Russland-Politik der SPD: "Die Aufarbeitung ist noch nicht abgeschlossen"

Holger Mann (SPD) kann sich eine größere Veranstaltung zum Thema vorstellen. Foto: Martin Kraft / photo.martinkraft.com / CC BY-SA 3.0 / via Wikimedia Commons

SPD-Parteitag: Leipziger Sozialdemokraten fordern "blinde Flecken der SPD-Ostpolitik aufzuarbeiten". Gespräch mit einem der Antragsteller.

Holger Mann ist Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender der SPD Leipzig sowie Sprecher der Landesgruppe Sachsen in der SPD-Bundestagsfraktion.

Herr Mann, wann war Ihnen klar, dass die Russland-Politik der SPD gescheitert ist?

Den genauen Zeitpunkt kann ich Ihnen nicht sagen. Klar ist: Wir waren zu naiv und haben unterschätzt, welches Gewaltpotenzial Wladimir Putin entfesseln kann. Das sind Entwicklungen, die ich so nicht für möglich gehalten hätte. Putin ist ein brutaler Machthaber, dessen Ignoranz gegenüber dem Völkerrecht gerade in der Ukraine erschreckend ist.

Sie haben gemeinsam mit den Mitgliedern Ihres Leipziger SPD-Stadtverbandes einen Antrag gestellt, in dem Sie den Parteivorstand dazu auffordern, "die blinden Flecken der SPD-Ostpolitik aufzuarbeiten". Hierzu sei eine unabhängige Kommission nötig, heißt es darin. Was versprechen Sie sich davon?

Eins vorab: Der Antrag ist entstanden in unserem größten Ortsverein Leipzig Mitte, und zwar im Frühsommer 2022. Wie wir sehen, ist in der Zwischenzeit einiges passiert.

Was genau meinen Sie?

Zum Beispiel die Neuausrichtung sozialdemokratischer internationaler Politik, die unser Parteivorsitzender angeschoben hat. Hierzu wird es auf dem Parteitag einen Grundsatzantrag geben, den ich sehr begrüße. Überdies erleben wir einen klaren Kurswechsel in der Russland-Politik. Ich finde, Lars Klingbeil hat sich sehr verdient gemacht um die SPD.

Das klingt so, als sei Ihr Antrag nicht mehr aktuell.

Falsch. Wir sind weiter der Meinung, dass der Aufarbeitungsprozess noch nicht abgeschlossen ist. Deshalb wollen wir auf dem Parteitag auch ein paar klare Fragen stellen: Was wäre, wenn übermorgen Ähnliches geschähe? Wie wären wir aufgestellt? Es gilt genau hinzuschauen und das eigene Handeln zu hinterfragen, schließlich gibt es nicht nur in einem Teil der Welt Regime, die ihre Interessen mit brutaler Gewalt durchsetzen wollen. Kurz: Wir müssen vorbereitet sein. Und wir müssen Konsequenzen ziehen.

Wie würden Sie die von Ihnen genannten "blinden Flecken der SPD-Ostpolitik" beschreiben?

Wir haben zu lange gehofft, es werde schon gutgehen mit unserem Kurs der wirtschaftlichen Annäherung plus Diplomatie. Wir dachten auch, es sei möglich, Russland auf einen Weg nach Europa zu führen – oder zumindest auf westliche Standards zu bringen. Aber da haben wir uns geirrt. Ich möchte allerdings nicht unerwähnt lassen, dass es eine Zeitlang so aussah, als könnte all das gelingen.

"Schlechter bestellt ist als zu KPdSU-Zeiten"

Deutschlands Partner in Ostmitteleuropa warnten schon früh vor Russlands aggressivem Verhalten.

Es gibt beide Seiten. 2003 habe ich ein halbes Jahr in Russland verbracht, und ich erinnere mich gut, wie Putin damals von der westlichen Welt gefeiert wurde als jener Mann, der Russland in die Demokratie führt. Inzwischen sagen mir Leute, dass es dort um Checks and Balances schlechter bestellt ist als zu KPdSU-Zeiten. Damals wurde ein Staatsratsvorsitzender wenigstens noch abgesetzt, heute weiß niemand, wer Wladimir Putin überhaupt noch Einhalt gebieten kann.

Sie sagten eben, der Aufarbeitungsprozess der SPD sei noch nicht abgeschlossen. Was genau vermissen Sie?

Es geht mir nicht darum zu sagen: Wir wussten und wissen alles besser, nein. Wir wollen dazu beitragen, dass wir derlei Fehler nicht wiederholen. Und hierfür ist es nötig, über ebenjene Fehler zu diskutieren. Dafür eignet sich ein Parteitag besonders gut.

Können Sie da konkreter werden?

Wir sehen, Demokratien sind weltweit nicht auf dem Vormarsch. In den kommenden Jahren wird es daher immer wieder Entscheidungsfragen geben. Je stärker wir wirtschaftlich mit Riesen wie China konkurrieren und kooperieren, desto dringender werden wir uns die Frage nach unserem Wertefundament stellen müssen. Bis wohin wollen wir gehen und wann wird es gefährlich? Wir müssen lernen, wie wir mit solchen Interessenkonflikten umgehen.

Die Antragskommission empfiehlt, Ihren Antrag abzulehnen.

Die Debatte auf dem Parteitag wird zeigen, wie ernstzunehmend der Prozess tatsächlich ist. Ich bin schon ein paar Tage politisch aktiv und weiß eines ganz genau: In jeder Debatte muss man begründen können, warum man der Meinung ist, ein Antrag solle abgelehnt werden. Wenn ich mir anschaue, wie hart die SPD in den letzten Monaten mit manch eigener Position ins Gericht gegangen ist, freue ich mich auf einen kritischen Austausch. Dieser dient schließlich dem Erkenntnisgewinn.

In dem Antrag aus Leipzig heißt es: "Die Kommission sollte nicht nur aus internen, sondern auch unabhängigen externen Osteuropa-Expert:innen bestehen, deren Aufgabe es ist, einen umfassenden Aufarbeitungsprozess einzuleiten, kritisch zu begleiten und die Ergebnisse in einem abschließenden Bericht zu veröffentlichen." Herr Mann, wie erklären Sie sich, dass der Widerstand gegen diese Pläne in der Parteiführung besonders groß ist?

Lars Klingbeil hat sich nicht nur mehrfach sehr deutlich geäußert, sondern er hat auch die außenpolitischen Positionen revidiert. Und zwar in einem Tempo, das so manchen Kolleginnen und Kollegen in Ostdeutschland schon wieder zu hoch war.

"Wir haben es mit verschiedenen Biografien zu tun"

Wie erklären Sie sich diese Ablehnung?

Wir haben es mit verschiedenen Biografien zu tun. Welche Menschen ändern mal eben so ihre in vielen Jahrzehnten erworbene Position, nur weil jemand im Parteivorstand sagt: "Leute, wir haben da einiges zu überdenken und müssen vieles anders ausrichten"? Nein, derer muss man sich persönlich annehmen.

Und wie könnte das aussehen?

Da gibt es aus meiner Sicht noch Klärungsbedarf. Und genau dafür ist ein Parteitag ja da. Es geht darum, Prozesse transparenter zu machen und ebenjene auch stärker an die Basis heranzutragen. Und auch das verfolgen wir mit unserem Antrag, nach dem Motto: Leute, lasst uns darüber reden, damit wir wissen, was wir warum und wie anders machen können.

Wenn als Ergebnis der Diskussion steht, dass wir zur Russland-Politik noch mal eine größere Veranstaltung machen werden, sei es in Berlin oder Leipzig, könnte ich gut damit leben. Mir geht es ja um eine inhaltliche Auseinandersetzung, nicht um Schuldzuweisungen.

Was antworten Sie denen, die sagen, alle Fakten zur SPD-Russland-Politik liegen bereits auf dem Tisch?

Wir werden nie alle Fakten kennen. Allerdings können wir bessere Schlüsse ziehen, wenn wir mehr wissen.

Denken Sie dabei auch an die vielen offenen Fragen zur Klimastiftung, die 2021 von der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns gegründet wurde?

Ich bin kein Experte für Mecklenburg-Vorpommern. Was ich weiß, ist, dass sich viele an Manuela Schwesig abgearbeitet haben.

Ging Ihnen das etwa zu weit?

Nein, für eigene Entscheidungen muss man einstehen. Und das hat sie auch getan. Sie hat Position bezogen und vieles erklärt.

Ist das aus Ihrer Sicht ausreichend?

Ich sage nur, dass es sich viele sehr leicht machen, wenn sie ihre Kritik immer nur auf die eine Person beziehen. Haben denn alle vergessen, wer alles zum Beispiel aus der CDU zur Eröffnung der Pipelines Bändchen durchgeschnitten hat? Die größte Oppositionspartei ist offensichtlich sehr zufrieden damit, dass bei dem Thema alle auf die SPD starren.

Bleiben wir bei Ihrer Partei. Wie sehr schadet es der SPD, wenn sie über Fehler und Aufarbeitung spricht, zugleich aber Fragen zur Klimastiftung nicht beantwortet und personelle Konsequenzen ausbleiben?

Das Konstrukt, das man da mit der Stiftung gefunden hatte, ist inzwischen abgewickelt worden. Aus guten Gründen. Ich komme bekanntlich aus Sachsen, und da gibt es so einige CDU-Landtagsabgeordnete, die noch vor Kurzem in Teilen Russlands und Osteuropas gefahren sind - und dort einen engen Austausch mit äußerst brisanten Gesprächspartnern pflegten. Auch ein Ex-Ministerpräsident hat da noch eine interessante Funktion.

Worauf wollen Sie hinaus?

Nicht allein die SPD hat Fehler gemacht in der Russland-Politik. Da wir allerdings eine Programmpartei sind und die Menschenrechte verteidigen, schadet es nicht, überall nochmals genauer hinzuschauen. Das kann man wahrlich nicht von allen Parteien behaupten.

Herr Mann, in aktuellen Umfragen liegt die SPD bei 14 Prozent, die AfD bei über zwanzig – welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Die SPD tut gut daran, bei den Reformprojekten, die sie vorantreibt, handwerklich sauber Lösungen aufzulegen. Daran arbeiten wir intensiv. Dass es die Opposition bei multiplen, weltweiten Krisen gerade einfach hat, ist klar. Schließlich müssen die keine Lösungen finden, sondern Unmut erzeugen reicht denen als Geschäftsmodell.

An welche Lösungen denken Sie?

Ganz konkret: Wir machen Gesetze und Reformvorschläge, die in Zeiten der Transformation ein sicheres Netz bieten, das gilt sowohl für Bildung, Stichworte BAföG und Ausbildungsgarantie, als auch für die Bürgergeldreform, bei der leider häufig nur über die Regelsätze geredet wird, aber nicht darüber, dass deutliche Verbesserungen auch in der Arbeitsvermittlung und Qualifikation hinzukommen.

Der Koalition fehlen Milliarden im Etat 2024, viele fürchten nun massive Kürzungen. Wie groß ist der Vertrauensverlust in der Haushaltskrise?

Ich habe die einfache Lösung, woher 60 Milliarden kommen sollen, noch nicht gehört. Steigende Kosten, stagnierende Einnahmen und juristisch zunehmend enge Spielräume legen die Latte noch höher.

"Es ist nicht die SPD, die für Unruhe sorgt"

Wie würden Sie das Erscheinungsbild der Koalition beschreiben?

Es ist eine Binsenweisheit, wenn ich sage, dass es in der Zusammenarbeit ruhiger zugehen müsste. Es ist aber nicht die SPD, die für Unruhe sorgt.

Halten Sie die Kommunikation des Kanzlers denn für angemessen?

Wir tun gut daran, an unseren Kernthemen zu arbeiten und nicht rechts und links irgendwelche Pseudodebatten zu führen. In diesen Zeiten sollten alle ein Interesse daran haben, dass wir als Team funktionieren. Und die Beteiligten wissen, dass wir da besser werden müssen.

Auch Olaf Scholz?

Das überlasse ich Ihrer Interpretation und Bewertung.

Schade.

Wie gesagt, es darf gern ruhiger werden in der Koalition. Alles andere können Sie und Ihre Kollegen doch selbst einordnen und kommentieren.

In den Umfragen in Sachsen steht die SPD noch schlechter da als im Bund, sie ist einstellig.

Wir haben in Sachsen mit Petra Köpping eine anerkannte Spitzenkandidatin und ein sehr gutes Programm. Im Bund wie im Land bleibt es dabei: Die SPD ist der Garant für Sicherheit und Zusammenhalt in der Gesellschaft. Davon bin ich überzeugt.