Russlands Krieg gegen die Ukraine und der Westen: Eskalationsspirale dreht auf Hochtouren

Seite 3: Russlands "Kosovo-Krieg", Putins "humanitäre Intervention"

Es gibt allerdings auch noch eine weitere Blaupause für das Szenario – und die ist für den Westen alles andere als angenehm.

Ende der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts kämpfte eine Volksgruppe in einem europäischen Land für die Abspaltung ihres Gebietes aus dem Staatsverband. Die Zentralmacht schickte Polizeikräfte und Militär, es kam zu jahrelangen offenen und verdeckten blutigen Kämpfen zwischen Separatisten und Staatsmacht.

Schließlich griff eine Atommacht zusammen mit ihrem Militärbündnis ohne völkerrechtliches Mandat – die juristische Legitimation, genannt "humanitäre Intervention", hatte sie sich auf die Schnelle selbst gestrickt – zugunsten der Separatisten ein und bombardierte dreieinhalb Monate lang mit höchst fragwürdigen Begründungen strategische Ziele, aber auch die Hauptstadt und weitere Städte des Staatsverbands, bis die Regierung schließlich kapitulierte.

Um die 3.000 Zivilisten der Zentralmacht starben. "Kollateralschaden" nannten das die bewaffneten humanitären Interventionisten. Neun Jahre später erklärte sich die "befreite" Region für unabhängig – und wurde postwendend von den selbstlosen Befreiern als Staat anerkannt.

Es handelte sich um den Kosovo, der sich unter tatkräftiger Hilfe durch USA und Nato von Jugoslawien abgespalten hatte.

Ist der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nun legitimiert, weil der Westen 23 Jahre zuvor mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien die Blaupause dafür geliefert hatte? – Nein. Ebenso wenig, wie ein Dienstagsmord durch einen Montagsmord gerechtfertigt wird!

Aber Putin hat gelernt. Und zwar vom Westen. Nicht zuletzt in Sachen "Regime Change", den er in der Ukraine unter dem Etikett "Entnazifizierung" offensichtlich anstrebt.

Verloren jedoch haben alle!

Nun zeigt die Geopolitik wieder ihre hässliche Fratze. Und Wladimir Putin hat sich de facto als George Friedmans Gehilfe bei der endgültigen Zementierung der neuen Teilung Europas erwiesen. Bei dem, privaten Nachrichtendienst Stratfor und anderen US-amerikanischen Thinktanks werden jetzt die Sektkorken knallen.

Es ist die Stunde der Eskalierer, der kalten und heißen Krieger auf allen Seiten. Und der Sieg der Rüstungsindustrie. 100 Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr schüttelte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Sonntag mal locker aus dem Ärmel. Der neue deutsche Schulterschluss kennt (fast) keine Parteien mehr, er kennt (fast) nur noch Deutsche.

Michail Gorbatschows abrüstungspolitisches Erbe dagegen, seine Politik des Neuen Denkens und seine Vision vom "Gemeinsamen Haus Europa" liegen in Trümmern.

Er wird am Mittwoch 91 Jahre alt und man wagt nicht, sich vorzustellen, wie es angesichts dieser Katastrophe in ihm aussehen mag.

Die Welt wird es bitter bereuen!

Denjenigen aber hüben und drüben, die sich jahre-, jahrzehntelang für ein gutes Verhältnis zwischen Russen und Deutschen einsetzten, die sich für Deeskalation engagierten und auch jetzt noch, scheinbar gegen alle Vernunft, eine neue Entspannungspolitik und Gorbatschows "Gemeinsames Europäisches Haus" anstreben, in dem Russen, Ukrainer, Deutsche etc. kurz: alle Europäer gleichberechtigt und nach dem Prinzip der "unteilbaren Sicherheit" (Charta von Paris) ihren Platz haben – all denjenigen, die nun ihren Mut zu verlieren drohen, bleibt es übrig, aus Liebe zu den Menschen unseres aufs Neue blutig zerrissenen Kontinents die zynische Maxime des Philosophen Günther Anders zu befolgen:

"Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an! Machen wir weiter, als wären wir es nicht!"

Wenn ich verzweifelt bin, was geht‘s mich an! Machen wir weiter, als wären wir es nicht!