Russland: Der kleinzuhaltende, aber nützliche Feind
Seite 2: Russlands ursprünglicher Wunsch auf Nato-Beitritt
- Russland: Der kleinzuhaltende, aber nützliche Feind
- Russlands ursprünglicher Wunsch auf Nato-Beitritt
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Die Behauptung, die Nato sei das europäische Sicherheitssystem, das selbst im Fall einer Erweiterung um die Ukraine nur einen defensiven Charakter habe und daher keine Bedrohung für Russland darstelle, wie vom Westen stereotyp wiederholt, geht an der militärischen und machtpolitischen Sachlage vorbei.
Die Nato stellt faktisch eben gerade keine "gesamteuropäische" Sicherheitsarchitektur dar. Wäre sie das, hätte man in der Vergangenheit Russland als gleichberechtigten Partner in das Nato-Bündnis aufnehmen müssen. Das wurde aber trotz entsprechender Nachfrage Russlands letztendlich zielgerichtet vermieden.
In einem BBC-Interview vom 5. März 2000 sagte Putin auf die Nachfrage des Journalisten, wie er die Nato sehe – als potenziellen Partner, Rivalen oder Feind?:
Russland ist Teil der europäischen Kultur. Und ich kann mir mein eigenes Land nicht isoliert von Europa und dem, was wir oft die zivilisierte Welt nennen, vorstellen. Daher fällt es mir schwer, mir die Nato als Feind vorzustellen … Russland strebt nach gerechten und offenen Beziehungen zu seinen Partnern. Das Hauptproblem liegt hier in Versuchen, zuvor vereinbarte gemeinsame Instrumente zu verwerfen – hauptsächlich bei der Lösung von Fragen der internationalen Sicherheit.
Wir sind offen für gleichberechtigte Zusammenarbeit, für Partnerschaft. Wir glauben, dass wir über eine tiefere Integration mit der Nato sprechen können, aber nur, wenn Russland als gleichberechtigter Partner angesehen wird. Sie wissen, dass wir uns ständig gegen die Osterweiterung der Nato ausgesprochen haben.
Und auf die Frage, ob ein Beitritt Russlands zur Nato möglich sei, betonte Putin:
Ich sehe nicht, warum nicht. Ich würde eine solche Möglichkeit nicht ausschließen – aber ich wiederhole – falls und wenn die Ansichten Russlands als die eines gleichberechtigten Partners berücksichtigt werden. Das möchte ich immer wieder betonen.
Die Situation, die in den Gründungsprinzipien der Vereinten Nationen festgelegt wurde – das war die Situation, die am Ende des Zweiten Weltkriegs in der Welt herrschte. In Ordnung, die Situation kann sich geändert haben. Gehen wir davon aus, dass bei denjenigen, die den Wandel wahrnehmen, der Wunsch besteht, neue Mechanismen zur Gewährleistung der internationalen Sicherheit zu installieren.
Aber so zu tun – oder von der Annahme auszugehen –, dass Russland nichts damit zu tun hat, und zu versuchen, es von diesem Prozess auszuschließen, ist kaum machbar.
Und wenn wir über unseren Widerstand gegen die Nato-Erweiterung sprechen – wohlgemerkt, wir haben niemals eine Region der Welt zu einer Zone unserer besonderen Interessen gemacht – dann spreche ich lieber von strategischer Partnerschaft. Ihre Versuche, uns aus dem Prozess auszuschließen, sind das, was unsererseits Widerstand und Besorgnis hervorruft. Aber das bedeutet nicht, dass wir uns vom Rest der Welt abschotten. Isolationismus ist keine Option.
Die einen Beitritt ablehnende Position des Westens bringt George Robertson, ein ehemaliger britischer Verteidigungsminister, der von 1999 bis 2003 Nato-Generalsekretär war, gegenüber The Guardian zum Ausdruck. Nach seiner [Robertsons] Erinnerung habe Putin bei ihrem ersten Treffen deutlich gemacht, dass er Russland als Teil Westeuropas und gleichberechtigten Partner der Nato betrachtet und ihn, Robertson, gefragt, wann Russland eingeladen würde, der Nato beizutreten?
Robertson antwortete: "Nun, wir laden niemanden ein, der Nato beizutreten, sondern sie bewerben sich um die Mitgliedschaft." Darauf soll Putin entgegnet haben: "Nun, wir stehen nicht in einer Reihe mit vielen Ländern, die keine Rolle spielen."
Selbst auf entsprechende Nachfrage von Präsident Putin bei US-Präsident Clinton im Jahr 2000 kam nur eine ausweichende Antwort. In einem Gespräch mit dem Regisseur Oliver Stone erinnerte sich Putin an eines seiner letzten Treffen mit Clinton:
Während des Treffens sagte ich: "Wir würden eine Option in Betracht ziehen, dass Russland der NATO beitritt". Clinton antwortete: "Ich habe keine Einwände." Aber die gesamte US-Delegation wurde sehr nervös.
Putin, zitiert nach Oliver Stone, Tass, 3. Juni 2017
Im Februar 2022 ergänzte Putin in seiner Fernsehansprache laut der russischen Nachrichtenagentur Tass, dass die wirkliche Haltung der USA in den seinerzeit "folgenden Aktionen dieses Landes offensichtlich geworden" sei, darunter die "Unterstützung von Terroristen im Nordkaukasus, die abweisende Haltung gegenüber Russlands Sicherheitsbedenken und -forderungen, die Erweiterung der Nato sowie der Rückzug aus dem antiballistischen Raketenvertrag".
Keine Nato-Mitgliedschaft, aber auch kein Großmachtstatus
Dies ist nicht nur eine subjektive Wertung der Ereignisse durch Putin. Dass Russland niemals gleichwertiger Partner innerhalb der europäischen Sicherheitsarchitektur bzw. der Nato werden sollte, stand für die USA schon kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion regierungsamtlich fest.
Die Nato war für die USA vielmehr der alles entscheidende Anker auf dem mehr als 6.000 km vom eigenen Hoheitsgebiet entfernten eurasischen Kontinent (der sog. "Brückenkopf"), um das Aufkommen einer rivalisierenden Großmacht in Europa zu verhindern und damit seine eigene hegemoniale Stellung als alleinige Weltmacht aufrechtzuerhalten.
Diese machtpolitische Zielsetzung, die die USA mit der Nato in Europa verfolgte und verfolgt, ist in regierungsoffiziellen Strategien der USA dokumentiert, die 1994/96, also bereits fünf Jahre vor dem obigen BBC-Interview im Jahr 2000, beschlossen worden waren. Es handelt sich um die US-amerikanische National Security Strategy of Engagement and Enlargement aus dem Jahr 1994 und 1996, die hier jeweils auszugsweise in deutscher Übersetzung wiedergegeben werden sollen.
Zum Hintergrund: Alle ehemaligen sozialistischen Staaten sollten im Zuge der 1993/94 gestarteten Nato-Initiative "Partnerschaft für den Frieden (Partnership For Peace, PFP)" potenziell Nato-Mitglieder werden – ausgenommen Russland. Für Russland, obwohl Teilnehmer der PFP-Initiative, waren dagegen explizit nur "gesunde Beziehungen" zur und "regelmäßige Beratungen" mit der Nato vorgesehen.
Also definitiv keine Mitgliedschaft. Andererseits sollte aber auch erklärtermaßen das Wiedererstarken Russlands zu einer Großmacht verhindert werden, denn auf europäischem Boden sollte es, wie die Dokumente es ausdrücken, keinen "Großmachtwettbewerb" mehr geben (sondern nur eine Großmacht). Auszug aus dem Dokument National Security Strategy of Engagement and Enlargement, 1994:
Seite 2: "Ein Nato-Gipfel im Januar 1994 billigte die Partnerschaft für den Frieden und andere wichtige neue Initiativen, um sicherzustellen, dass die Nato bereit ist, die europäischen und transatlantischen Sicherheitsherausforderungen dieser Ära zu bewältigen, und um die Sicherheitsbeziehungen herzustellen, die ehemalige kommunistische Staaten an das restliche Europa binden werden. Seitdem sind 21 Länder, darunter auch Russland, der Partnerschaft für den Frieden beigetreten.
Seite 21: "Das erste und wichtigste Element unserer [der USA, Einf. d. Verf.] Strategie in Europa muss Sicherheit durch militärische Stärke und Zusammenarbeit sein. Der Kalte Krieg ist vorbei, aber der Krieg selbst ist noch nicht vorbei."
Seite 22: "Viele Institutionen werden eine Rolle spielen, darunter die Europäische Union, der Europarat, die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und die Vereinten Nationen. Aber die Nato, das größte politisch-militärische Bündnis der Geschichte, muss bei diesem Prozess im Mittelpunkt stehen.
Nur die Nato verfügt über die Streitkräfte, die integrierte Kommandostruktur, die breite Legitimität und die notwendigen Kooperationsgewohnheiten neue Teilnehmer anzuziehen und auf neue Herausforderungen zu reagieren. …. Die Nato spielt eine immer wichtigere Rolle in unserer Strategie der europäischen Integration, indem sie den Umfang unserer Sicherheitszusammenarbeit auf die neuen Demokratien Europas ausdehnt. 21 Nationen, darunter auch Russland, sind der Partnerschaft für den Frieden bereits beigetreten, die den Weg für ein wachsendes Programm militärischer Zusammenarbeit und politischer Konsultationen ebnen wird. …. Ziel der künftigen Nato-Erweiterung wird es jedoch nicht sein, eine neue Linie in Europa weiter nach Osten zu ziehen, sondern Stabilität, Demokratie, Wohlstand und Sicherheitskooperation auf ein immer breiteres Europa auszudehnen."
Auszug aus dem Dokument National Security Strategy of Engagement and Enlargement, 1996 (Auszug):
Seite 37: "Viele Institutionen werden eine Rolle spielen, ….[s.o.] Aber die Nato, das größte politisch-militärische Bündnis der Geschichte, muss bei diesem Prozess im Mittelpunkt stehen. Das Nato-Bündnis wird der Anker des amerikanischen [!] Engagements in Europa und der Dreh- und Angelpunkt der transatlantischen Sicherheit bleiben. Deshalb müssen wir es stark, vital und relevant halten.
Für die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten war die Nato immer weit mehr als eine vorübergehende Reaktion auf eine vorübergehende Bedrohung [durch die Sowjetunion, die ja nun untergegangen war]. Sie war ein Garant der europäischen Demokratie und eine Kraft für die europäische Stabilität. Deshalb besteht ihre Mission fort, auch wenn der Kalte Krieg in der Vergangenheit liegt."
Seite 38: "Der Nordatlantikvertrag war immer offen für die Aufnahme von Mitgliedern, die die Ziele des Bündnisses teilten und seine Werte, seine Verpflichtung, Grenzen und internationales Recht zu respektieren, und wer zu seiner Stärke beitragen könnte. In der Tat: Die Nato hat sich seit ihrer Gründung dreimal erweitert. Im Januar 1994 machte Präsident Clinton deutlich, dass "Die Frage ist nicht mehr, ob die Nato neue Mitglieder aufnehmen wird, sondern wann und wie wir dies tun werden."[Wer nicht aufgenommen werden soll, ergibt sich aus dem nächsten Absatz., Einf. d. Verf.]
"Die Teilnahme [am PFP, Einf. d. Verf.] garantiert nicht, dass ein Teilnehmer eingeladen wird, Beitrittsgespräche mit der Nato aufzunehmen. Jede derartige Entscheidung wird von der Nato zu einem Zeitpunkt ihrer Wahl auf der Grundlage einer Gesamtbewertung der Sicherheit und Interessen des Bündnisses getroffen. [Es gibt danach also keinen Anspruch auf Mitgliedschaft, auch nicht für die Ukraine!, [Einschub d. Verf.] ….
Die Erweiterung des Bündnisses wird unsere Interessen [die der USA, es ist die National Security Strategy der USA!, Einschub d. Verf.] fördern, indem das Risiko von Instabilität oder Konflikten in der östlichen Hälfte Europas verringert wird – der Region, in der zwei Weltkriege und der Kalte Krieg begannen. [Hier fragt sich, welchen Staat die USA in Osteuropa perspektivisch als Verursacher von Risiken im Visier haben?, Einschub d. Verf.]
Sie wird dazu beitragen sicherzustellen, dass kein Teil Europas in eine Zone des Großmachtwettbewerbs oder eine Einflusssphäre zurückfällt. [Damit ist die Rolle Russlands als durch die Nato zu verhindernde, künftig mögliche Großmacht angesprochen; das Entstehen einer anderen (neuen) Großmacht soll von vornherein ausgeschlossen werden, Einschub d. Verf..] Wie der Präsident deutlich gemacht hat, wird die Nato-Erweiterung nicht darauf abzielen, eine Teilung Europas durch eine neue zu ersetzen; vielmehr besteht sein Zweck darin, die Sicherheit aller europäischen Staaten, Mitglieder und Nichtmitglieder gleichermaßen, zu erhöhen. In dieser Hinsicht haben wir ein großes Interesse daran, sicherzustellen, dass Russland sich als wichtiger Akteur in Angelegenheiten der europäischen Sicherheit engagiert. Wir setzen uns für eine wachsende, gesunde Nato-Russland-Beziehung ein, einschließlich eines Mechanismus für regelmäßige Beratungen zu gemeinsamen Anliegen."
Damit ist seitens der USA bereits 1996 regierungsoffiziell klargestellt, dass Russland trotz seiner Teilnahme am Programm "Partnerschaft für den Frieden" von Anfang an nicht als Nato-Mitglied aufgenommen werden, sondern definitiv außen vor bleiben und den potenziellen Risikofaktor in Osteuropa abgeben sollte.
Denn wenn alle anderen osteuropäischen Staaten erklärtermaßen Mitglieder der Nato werden können und sollten, bleibt ja nur noch Russland, das dem Bündnis nicht angehören sollte, als potenzieller Konfliktverursacher in Osteuropa übrig. Zugestanden waren laut US-Strategie daher lediglich "gesunde Beziehungen" zur Nato und "regelmäßige Beratungen."
Die sicherheitspolitische Perspektive von Russland wollte die USA somit offenhalten und sollte Gegenstand von – je nach vollzogener russischer Entwicklung – Gegenstand von Fall zu Fall zu treffenden Interessenerwägungen bzw. Abmachungen sein. Heute sind selbst die sicherheitspolitischen Minimalinstrumente von "gesunden Beziehungen" und "regelmäßigen Beratungen" nicht mehr auf dem diplomatischen Tablett von USA und Nato, man befindet sich mittlerweile im Kampf der Demokratien gegen die Autokratien.