Rückblicke auf die Welt vor dem Ukrainekrieg
Seite 2: Realismus der Kriegsvorbereitung...
- Rückblicke auf die Welt vor dem Ukrainekrieg
- Realismus der Kriegsvorbereitung...
- … und Idealismus der Verständigung
- Unschlagbar: der realistische US-Sachverstand
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Demgegenüber ist Kronauer ein gnadenloser Realist. Er betont die führende Rolle der USA bei der Zuspitzung der weltpolitischen Konfliktlage. Die USA, die im Fall Ukraine schon öfter contra EU agierten, haben ja den deutschen Sonderweg einer strategischen Partnerschaft mit Russland – damit auch ähnlich gelagerte Konzepte aus Frankreich – 2021/22 endgültig liquidiert und damit der Ampel-Regierung einen Kurswechsel verordnet, den diese dann selbstbewusst als "Zeitenwende" vollzog.
Kronauer zeigt in den beiden Hauptkapiteln, wie die "einzig verbliebene Supermacht" ihren Machtkampf mit Russland und China, also mit den beiden großen Rivalen der Pax Americana, langfristig ins Werk gesetzt hat. Dabei geht es um politische Aggression, um Wirtschaftskrieg, Propaganda und die militärischen Aktivitäten. Das Fazit "Auf dem Weg in den Weltkrieg?" analysiert die Eskalationsdynamik, die in diesem Programm enthalten ist.
Kronauers Position ist eindeutig Nato-kritisch. Seine Analyse des westlichen Aufmarschs in Osteuropa und speziell in der Ukraine wird natürlich vom akademischen Betrieb weitgehend ignoriert, wie ja auch die Arbeit von German Foreign Policy im Mainstream-Journalismus als eine vernachlässigbare, "linkskritische" (Die Welt) Randerscheinung gilt.
Dabei wird ein entscheidender Gedanke der Analyse auch anderswo geteilt, etwa von Papst Franziskus, der davon sprach, dass das "Gebell" der Nato vor der Haustür Putins diesen zu seiner Gewalttat provoziert habe. Und Kronauer bietet für seine Position – im Fall Russland bzw. Ukraine wie beim US-Containment gegenüber dem "systemischen Rivalen" China – auch warnende westliche Stimmen von politischen und militärischen Experten auf, vom Politikwissenschaftler John Mearsheimer bis zum ehemaligen Nato-Oberbefehlshaber in Europa, Admiral James Stavridis, der 2021 die Polit-Fiction "2034" veröffentlichte.
Der Roman, der einiges Aufsehen bei Fachleuten erregte – im Jahr 2034 soll ihm zufolge der dritte Weltkrieg beginnen –, habe "ein möglichst breites Publikum auf die Gefahr eines drohenden Kriegs zwischen den USA und der Volksrepublik aufmerksam machen" wollen.
Kronauer bezieht sich mehrfach auf die militärische Expertise des Nato-Admirals und zitiert ihn auf den letzten Seiten seines Buchs nochmals ausführlich mit der Sorge, dass mittlerweile der Weg zum nuklearen Inferno beschritten werde. Stavridis‘ Buch sei eine "Warnung, den großen Krieg unbedingt zu verhindern"2.
Hier hat der Realist Kronauer allerdings Entscheidendes übersehen. Das Buch verherrlicht soldatisches Heldentum – gerade auch unter den Bedingungen eines Atomkriegs.
Der US-Pilot, der mit seiner Atombombe im Kamikaze-Flug auf Schanghai und damit zig Millionen Menschen in den Tod stürzt, wird als Held gezeichnet. Seine Wahnsinnstat wird ausdrücklich von den Selbstmordattentaten islamistischer Fanatiker, die der Roman sonst geißelt, unterschieden.
Seine Todesbereitschaft ist das pure nationale Hochgefühl. In seinem Griff nach dem roten Knopf materialisiert sich der Wille der amerikanischen Nation und kommt eine soldatische Haltung zu ihrer Vollendung: "Er hatte immer akzeptiert, dass es ein schmutziges Geschäft war ... Dies fühlte sich nicht wie ein Suizid an. Es fühlte sich notwendig an. Wie ein Akt der kreativen Zerstörung."3
Das passt auch zur US-Militärdoktrin, die ja den Ersteinsatz von Atomwaffen nicht ausschließt und die im modernen US-Unterhaltungsangebot richtiggehend als Nervenkitzel aufbereitet wird.
Wie Stavridis zudem in Interviews anlässlich des Ukraine-Kriegs (Der Spiegel, Nr. 11/22) klargestellt hat, gilt seine warnende Stimme einem angeblich nachlassenden Aufrüstungswillen im Westen.
Seine Position reiht sich ein in den Mainstream der heutigen Begutachtung der Friedensfrage: Nur noch Politik der Stärke zählt! "Unsere" Gewalt ist legitim und über jede Kritik erhaben, darf sich daher kein Zögern und Zaudern erlauben, um die unfriedliche Gewalt der Gegner zu beseitigen.
Stavridis strickt insofern an der Legende mit, der Westen habe seine Rüstungsanstrengungen sträflich vernachlässigt, man habe sich, wie es in der Bundesrepublik heißt, militärisch blank gemacht.
So wird auch bei Kronauer das, was sich als die beinharte Realität des imperialistischen Staatenverkehrs offenbart, wieder mit Idealen versehen, denen zufolge in der gegenwärtigen drohenden Weltkriegslage Kräfte der Entspannung, Deeskalation, Verständigung am Werk sind.
Wie sich die rücksichtslose Eskalationslogik am Fall Ukraine auf Initiative des Westens weltpolitisch aufgebaut und durchgesetzt hat – das macht Kronauers Buch aber an den letzten Etappen, vor allem ab dem Jahr 2021, überzeugend deutlich.
Üblicher Weise wird das, wenn es nicht ganz ignoriert wird, gleich mit dem Vorwurf gekontert, die Gegengewalt der anderen, der russischen Seite, sei hier in Rechnung zu stellen. Die Konzentration auf die US- und Nato-Linie ist jedoch kein Mangel des Buchs. Kronauer zeigt ja gerade, gegen welchen Widerstand und welche Macht, die in der Tat nicht ohne Gewaltmittel dasteht, mit welchen strategischen Konzepten aufmarschiert wird.
Wer an den russischen Kalkulationen im imperialistischen Staatenverkehr interessiert ist, findet die Einzelheiten übrigens in einem ausführlichen Artikel der Zeitschrift Gegenstandpunkt mit dem Titel: "Russland ringt um seine Behauptung als strategische Macht – Amerika um deren Erledigung", der auch bei Telepolis erschienen ist.