victor Hugo (Les Misérables), Jane Austen (Emma), Mary Russell Mitford (Our Village) und Satre (Nausea). In Frankreich und England ist die Genlis so bekannt, dass ihr Konterfei sogar Mauspads und Smartphone-Schutzhüllen ziert.

Trotzdem kennt sie im Gegensatz zu Rousseau hierzulande keiner, und das wirft dann eine der abschließenden Fragen auf: Bedeutet all das, dass interdisziplinär arbeitende Frauen in Deutschland auf wissenschaftlicher Ebene keine Chance gegen den Verband sonderbarer Philosophen haben, wenn sie noch dazu Harfe spielen? Wäre es aus philosophischer und verlegerischer Sicht und der Gerechtigkeit halber nicht angebracht, man würde ihre Memoiren veröffentlichen, um nach noch mehr solchen Anekdoten über die von ihr verachteten Philosophen zu ahnden? (Wer das gerne tun würde, möge sich bitte an die Verfasserin dieser Zeilen wenden). Und vor allem stellt sich die Frage: War Rousseau ein schlechter Philosoph, weil er ein solcher Menschenfeind war oder bestätigt er damit perfektionistisch das eigene Menschenbild von Menschen als von Natur aus ungeselligem und von Eigenliebe getriebenem Wesen?

Vielleicht stellt er aber auch einfach nur unter Beweis, was wenig später Heinrich von Kleist in seinem Aufsatz über das Marionettentheater darlegte: Der Weg zurück zur Unschuld der Natur führt nicht am Denken vorbei, sondern durch gründliches Denken hindurch. Rousseau stürzte sich und damit auch die Menschen um ihn herum in einen Zwiespalt zwischen Geltungsbedürfnis und Zurücknahme der eigenen Person, - eben in einen typischen Double-bind, der umso perfider funktionierte, als eben die Annahme im Hintergrund stand, das Ganze sei so gut philosophisch durchdacht. Genlis behauptet dagegen vor ihren Notizen über Rousseau: "Ich schreibe meine Zeilen flüchtig, ohne Nachdenken, denn sie sind kein gelehrtes Werk." Vielleicht hat sie so gründlich gedacht, dass sie auch darauf kam, wann sie einmal damit Schluss machen sollte - und Rousseau gerade dadurch übertroffen?