SPD: Wir machen Politik für ein solidarisches Land

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Die SPD arbeitet ihre Fehler auf. So wird es jedenfalls vollmundig angekündigt. Doch die Ergebnisse dieses Aufarbeitens zeugen von Realitätsverlust.

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Die SPD hat seit Jahren mit sinkenden Mitgliederzahlen zu kämpfen. Im Jahr 1990 betrug die Anzahl der Parteimitglieder laut Statista noch 943.402. In den Jahren danach verringerte sich die Zahl (bis auf kurze Ausreißer) stetig. 2017 waren es nur noch 443.152. Es ist der SPD somit nicht gelungen, die Talfahrt dauerhaft aufzuhalten. Das letzte Wahlergebnis war desaströs. Grund genug für die Partei, sich mit den eigenen Fehlern auseinanderzusetzen und zu überlegen, was verbessert werden sollte.

Eine von Martin Schulz in Auftrag gegebene Studie einer Expertengruppe, die den Wahlkampf der SPD analysiert, soll Aufschluss darüber geben, welche Fehler die Partei gemacht hat und welche Reformen angestoßen werden müssen. Wer den Bericht liest, stößt jedoch größtenteils auf längst bekannte Tatsachen. Was die 101 Gesprächspartner, deren offener Umgang mit der Partei die Grundlage für die Studie bot, ansprechen, ist nichts, was die SPD jetzt mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen sollte, falls sie in den letzten 15 und mehr Jahren nicht völlig die Augen vor allen Problemen verschlossen hat. Was die Partei jedoch stattdessen als Reaktion auf die Studie anbietet, zeigt, dass sie nicht bereit ist, überhaupt zu verstehen, was bei ihr alles seit Jahren bereits schiefläuft.

Arbeitslosengeld II - das Vermächtnis Gerhard Schröders als Mühlstein

Wenn die neue Parteichefin Andrea Nahles im Interview mit dem Spiegel beim Thema Arbeitslosengeld II nur Worthülsen zu bieten hat und einen klaren Standpunkt vermeidet, dann wird klar, dass die SPD bis heute nicht verstanden hat, welche Auswirkungen die Agenda 2010 für die Partei hatte. Viele Wähler, die sich vom einst noch hemdsärmelig auftretenden Gerhard Schröder eine Regierung "für den kleinen Mann" versprachen, sahen sich stattdessen mit jemanden konfrontiert, der als "Genosse der Bosse" seine Macht in vollen Zügen genoss und mit der Agenda 2010 den Niedriglohnsektor in Deutschland hoffähig machte und die Grundmauern für einen bis heute andauernden Abbau des Sozialstaates legte.

Wenn Andrea Nahles, auf ALG II angesprochen, stattdessen auf die Rente schwenkt und davon spricht, dass die Antwort der SPD "größer ausfallen muss", dass "das Sozialsystem aufgeräumt werden muss", so dass es für "soziale Sicherheit sorgt", dann wirkt dies wie eine weitere leere Phrase, so wie es auch die Reden von "Erneuerung" sind oder vom "hart arbeitenden Mann", wie sie unter anderem Martin Schulz schwang.

2010 hat das Bundesverfassungsgericht die Methode der Bedarfsermittlung in Bezug auf Arbeitslosengeld II scharf kritisiert und insbesondere auch festgestellt, dass Kinder nicht wie kleine Erwachsene zu behandeln sind. Ihr Bedarf, so schrieb das Gericht eindeutig fest, müsse entsprechend klar bestimmt werden. Dies war eine klare Anweisung an die Regierung, den Regelbedarf für Kinder neu ermitteln zu lassen.

Doch weder die CDU/CSU noch die SPD mit ihrem sozialdemokratischen Anspruch an sich selbst haben seitdem in irgendeiner Form eine solche Neuberechnung angestoßen und damit dem, was das oberste Gericht verlangte, entsprochen. Ursula von der Leyen gelang es noch, erfolgreich durch das Teilhabepaket davon abzulenken, dass der Urteilsspruch einfach ignoriert wurde, die SPD jedoch schwieg schlichtweg.

Dieses Schweigen zum Thema ALG II, welches lediglich ab und an, wenn es gerade opportun erschien, unterbrochen wurde, spricht Bände hinsichtlich der Haltung der SPD. Und Andrea Nahles tritt in die Fußstapfen Ursula von der Leyens, wenn sie, statt auf die Frage selbst zu antworten, stattdessen auf die neuen guten Tagen der SPD in Bezug auf Familien abhebt. Unter anderem lobt sie das "Gute-Kita-Gesetz", mit dem Familien unterstützt werden sollen.

Gute-Kita und zu wenig Geld

Das "Gute-Kita-Gesetz" soll die Missstände in Kindertagesstätten beheben und den Eintritt in eine Beitragsfreiheit darstellen. Doch bereits jetzt ist klar, dass die dafür freigegebenen Mittel in Höhe von 3,5 Milliarden Euro lediglich einen Tropfen auf den heißen Stein bedeuten und die Kindertagesstätten mit Problemen zu kämpfen haben, die seit Jahren bekannt sind, aber nicht angegangen werden: zu viele Kinder, zu wenig Personal, Öffnungszeiten, die vielen, die pendeln oder flexibel arbeiten, nicht helfen… Das Gesetz mag als großer Wurf der SPD und der neuen Ministerin Franziska Giffey gefeiert werden, für diejenigen, die mit dem Thema zu tun haben, zeichnet sich bereits jetzt ab, dass es letztendlich scheitern muss da es zu wenig konkrete Lösungen bietet.

Die Große Koalition und andere Versprechen

Ausgespart bleibt im Interview die Frage, ob nicht die markige Ablehnung einer Großen Koalition, nur um ihr letztendlich dann doch beizutreten, bei vielen Wählern erneut den Slogan "wer hat uns verraten? Sozialdemokraten" ins Gedächtnis rief. Die SPD, u.a. auch Andrea Nahles, hat seit Jahren den Eindruck hinterlassen, das Eine zu sagen, das Andere jedoch zu tun. Bürgerrechtler und Datenschützer erinnern sich nur zu gut an die Bauchschmerzen, mit denen die SPD der Vorratsdatenspeicherung zustimmte und auf Nachfragen lediglich herumlavierte.

Bei der Großen Koalition erlebten die Wähler ähnliches - statt einer SPD in der Opposition erlebten sie die Große Koalition, was ihnen auch noch mit dem Wählerwillen verkauft wurde. Für den Wähler stellt sich zunehmend die Frage, was er der SPD überhaupt noch glauben soll.

Nicht zuletzt muss sich jeder auch fragen, wieso die SPD, wenn sie nunmehr in den nächsten zwei Jahren aufarbeiten will, welche Fehler sie gemacht hat, solch lange Zeit dafür benötigt. Thematisch bleibt die Partei, ähnlich wie auch die meisten anderen Parteien, beim Thema Flüchtlinge/Migranten/Asylbewerber stehen, der Rest fließt höchstens ab und an noch in die Innenpolitik ein.

Die wichtigen sozialen Fragen, die sich im Bereich Arbeit ergeben, werden von der SPD (und der CDU/CSU) meist auf die Digitalisierung und ggf. noch ein paar Brosamen für einen niedrigen Anteil der "Langzeitarbeitslosen" reduziert, die Frage, wie die Gesellschaft mit Arbeitssuchenden umgehen sollte, bleibt ebenso unbeantwortet wie die, wie der zunehmenden Kluft in der Gesellschaft begegnet werden soll. Es zeugt von starkem Realitätsverlust, wenn Andrea Nahles angesichts der Entwicklung in der Gesellschaft tatsächlich noch davon spricht, dass die SPD eine Politik für ein solidarisches Land macht und Deutschland eine stabile, sozialdemokratisch geprägte Regierung habe.

Andrea Nahles: "Wir müssen die Widersprüche auflösen. Daran arbeite ich systematisch: Wir finden jetzt eine klar formulierte Haltung in der Migrationspolitik. Im nächsten Schritt dann: Wie geht es mit Klimaschutz und Arbeitsplätzen weiter? Wir müssen uns mit den großen Zukunftsfragen beschäftigen." Wenn die SPD erst jetzt beginnt, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen, dann ist dies ein Armutszeugnis. Und es steht zu befürchten, dass diese Themen erst wieder zum nächsten Wahlkampf wirklich aufgegriffen werden - so wie es in den letzten Jahren auch war.

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