Russland: "Parteien sind nur vorgeblich unabhängig"

Julia Galjamina sieht es schon als Erfolg der Opposition, wenn die "Spezialoperation" in der Ukraine im Schulunterricht gar nicht mehr behandelt wird. Foto: Alexandr Sorokin / CC-BY-SA-4.0

Die russische Politik wird von Männern dominiert. Vor dem Ukraine-Krieg wurde versucht, das zu ändern. Nun trifft die Militärzensur oppositionelle Frauen hart. Ein Gespräch mit Julia Galjamina.

Die Moskauer Oppositionspolitikerin Julia Galjamina ist in Russland eine Ikone politisch aktiver, kritische Frauen. Die studierte Linguistin ist Mitglied der liberalen Partei Jabloko und wurde im März wegen des Versuchs, Antikriegsproteste zu organisieren, verhaftet. Telepolis sprach mit ihr über Frauen in der russischen Politik und Opposition, nachlassende Antikriegsproteste und die Stimmung in der russischen Bevölkerung.

Frau Galjamina, Sie haben im Februar in Russland zusammen mit anderen Politikern eine Bewegung gegründet, deren Ziel es ist, eine Alternative zu der von Ihnen oft als brutal empfundenen Haltung russischer Politiker zu erarbeiten. Ist die Bewegung noch aktiv und hat sie Probleme mit den Behörden?

Julia Galjamina: Ja, sie ist weiter aktiv. Wir arbeiten derzeit gegen Propaganda an den Schulen und konnten erst gestern erreichen, dass Hinweise auf den Sondereinsatz in der Ukraine aus dem Unterricht entfernt wurden. Das ist in der Tat ein großer Erfolg und wir werden weitermachen. Wir haben tatsächlich Probleme mit den Behörden, auch einige unserer Teilnehmerinnen.

Zwei unserer Frauen wurden zur Fahndung ausgeschrieben und mussten Russland verlassen, auch eine weitere Frau sah sich gezwungen zu emigrieren. Momentan stehen viele Leute unter Druck. Das liegt einfach an unserer allgemeinen politischen Tätigkeit.

"Die Repression gegen Aktive wurde verstärkt"

Der Druck wird also weniger auf die Bewegung ausgeübt, sondern gezielt auf Personen? Ist das allgemein eine Entwicklung?

Julia Galjamina: Prinzipiell ja, die Repression gegen Aktive wurde verstärkt. Etwa mit Durchsuchungen bei Journalisten.

In der russischen Politik sind Frauen mehr mit sozialen Bereichen befasst – oder etwa mit Umweltthemen. Warum machen russische Politikerinnen kaum Wirtschafts- oder Außenpolitik?

Julia Galjamina: Außenpolitik ist in Russland grob gesagt keine Politik mehr, eher ein Aktivismus. Es gibt noch viele Frauen in der Kommunalpolitik, aber auch für sie ist es schwierig, vor allem für Oppositionelle. Viele regierungsnahe Politiker sind allgemein ihrem Charakter nach eher Funktionäre, Beamte.

Bei den Parteien in der Staatsduma gibt es kaum Frauen in höheren Positionen, selbst nur wenige weibliche Abgeordnete. Ist das ein Problem?

Julia Galjamina: Ich finde dieses Thema nicht so interessant. Was "Einiges Russland" [Anmerkung: Putins Regierungspartei] und andere Fake-Parteien machen, ist keine echte Politik. Bei wirklicher Politik handeln Menschen eigenständig gemäß den eigenen Werten. Hier gibt es keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen.

Etwa die neue Duma-Partei "Nowy Ludi" (Neue Leute) hat ja mehr Frauen?

Julia Galjamina: Auch das sind für mich keine politischen Frauen. Es handelt sich hier um ein kommerzielles Projekt. Am Anfang hatte man an ihm Zweifel, nun steht zumindest das zweifelsfrei fest. Die Frauen dort sind Funktionärinnen, das hat nichts mit Politik zu tun.

Bedeutet das, dass sie sozusagen nur eine dekorative Rolle spielen? Also quasi zeigen sollen, dass Frauen ebenfalls einfach "da" sind?

Julia Galjamina: Sie spiegeln unser System. Diese Parteien sind nur vorgeblich unabhängig. Dabei ist es egal, wer für sie irgendwo sitzt, ein Mann, eine Frau oder ein Pferd.

Kann sich eine Frau in Russland noch wirklich politisch engagieren? Macht es einen Unterschied, ob ein Aktivist männlich oder weiblich ist?

"Ausgezeichnete Gleichberechtigung" in der Verfolgung

Julia Galjamina: Früher wurden Frauen weniger verfolgt. Frauen wurden tendenziell weniger restriktiv behandelt, etwas mehr geschont. Inzwischen ist das mehr oder weniger gleich. Auch Dutzende Politikerinnen sitzen jetzt in einem Untersuchungsgefängnis.

Gibt es jetzt quasi eine Gleichberechtigung in der Verfolgung?

Julia Galjamina: Ja, das kann man so sagen. Es gibt eine ausgezeichnete Gleichberechtigung in diesem Bereich.

Dennoch sind ja viele aktive Unterstützer der Regierung Frauen. Einige sind von der aktuellen Politik begeistert.

Julia Galjamina: Das liegt an der Struktur der Rentner, die oft das System unterstützen. Frauen werden in unserem Land im Schnitt zehn Jahre älter als Männer. Daher sind unter den älteren Wählern mehr Frauen und genau die stimmen für die Regierungspartei. Wobei ich wegen der Fälschungen allen Zahlen nicht traue. Aber es liegt an der Altersstruktur. Ältere unterstützen das System und unter ihnen sind Frauen in der Mehrheit.

Kann man dann in kommenden Jahrzehnten auf eine Veränderung hoffen?

Julia Galjamina: Wenn, dann in zwanzig Jahren und nicht in zwei. Irgendwann wird es vielleicht besser.

Aktiven Widerstand auf der Straße gegen die "Spezialoperation" gibt es, im Gegensatz zurzeit direkt nach dem Beginn, ja kaum noch. Warum?

Proteste auf Dauer "zu kostspielig für das Familienbudget"

Julia Galjamina: Weil jeder eingesperrt wird oder hohe Geldstrafen zahlen muss. Das hat nichts damit zu tun, dass die Leute aufgehört haben, so zu denken oder nicht mehr protestieren wollen. Sie können es sich einfach nicht mehr leisten. Es ist zu kostspielig für das Familienbudget.

In Europa gibt es Stimmen, die Russen tun selbst zu wenig, um ihre Situation zu ändern.

Julia Galjamina: Der Westen hat selbst lange gebraucht, um Putin zu verstehen. Dafür musste zuerst die Ukraine angegriffen werden. Vorher war er der Freund von vielen. Dass die Russen jetzt nicht zu Demonstrationen gehen, ist einfach eine Notwendigkeit. Sie sind Opfer, wenn auch nicht physisch, wie die Ukrainer. Wir leiden wohl weniger als diese, aber auch hier geht die Bevölkerung zurück.

In Moskau, Sankt Petersburg oder anderen Großstädten sind viele gegen die Regierung. Aber in der Provinz ist das ja anders.

Julia Galjamina: Nein, das glaube ich nicht. Die Intellektuellen sind überall gegen den Krieg. Viele andere Russen ebenfalls, aber sie reden nicht darüber. Nicht aus irgendwelchen humanitären Gründen – sie brauchen einfach diesen Krieg nicht. Es hat ja auch kaum jemand Lust, sich dort für das Militär zu melden. Deswegen rekrutiert Putin jetzt Kriminelle, Fanatiker oder Obdachlose. So ziehen nur Randgruppen der Gesellschaft wirklich in den Krieg – der Rest kämpft nicht.

Dennoch wären die meisten Russen für einen Friedensvertrag, für ein Ende der Kämpfe. Aber sie verstehen nicht, dass sie das Putin mitteilen sollten, der all das begonnen hat. Es ist auch schwer zu realisieren.

Gerade in der Provinz ist der Lebensstandard ja oft niedrig. Manchmal gibt es kein Gas, die Toilette ist draußen. Hier müsste doch die Kommunalpolitik tätig werden?

Julia Galjamina: Das von Putin geschaffene System ist eine vertikale Macht. Auch das Steuersystem ist so gestaltet, dass Städte oder Dörfer gar kein Geld haben, keine Ressourcen für die Entwicklung. Allgemein wird nicht schlecht verdient, aber viel Geld fließt nach Moskau. Die Kommunen müssen ihr Geld sparen. Das ist nicht nur ein kommunalpolitisches Problem. Sondern ein Problem des Systems Putin.