Rückblicke auf die Welt vor dem Ukrainekrieg

Seite 3: … und Idealismus der Verständigung

Creuzbergers Blickwinkel ist dem Kronauers entgegengesetzt, für ihn trägt Putin eindeutig die Schuld an der Zuspitzung, die westliche Politik wird im Prinzip seit den Zeiten des Kalten Kriegs exkulpiert. Doch sein Buch setzt speziell die Hoffnung auf das deutsch-russische Sonderverhältnis, das eigentlich, seinem Potenzial nach – das sich erst wirklich in historischer Betrachtung zeige –, Entspannung und Kooperation ermöglichen müsste.

In diesem Sinne ist auch der Titel vom "deutsch-russischen Jahrhundert" zu verstehen. Darauf fokussiert die Studie. Es wird z.B. weder ein Zbigniew Brzeziński erwähnt – der bereits in den 1990er-Jahren die Ukraine zum Angriffspunkt für "Amerikas Strategie der Vorherrschaft" erklärte, die mit einem gezielten Vorstoß die Wiederauferstehung des russischen Imperiums verhindern müsste – noch eine Victoria ("Fuck the EU") Nuland oder andere US-amerikanische Initiativen, die darauf zielten, die Frontbildung gegenüber Russland zu verschärfen.

Creuzberger argumentiert im Prinzip idealistisch – wie sich von heute aus leicht feststellen lässt –, mit den alten Idealen der "Friedensmacht" Deutschland, die jetzt mit der von Kanzler Scholz angesagten Zeitenwende endgültig ad acta gelegt wurden.

Der sachkundige Historiker votiert für eine Verstärkung der europäischen Eigeninitiative bei gleichzeitiger Berücksichtigung der US-Linie. Es dürfte durch solche Initiativen nämlich nicht der "Eindruck deutsch-französischer Besserwisserei" entstehen; wenn das berücksichtigt sei, gebe es aber Spielraum für deutsche (und damit europäische) Eigenständigkeit: "Deutsche Russlandpolitik sollte einerseits bilateral im Hinblick auf direkte Gespräche zwischen Berlin und Moskau bleiben, andererseits aber eine koordinierende Rolle innerhalb des westlichen Bündnisses einnehmen, um eine einheitliche Linie gegenüber der russischen Staatsmacht zustande zu bringen und dem Kreml geschlossen entgegentreten zu können. Dies setzt voraus, eigene russlandpolitische Interessen und Ziele zu setzen."4

Tja, die eigenen deutschen Interessen! Creuzbergers Studie trägt das auch noch – heutzutage schon riskant – als "Beitrag zur Versachlichung" vor, der gegen den landläufigen Vorwurf vom "Putinverstehen" Stellung bezieht und stattdessen den Vorschlag macht, sich "auf die Frage des Verstehens einzulassen, ohne dies zwangsläufig mit Billigung gleichzusetzen".

Seit dem Putsch in der Ukraine 2014, der nachfolgenden Annexion der Krim durch Russland und dessen Unterstützung für den ostukrainischen Aufstand, den die Kiewer Führung acht Jahre lang rücksichtslos bekämpfte, war ja in der politischen wie fachlichen Debatte eine ungute Polarisierung aufgetreten. Dem Zustand, dass eine "überaus polarisierte Debatte" eingerissen ist, will Creuzberger entgegentreten; dabei hält er es für ein besonderes Manko, dass "in dieser Kontroverse die maßgeblichen historischen Bezugspunkte abhandengekommen sind".5

Für die Endphase des Ost-West-Gegensatzes führt er besonders Gorbatschows Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung an, also den Zeitraum, als der Westen noch Rücksicht auf "sowjetische Bedrohungsängste" nahm. Doch auch hier bemüht sich der Autor, das Vorrücken der Nato, d.h. deren geopolitischen Revisionismus, der sich sukzessive das komplette strategische Vorfeld Sowjetrusslands anzueignen versuchte, in ein idealeres Licht zu rücken.

Gegenüber den Klagen von Gorbatschow und anderen russischen Politikern, mit der Nato-Osterweiterung seien Wortbruch und Täuschung des Westens manifest geworden, stellt er fest, "dass es 1990 keine feste Zusage des Westens gab, die Nato nicht nach Osten auszuweiten".6

Eine interessante Klarstellung! Es gab die Zusage, das kann auch Creuzberger nicht bestreiten. Sie war aber eher locker, sie wurde nicht auf Drängen der russischen Seite, die sich auf den guten Willen des Westens verließ, kodifiziert und vertraglich festgemacht. Genau das begründet den Täuschungsvorwurf, der in Russland von Gorbatschow bis zu Putin erhoben wurde.

In seinem dritten Kapitel "Abgrenzung und Verständigung", das von den Rapallo-Verträgen der Weimarer Republik bis zur strategischen Partnerschaft reicht, wie sie etwa ein Kanzler Schröder ins Auge fasste, lotet Creuzberger speziell die Potenziale aus, mit denen Deutschland seine eigene "koordinierende Rolle" unterlegen könnte.

Man fühlt sich hier an die unehrliche Phrase von Deutschland als "ehrlichem Makler" erinnert, mit der von Bismarck bis zu Klaus Kinkel u.a. die deutsche Intervention ins weltpolitische Geschehen beschönigt wird.

Aber Creuzbergers Skepsis gegenüber der Haltbarkeit einer solchen Verständigung wird im Ausblick des Buchs dann doch wieder deutlich. Insofern geht der Schlussteil konform mit der neueren Eskalation, die unter der Regie der USA stattgefunden hat. Wenn man so will, kann man das auch Realismus nennen.

Es passt nur nicht gut zum Grundanliegen des Buchs. Das tritt ja an mit einer Zurückweisung des Eindrucks, der sich angesichts der historischen Prozesse und der neueren globalen Lage aufdrängen könnte, dass nämlich das 20. "ein (US-)amerikanisch geprägtes Jahrhundert gewesen" sei. Dass dagegen im Verhältnis der beiden "zeitweilig direkten Nachbarstaaten Deutschland und Russland" die eigentliche politische "Wirkungskraft" nisten soll, leuchtet nicht ein.

Ob man nun den Kalten Krieg nimmt, der nur zeitweise durch "trilaterale" Momente aufgelockert wurde7, oder die jüngste Zuspitzung, als die Ukraine im Frühjahr 2021 gegen das deutsch-europäische Verhandlungswesen im Normandieformat auf US-Protektion zu setzen begann: Es zeigt sich deutlich die amerikanische Handschrift, wenn es um die politischen Weichenstellungen geht.