Von Hartz IV bis Putin: Warum der SPD die Ehrung von Gerhard Schröder schadet
Altkanzler hat Sozialstaat abgewickelt und Militäreinsätze enttabuisiert. Nun hat die SPD ihn geehrt. Einigen Genossen war das peinlich. Ein Kommentar.
Die Veranstaltung war nichtöffentlich, das Medieninteresse groß: Altkanzler Gerhard Schröder ist in der niedersächsischen SPD-Zentrale in Hannover für 60 Jahre Parteimitgliedschaft geehrt worden. Rund 40 Gäste waren nach SPD-Angaben erschienen, darunter auch Otto Schily, der unter Schröder Bundesinnenminister war. Schröder selbst soll das Gebäude mit seiner Frau So-yeon Schröder-Kim durch den Hintereingang betreten haben.
Im Anschluss präsentierte sich der 79-Jährige vor dem Haus mit einer entsprechenden Urkunde, welche die Parteichefs Saskia Esken und Lars Klingbeil unterzeichnet hatten – sie mussten.
Ginge es nach Esken, wäre Schröder nicht mehr SPD-Mitglied. Vor eineinhalb Jahren hatte sie ihn zum Parteiaustritt aufgefordert, weil er seine Posten bei russischen Energiekonzernen nicht aufgeben wollte, nachdem Kreml-Truppen in die Ukraine einmarschiert waren. Er agiere seit Jahren vor allem als Geschäftsmann und solle nicht als "Elder Statesman" wahrgenommen werden, erklärte Esken seinerzeit im Deutschlandfunk.
Er verdient sein Geld mit der Arbeit für russische Staatsunternehmen, und seine Verteidigung Wladimir Putins gegen den Vorwurf der Kriegsverbrechen ist regelrecht absurd.
Saskia Esken am 25. April 2022
Am Donnerstag begründete Esken in der Sendung Frühstart von RTL/ntv, warum Schröder nun trotzdem geehrt werden müsse.
Es ist uns nicht gelungen, Gerhard Schröder aus der Partei auszuschließen. Es ist uns auch nicht gelungen, ihn zu überzeugen, dass er austreten sollte. Das war mein Ansatz… Das ist nun so, dass er Mitglied der SPD ist und deswegen auch alle Rechte eines Mitglieds genießt – eben auch so eine Ehrung zu bekommen für seine langjährige Mitgliedschaft.
Saskia Esken am 26. Oktober 2023
So viel Schröder steckt in der Bundesrepublik
Davon abgesehen hat Schröder während seiner Kanzlerschaft die Republik nachhaltig geprägt – außenpolitisch mit der Enttabuisierung des Militärischen durch die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg 1999 und innenpolitisch auch mit den "Arbeitsmarkt- und Sozialreformen" der Agenda 2010.
Erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wurden unter Schröder deutsche Kampfeinsätze im Ausland vom Bundestag beschlossen. Im Zuge der Agenda-2010-Debatte wurde soziale Kälte in sozialdemokratischen Kreisen salonfähig. Mit den Sanktionsregeln der Hartz-IV-Gesetze wurde die faktische Abschaffung der Vertragsfreiheit für die Schwächeren auf dem Arbeitsmarkt vorbereitet.
Im Gespräch mit der Bild-Zeitung hatte Schröder bereits im Frühjahr 2001 betont, die Arbeitsämter sollten härter gegen Erwerbslose vorgehen, die einen angebotenen Job ablehnen. Letzteren unterstellte er schlicht Faulheit:
Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft. Das bedeutet konkret: Wer arbeitsfähig ist, aber einen zumutbaren Job ablehnt, dem kann die Unterstützung gekürzt werden. Das ist richtig so.
Gerhard Schröder im April 2001
Sowohl Schröders Außenpolitik als auch der Sozialabbau waren durchaus auch im Sinne der Unionsparteien – hätte aber ein CDU-Kanzler versucht, dies durchzusetzen, wäre wohl mehr Widerstand von Seiten der Gewerkschaften und der Basis von SPD und Grünen zu erwarten gewesen.
Die spätere Kanzlerin Angela Merkel (CDU) saß damals auf der Oppositionsbank und hätte gerne noch ein bisschen mehr Sozialabbau durchgesetzt – aber die Richtung stimmte für sie. Die Gewerkschaftsspitzen erkannten derweil nur langsam, wie erpressbar auch die arbeitende Bevölkerung durch die Hartz-IV-Gesetze und die Angst vor dem schnellen sozialen Abstieg im Fall eines Jobverlusts werden würde.
Das Framing der "faulen" Erwerbslosen durch Schröder und Co. lief schon seit rund drei Jahren, als es 2004 zum offenen Streit zwischen Schröder und den traditionell der SPD nahe stehenden Gewerkschaften kam: Die Verarmungspolitik für Arbeitslose sei nicht hinnehmbar, so der damalige ver.di-Chef Frank Bsirske.
Als der Basta-Kanzler die Vertrauensfrage stellte
Schröder jedoch setzte auf Basta-Politik – was er sich dank der Illegalisierung politischer Streiks in Deutschland auch leisten konnte. "Ich werde an der Agenda 2010 nicht mehr herumschnippeln", stellte er seinerzeit klar.
Es kam zu größeren Straßenprotesten – nicht nur, aber vor allem im Osten Deutschland, wo seit der Abwicklung von DDR-Betrieben besonders viele Menschen unfreiwillig langzeiterwerbslos waren. Anfang 2005 traten die Hartz-IV-Gesetze in Kraft. Schröder war merklich verstimmt, weil seine Politik nicht überall auf die erhoffte Gegenliebe stieß und es in auch in seiner "rot-grünen" Koalition zu brodeln begann.
Er stellte am 1. Juli 2005 bereits zum zweiten Mal die Vertrauensfrage im Parlament; und die Mehrheit der Abgeordneten sprach ihm dieses Mal ihr Misstrauen aus. Er hatte wohl nicht damit gerechnet, dass er auch die somit erzwungenen Neuwahlen verlieren würde.
Viele der "Denkzettel-Wähler" bewiesen allerdings auch keinen besonderen Weitblick. Mit Angela Merkel kam schließlich keine Gegnerin, sondern eine vehemente Befürworterin des Sozialabbaus ins Kanzleramt und blieb dort stolze 16 Jahre, allerdings überwiegend mit der SPD als Juniorpartner.
Die Nachfolgeregelung zum Arbeitslosengeld II – im Volksmund Hartz IV – heißt inzwischen Bürgergeld. Die Betroffenen leben nach wie vor auf Armutsniveau. Schröders Ruhestandsbezüge wurden in der breiten Öffentlichkeit erst nach dem russischen Angriff auf die Ukraine problematisiert, als er seine lukrativen Posten bei Rosneft und Gazprom nicht aufgeben wollte.
Anlässlich seiner Ehrung an diesem Freitag übte sich Schröder allerdings in Bescheidenheit:
Die bekommt jeder nach 25 Jahren, nach 50 Jahren und nach 60 Jahren. Da sind alle SPD-Mitglieder gleich. Ich bin also ein Gleicher unter Gleichen.
Gerhard Schröder
So sieht es auch Saskia Esken. Nur hätte sie bei anderen "Gleichen" wohl weniger Bauchschmerzen mit einer solchen Ehrung.
Dass Schröder zu Beginn des Ukraine-Krieges versucht hatte, den Gesprächskanal zu Putin offenzuhalten und Vermittlungsmöglichkeiten auszuloten, könnte durchaus mit dem Bundesnachrichtendienst abgestimmt gewesen sein und ist schwer zu kritisieren. Nach eigenen Angaben wurde er sogar von ukrainischer Seite darum gebeten, wie er inzwischen der Berliner Zeitung sagte.
Als Schröder dieses Jahr einen Empfang zum 9. Mai in der russischen Botschaft in Berlin besuchte, bei dem auch der AfD-Chef Tino Chrupalla zugegen war, dürfte aber kaum noch jemand geglaubt haben, dass dies zu einer Deeskalation des Krieges beitragen könnte.
Schröders Nähe zu Russland und seine zeitweise enge Männerfreundschaft mit Putin wiegen heute in den Augen der SPD-Granden schwerer als alles andere, was aus der Sicht klassischer Sozialdemokraten an Schröders Politik zu kritisieren wäre.
Die harte militärische Rhetorik, mit der sich Politiker der Ampel-Koalition heute äußern, wenn es um Russland und die Nato geht, wäre aber nicht denkbar ohne die Enttabuisierung des Militärischen während der Kanzlerschaft von Schröder.
Als dessen Parteifreund stand Bundeskanzler Olaf Scholz metaphorisch auf Schröders Schultern, als er im Februar 2022 die "Zeitenwende" verkündete und ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr in Aussicht stellte.