Sandinismus für Nicaragua?

16 Jahre der Anwendung von IWF Rezepten ließen Nicaragua weiter in die Armut abrutschen und machen die Rückkehr der Befreiungsfront FSLN wahrscheinlich

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Am 5. November wird in Nicaragua gewählt. Aller Vorrausicht nach kann die "Sandinistische Befreiungsfront" (FSLN) die Macht in dem kleinen mittelamerikanischen Land zurück erobern. Mit der FSLN, die 1979 den Diktator Somoza verscheuchte, hat sie so gut wie nichts mehr zu tun. Sie war einst ein Dorn im Auge der USA, die das Land mit dem Contrakrieg überzogen. 16 Jahre Anwendung neoliberaler Rezepte haben nach ihrer Abwahl 1990 die Armut noch verstärkt. Mit den Privatisierungen stieg die Arbeitslosigkeit, das Gesundheitssystem brach zusammen, Analphabetismus und der Hunger grassieren wieder. Den Wahlsieg würde die FSLN nicht wegen, sondern trotz des alten und neuen Kandidaten Daniel Ortega schaffen. Der hat die Partei in seinen Wahlverein verwandelt und sie ebenso von Kritikern als auch von sozialen Inhalten wegen der Bündnisse gesäubert.

Time-Cover vom März 1986 mit Daniel Ortega

Am 5. November stehen Wahlen in Nicaragua an und deshalb kommt erneut das Projekt auf den Tisch, alternativ zum Panamakanal einen Kanal durch das Land zu bauen. Das Projekt ist so alt wie die Kolonialgeschichte Mittelamerikas. Der Verlauf über die beiden großen Seen wurde früh geprüft, trotzdem fiel 1901 der Entschluss für Panama. Dabei hätten der Nicaragua-See, eines der größten Süßwasserreserven in Lateinamerika, und der Managua-See die zu bauende Kanalstrecke enorm verkürzt.

Zu den Wahlen werden die Baupläne nun wieder hervorgeholt. Der Kanal soll dem Land Wohlstand bringen. Das zieht in dem sehr armen Land, dem eine solche Investition viele Arbeitsplätze bringen würde. Panama, wo über den Ausbau des Kanals diskutiert wird, weist mit halb so vielen Einwohnern ein doppelt so hohes Bruttoinlandsprodukt wie Nicaragua aus. Über den Kanal allein nimmt es mehr Geld jährlich als Nicaragua durch seine Exporte ein.

So verkündete nun Präsident Enrique Bolaños Geyer den Bau, der etwa 14 Milliarden Euro kosten und in zwölf Jahren fertig gestellt sein soll. Durch ihn könnten auch Schiffe von bis zu 250.000 Tonnen fahren. Große Schiffe müssen derzeit den beschwerlichen Umweg über das Kap Horn an der Südspitze des Kontinents auf sich nehmen. Das Projekt ist das Ass im Ärmel von Bolaños beim Versuch der Rechten, die Wahlen am 5. November erneut zu gewinnen. Der unbeliebteste Präsident Lateinamerikas setzt auf den Bankier Eduardo Montealegre. Der ehemalige Außenminister war aus der Liberal-Konservativen Partei (PLC) geflogen, in der auch Bolaños einst Vizepräsident war. Er tritt nun für die Liberale Allianz (AL) an, hinter der auch die USA stehen. Die sähen es zwar lieber, wenn die Rechte geeint anträte, doch es gelang ihr zwei Jahre nicht, die PLC auf Kurs zu bringen. Die dient mehr ihrer Selbstbereicherung als den Interessen der USA. Für die PLC tritt José Rizo an. Das ist ein Vertrauter des Ex-Präsidenten Arnoldo Alemán Lacayo, der wegen Veruntreuung von Staatsgeldern 2003 zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde. Die Spaltung der Rechten ist ein Grund dafür, dass die FSLN nach 16 Jahren erneut an die Macht kommen könnte. Meinungsumfragen bescheinigen dem Ex-Regierungschef Daniel Ortega einen Sieg im vierten Anlauf. Nach der jüngsten Gallup-Umfrage würde Ortega die nötigen 35 %, erreichen, mit denen er sich, läge er 5 % vor seinem Verfolger, eine Mehrheit suchen könnte.

Dem Ex-Guerillaführer hilft auch, dessen FSLN 1979 die von den USA gestützte blutige Somoza-Diktatur stürzte, dass dessen Nebenbuhler Herty Lewites kürzlich verstorben ist. Damit wurde der Sandinistischen Erneuerungsbewegung (MRS) ihr populärer Kandidat geraubt.

Lewites, Ex-Bürgermeister der Hauptstadt Managua, war aus der FSLN geflogen, weil er als Gegenkandidat zu Ortega auftrat. Er wurde deshalb Kandidat des MRS, in der sich bekannte und beliebte Sandinisten gesammelt haben. Darunter sind der Priester, Poet und Ex-Kultusminister Ernesto Cardenal, die Schriftstellerin Giacondo Belli, der Sänger Carlos Mejía Godoy, Ex-Vizepräsident und Schriftsteller Sergio Ramírez oder der FSLN-Gründer Victor Tirado.

Sie alle hatten die FSLN verlassen – oder flogen raus -, weil sie die Politik der Partei kritisierten. So wirft die Ex-Guerillakommandeurin Mónica Baltodano der FSLN-Führung Bereicherung vor. Nachdem die FSLN 1990 von dem Rechtsbündnis UNO überraschend abgelöst wurde, hatten sich etliche Kader Staatsfirmen als Eigentum übertragen. Das ganze wird in Nicaragua die "Pinata" genannt.

Anhänger Ortegas im Jahr 1996. Foto: Ralf Streck

Ortega wird überdies von internen Kritikern vorgeworfen, dass durch ihn die kollektive Führung und die parteiinternen Vorwahlen zur Kandidatenwahl abgeschafft wurden. Er habe die Partei des progressiven Inhalts beraubt und mit dem ehemaligen Somoza-Anhänger Alemán sogar dann noch Bündnisse geschlossen, als der schon wegen Korruption verurteilt worden war. Frühere Bündnisse hätten dazu gedient, um das Eigentum aus der Pinata legal abzusichern. FSLN und PLC hätten sich praktisch das Land untereinander aufgeteilt, ein "antidemokratisches Wahlgesetz" und sogar Reformen an der Verfassung verabschiedet. Dazu seien mit "Säuberungen" interne Kritiker beseitigt worden. "Das Schlimmste am Pakt zwischen FSLN und PLC war die Verpflichtung von Ortega, die sozialen Kräfte zu demobilisieren", schreibt die damalige FSLN-Abgeordnete Baltodano. "Mit dem Pakt wurde der Widerstand gegen die Privatisierungen, gegen die Politik des Internationalen Währungsfonds (IWF) und Weltbank und deren Strukturanpassungen beendet". Dem aufstrebenden Unternehmerflügel der Sandinisten sei so der Weg geebnet worden.

80 Prozent der Menschen sind arm

Baltodano macht die FSLN für die desaströse Lage im Land mitverantwortlich, für die sich die Ortega-Truppe nun als Retter bei den Wahlen präsentiert. Tatsächlich ist das Land nach 16 Jahren neoliberaler Politik noch ärmer geworden. Nach den sozialen Indikatoren der UN stürzte es weltweit vom 85. Platz in den 80er Jahren auf den 126. Platz ab. Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung treffen weit über 50 % der Bevölkerung. Nach internationalen Statistiken gelten 80 Prozent der Bevölkerung als arm, sie leben von weniger als zwei Dollar am Tag. Das Elend ist heute überall sichtbar – Kinder, die Klebstoff schnüffeln, das Gesundheits- und Bildungssystem liegen brach und die Zahl der Analphabeten steigt und steigt wieder.

Das Erziehungsministerium hat nun die Ausgaben bis 2008 eingefroren. Dabei haben schon jetzt 37 % der Menschen nicht einmal einen Abschluss der Primarschule. Die Einschulungsquote ist von 85 % auf 80 % gesunken. Die Bildungsausgaben am Gesamthaushalt sind von 16,9 Prozent in 1999 auf 11,3 Prozent in 2003 zurückgegangen, gemessen am Bruttoinlandsprodukt von 2,9 auf 2,5 Prozent. "Bei den Lehrergehältern ist Nicaragua in Zentralamerika mit Abstand Schlusslicht und immer mehr unausgebildete Lehrkräfte werden in die Schulen geschickt", kritisierte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) am Weltlehrertag.

Ähnlich sieht es im Gesundheitswesen aus. Krankenhäuser sind von Katzen, Hunden und Hühnern bevölkert, lebensnotwendige Medikamente müssen Angehörige in großer Eile schnell besorgen. Wer kein Geld zum Kauf hat, hat ebenso Pech, wie die, die eine lebensrettende Operation nicht bezahlen können. Die Regierung, wendet lediglich zwei US-Dollar pro Mensch und Jahr für wichtige Medikamente auf, während die Weltgesundheitsorganisation (WHO) dafür mindestens 30 US-Dollar veranschlagt.

Die Hilfsorganisation Oxfam schreibt das Elend der Politik der Weltbank und des IWF zu, die dem Land die Kehle abschnürten. Oxfam fordert in einem Brief an den IWF, zu Gunsten der UN-Millenniumsziele die restriktiven Auflagen zu lockern. "Es ist sehr überraschend zu hören, dass der IWF an der Begrenzung der Ausgaben für Bildung und Gesundheit auf dem Niveau von 2000 festhält, während der Erhöhung von Finanzreserven und der Rückzahlung der öffentlichen Schulden eine höhere Priorität eingeräumt wird.“

Die Errungenschaften der Revolution von 1979 sind geschliffen worden und heute verfügt die Bevölkerung Nicaraguas – als einziges Land Lateinamerikas – über ein Pro-Kopf Einkommen, das niedriger als vor 40 Jahren ist. Die versprochene wirtschaftliche Erholung blieb aus. Wie erwartet, haben die Privatisierungen, welche der IWF auch als Bedingung für die Kreditvergabe gestellt hat, die Lage nur verschlimmert und zum Teil skurrile Situationen geschaffen.

Die Folgen der IWF-Auflagen

Kredite brauchte das Land, nach dem Krieg, den die USA durch die Unterstützung der Contras dem Land aufgezwungen hatten und dem 60.000 Menschen zum Opfer fielen. Die zerstörte Infrastruktur musste aufgebaut, die Kämpfer ins zivile Leben integriert werden, etc. Die USA weigerten sich, die 2,4 Milliarden Dollar Strafe nach einem Urteil des Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu bezahlen. Nach dem Sieg des konservativen Parteienbündnisses "UNO" 1990, wurden die Vorgaben des IWF als wirtschafts- und sozialpolitischen Richtlinien übernommen und den USA wurden die Kriegsschulden spendabel erlassen. Nicaragua, so der IWF, sollte den Gläubigern gegenüber zahlungsfähig bleiben und es sollte Sicherheit für Investitionen geschaffen werden. Im Rahmen des "Stand-By Arrangements Program" wurde dem Land eine "drastische Umwandlung des aufgeblähten öffentlichen Sektors" auferlegt, um die Staatsausgaben einzudämmen. Dann folgte das "Enhanced Structral Ajustment Facilities“ (ESAF) mit einer Welle an Privatisierungen. Zwischen 1993 und 2000 wurden fast alle Staatsbetriebe veräußert, die zuvor rund 30 % des Bruttosozialprodukts schufen. Die Zahl der Beschäftigen wurde um 183.000 gesenkt, das waren etwa zwei Drittel. Auch die Banken wurden privatisiert, mit der Folge, dass es für Landwirtschaft keine oder nur noch unbezahlbare Kredite gab. Denn bei Krediten auf Dollarbasis, verzinst zu 18%, lohnt sich meist kein Anbau. Derweil führte die Privatisierung Energiesektors dazu, dass die Strompreise monatlich um 1,5 % angehoben wurden. Das Land mit der höchsten Abhängigkeit vom Erdöl in Zentralamerika bei der Stromerzeugung hat deshalb auch die höchsten Strompreise. Immer wieder kommt es zu Versorgungskrisen, wie im August, als die spanische Union Fenosa wieder einmal die Lieferungen nicht garantieren konnte. Etwa 30 % der Familien blieben ohne Strom. Betroffen war auch die Wasserversorgung, weil viele Pumpen nicht mehr betrieben werden konnten. Fenosa begründete die Abschaltungen mit einer Finanzkrise. Wegen hoher Energiepreise und der vorgeschriebenen niedrigen Strompreise für Kleinkunden könne das Unternehmen nicht genügend Mittel für notwendige Investitionen erwirtschaften. Allseits wurde aber vermutet, die Firma wolle erneut Subventionen erzwingen. Denn nach Abschaltungen im Vorjahr, wurde per Gesetz die Entnahme von 30 Millionen US-Dollar aus der betriebswirtschaftlich rentabel arbeitenden staatlichen Wasserkraftwerks-Gesellschaft (Hidrogesa) ermöglicht. Es muss als Treppenwitz angesehen werden, wenn die Staatsfirma, deren Privatisierung mit vielen Mobilisierungen verhindert wurde, nun der Privatfirma unter die Arme greift und dabei gleichzeitig dekapitalisiert wird. Das ist der Hintergrund, vor dem sich die Wahlen abspielen. Dazu kommt, dass Nicaragua auch noch der größte Schuldner der Hemisphäre wäre, wenn es nicht am Stärksten vom Schuldenerlass profitiert hätte, wie das Bundesministerium für Wirtschaft feststellte. 3,3 Milliarden US-Dollar, rund drei Viertel seiner bisherigen Gesamtschuldenlast, wurden ihm erlassen. Zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen hat das aber nicht geführt.

Wahlakten auf dem Müll, bzw. Wahlfälschung im großen Stil wie 1996 gegen Aleman braucht Ortega nicht zu befürchten. Im Bündnis mit der PLC hat die FSLN diesmal die Schaltstellen des Wahlrats besetzt. Foto: Ralf Streck

Ortega ist das größte Hindernis für einen Sieg der FSNL

Vor diesem Panorama stehen die Aussichten für die FSLN nicht schlecht, um erneut an die Macht zu kommen. Sie kann als Oppositionspartei so tun, als hätten die Misere 16 Jahre andere angerichtet. Für einige drängende Probleme hat sie auch partielle Antworten parat. Ähnlich dem Chavez-Plan für Bolivien hat die die FSLN mit Venezuela und Kuba Abkommen geschlossen. Nach dem Wahlsieg könnte das Land zu Vorzugspreisen mit Erdöl aus Venezuela beliefert werden. Im Gesundheits- und Bildungssektor kann Ortega, wie früher, auf Ärzte und Lehrer aus Kuba zurückgreifen. Bisher widersetzt sich die FSLN auch dem von der USA geführten Mittelamerikanischen Freihandelsabkommen (Cafta) und befürwortet stattdessen das Mittelamerikanische Integrationssystem SICA.

Ortega selbst ist vielleicht das größte Hindernis für den Wahlsieg. Nach seriösen Umfragen sagen mehr als fünfzig Prozent der Nicaraguaner, sie wollten Ortega auf keinen Fall wählen. Aber bei einer möglichen Stichwahl werden wohl auch viele Kritiker aus der Linken, aus Mangel an Alternativen, lieber Ortega als einem Rechten die Stimme geben. Ob deren Angstkampagnen verfangen, die vor einer neuen Konfrontation mit den USA warnen und an den Contrakrieg erinnern, ist zweifelhaft. Schließlich hat die FSLN ein Bündnis mit der Partei der Miskito-Indianer "Yatama" geschlossen und regiert nach den Wahlen zur Automomen Atlantikregion im März dort zum Teil mit den ehemaligen Gegnern. Der Ex-Contra Jaime Morales kandiert sogar für die Vizepräsidentschaft mit Ortega. "Das Vereinte Nicaragua wird siegen", heißt Ortegas Motto, unter dem er sogar ein Bündnis mit der Nationalliberalen Partei (PLN) geschlossen, der Partei der Sippe des Ex-Diktators Somoza.

Auch der Clinch mit der einflussreichen katholischen Kirche ist beigelegt. Ortega hat sich ihr systematisch genähert und sich erfolgreich mit Bischof Obando y Bravo versöhnt. Da wird die Rechte eher auf die Karte Kanalbau setzen, deren Investitionen bei einem Wahlsieg der FSLN in Gefahr stünden, auch wenn das Projekt bisher erneut nur auf dem Papier steht.